Gelobtes Land



Tino grinste. Er grinste die ganze Zeit. Mijo und der Verteidiger standen in der Ecke des Flurs und versuchten auf ihn einzureden.
Der Verteidiger schnaufte. „Das ist eine ernste Sache, Junge.“
„Weiß ich doch!“, rief Tino – und grinste wieder.
„Ein bisschen Ernsthaftigkeit würde bei der ganzen Sache sicher nicht schaden“, versuchte Mijo es.
„Ernsthaftigkeit? Wie soll ich ernst bleiben bei dem ganzen Scheiß?“, gab Tino empört zurück. „Ich hab nur ein paar Runden gedreht!“ Der Verteidiger schlug die Hände vor das Gesicht.
„Knast, Tino“, sagte Mijo. „Denk immer daran: In ein paar Minuten entscheidet sich, ob du in den Bau wanderst oder nicht. Denk einfach immer daran, dass du mit einem Bein im Knast stehst.“ Tino seufzte. Das Grinsen war endlich aus seinem Gesicht verschwunden. „Bin gleich wieder da“, sagte Mijo und verschwand auf die Herrentoilette.

Er wusch sich die Hände und blickte in den Spiegel. Das Veilchen an seinem linken Auge war noch deutlich zu sehen. Wie ein dunkelvioletter Schmetterling hatte es sich um seine Augenhöhle gelegt. An den Schmerz in seiner linken Körperhälfte hatte er sich schon gewöhnt. Als Micki Berger ihn bei seinem unangekündigten Besuch mit einem Faustschlag begrüßte, hätte er am liebsten zurückgeschlagen, aber jetzt erschien es ihm, als ob es so sein müsste. Er hatte viele blaue Flecken, dies war nur der erste, der sichtbar war.

„In der Strafsache Bauer alle Beteiligte bitte in Saal 233 eintreten“, tönte es aus der Lautsprecheranlage als Mijo zurückkehrte.
„Knast, Tino“, flüsterte Mijo ihm zu, als sie den Saal betraten.
Tino gab sich Mühe, nicht zu abgebrüht zu wirken. Er gab zu, mit einem geliehenen Sportwagen über den Zentral-Parkplatz gerast zu sein, obwohl er über keine gültige Fahrerlaubnis verfügte. Auch wenn Mijo Tino dafür am liebsten gegen die Wand geklatscht hätte, stellte er ihm ein positives Zeugnis aus. Schließlich kam er fast immer pünktlich zu ihren Treffen und es war ihm tatsächlich gelungen, einen Ausbildungsplatz zu finden. Mit den Drogen war, soweit Mijo es beurteilen konnte, auch Schluss. Der Richter hatte ein Einsehen und verurteilte Tino zu drei Monaten Haft auf Bewährung.

„Micki Berger hat Sie ja ordentlich zugerichtet“, meinte der Richter im Anschluss.
„Das macht ja wirklich schnell die Runde“, sagte Mijo, ohne dass der Richter darauf reagierte.
„Den kennste doch auch?“, fragte er stattdessen den Staatsanwalt.
„Micki Berger war das?“, gab dieser zurück.
Mijo nickte. „Ich konnte ihn nicht erreichen und er war nicht glücklich darüber, dass ich zu ihm nach Hause gekommen bin.“
Der Richter brach in Lachen aus. „Das glaube ich! Na ja, mit dem Zuhause hat es sich ja erst mal erledigt. Nächste Station JVA. Warum sie den schon rausgelassen haben ist mir sowieso ein Rätsel.“
„Der Mann sammelt Vorstrafen wie andere Briefmarken“, seufzte der Staatsanwalt.
„Sie haben‘s wirklich nicht leicht, Herr Schäfer. Ich möchte nicht mit Ihnen tauschen“, sagte der Richter. Mijo grinste.

„Siehste, ich hab doch noch Bewährung gekriegt. War ja auch klar mit meiner total positiven Sozialprognose“, sagte Tino strahlend als sie den Saal verließen.
„Diesmal hast du noch Glück gehabt, beim näch… sten Mm...“ Mijos Worte verloren sich, als er sie im Flur stehen sah. Er ließ Tinos Akte auf den Boden fallen, hob sie aber umgehend auf. Als er sich wieder aufrichtete, stand sie immer noch da. Seit 16 Jahren hatte er sie nicht mehr gesehen, aber er erkannte sie sofort wieder. Sie war größer und schlanker. Sie trug ein dunkelblaues Kostüm und eine hellblaue Bluse. Ihr langes, blonderes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
„Hallo, Mijo“, sagte sie. Er sagte nichts.
„Mijo?“, fragte Tino.
Mijo erinnerte sich daran, dass Tino immer noch neben ihm stand. „Wir sehen uns am Dienstag. Und nimm verdammt noch mal den Bus, das war das letzte Mal, dass ich deinen Arsch gerettet habe“, sagte Mijo schießlich. Tino grinste und winkte zum Abschied.
„Redest du mit all deinen Probanden so?“, fragte Rina schmunzelnd.
„Nur mit denen, die es nötig haben“, erwiderte Mijo und atmete aus.
„Wie geht es dir?“, fragte sie. Mijo hatte das Gefühl, dass tausend schwarze Sternen um ihn herum funkelten. Es war nicht unähnlich dem Gefühl, das er gehabt hatte, als Micki Berger ihm ins Gesicht geschlagen hatte. Er nickte und atmete angestrengt.
„Ich wollte dich wirklich nicht überrumpeln“, sagte Rina zaghaft und irgendwie eingeschüchtert, „es ist nur… würdest du einmal mit mir Essen gehen?“ Vorsichtig hob sie den Kopf. Ihre meerblauen Augen glitzerten.
„Essen?“, brachte Mijo mühselig hervor.
„Es gibt etwas, das ich gerne mit dir besprechen würde.“
Mijos Kopf fühlte sich vollkommen leer an. „In Ordnung“, sagte er.
Rina lächelte, aber nicht völlig erleichtert. „Heute Abend?“
„S-Sicher.“
„20 Uhr im Belinskis?“
Mijo nickte. Sie lächelte erneut, drehte sich um und ging.

Mijo hatte noch etwas Zeit vor seinem nächsten Termin, also legte er sich im Büro auf den Boden. Auf dem Rückweg vom Gericht hatte er immer noch die ganze Zeit das Gefühl gehabt, dass sein Kopf vollkommen leer war. Dass sein Körper völlig leer war. Als ob er sich in seine Moleküle aufgelöst hätte und nur durch die Luft schweben würde. Als er sich auf den Boden legte, fühlte er den Schmerz in seiner Brust, der ihn daran erinnert, dass er sehr wohl einen Körper hatte. Dass er immer noch da war und dass er sich nicht aufgelöst hatte. Katharina Tierner. Mijo hatte nicht geglaubt, dass er sie jemals wiedersehen würde. Als er im vergangenen Jahr zurück nach Töppingen gezogen war, hatte er sich manchmal vorgestellt, dass er ihr zufällig begegnen würde, am Gericht, beim Einkaufen, beim Spazierengehen am See, aber geglaubt hatte er es nie. Was nur?, ging es wieder und wieder durch seinen Kopf. Was nur will sie mit mir besprechen?

Er konnte sich noch genau an den Tag erinnern, an dem er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Es war der 23. Mai gewesen. Der 23. Mai vor sechzehn Jahren. Eine Woche, nachdem sie die Einwilligungserklärung unterzeichnet hatten, ihr Kind zur Adoption freizugeben. Wie unglaublich naiv war es damals gewesen zu glauben, dass sie danach einfach so weiter machen konnten. Als ob es dieses Kind nie gegeben hatte. Rina war außer sich. Ein paar Tage später ließen ihre Eltern sie vorübergehend in die Psychiatrie einweisen. Im Sommer wechselten sie auf verschiedene Schulen, da keiner es ertrug, sich den Mitschülern auszusetzen, die natürlich alle wussten, dass das Kind nicht mehr da war. Seitdem hatte er sie nicht mehr gesehen. Seit dem 23. Mai vor sechzehn Jahren.

Was nur will sie mit mir besprechen? Warum jetzt? Mijo dachte, dass alles gesagt war, alle Worte, die es möglich war zu sagen, dass sie sich nie wieder etwas würden sagen können. Er hoffte inständig, dass es wegen der Arbeit war. Er wusste, dass sie sich doch nicht auf Strafrecht spezialisiert hatte, aber vielleicht hatte sie für einen Bekannten die Verteidigung übernommen. Vielleicht kannte sie jemanden, der Unterstützung brauchte und vielleicht kam sie deshalb zu ihm. Er wusste, dass das Blödsinn war und trotzdem hoffte er, dass dies der Grund war. Über alle anderen Gründe wollte er lieber nicht nachdenken.

Er war fünfzehn gewesen, als er Rina kennenlernte. Sie waren auf derselben Schule, aber in unterschiedlichen Klassen. Zum Ende des Schuljahres hatte Tobias Wegmann den gesamten Jahrgang auf den Bauernhof seiner Eltern zum Zelten eingeladen. Aus irgendeinem Grund stießen er und seine Freunde zu ihrer Gruppe, wahrscheinlich wegen der Flasche Tequila, die einer ihrer Freundinnen dabei hatte. Niemand von ihnen hatte je Tequila getrunken. Billigen Fusel in synthetischen Farben, klar, aber Tequila… Tequila war so erwachsen. Rina kicherte aufgeregt, aber sie leckte mit ihrer kleinen pinken Zungen das Salz von ihrer Hand und kippte den Tequila hinunter und biss in die Zitrone ohne mit der Wimper zu zucken. Das schafften nicht einmal die Jungs, die viel grüner waren als sie zugeben wollten, nicht einmal Mijo selbst.

Dabei hatte Rina nicht einmal besonders viel Erfahrung mit Alkohol. Sie hatte einfach nur die große Willenskraft, Dinge durchzuziehen, wie Mijo bald lernte. Er lernte, dass sie ihren Vornamen hasste und ihn deshalb abkürzte, dass sie die Klassenbeste und dass ihr Lieblingsfilm trotzdem The Breakfast Club war, was ihre Coolness in Mijos Augen ins Unermessliche steigerte. In den folgenden Wochen gab er sich die allergrößte Mühe, überall da aufzutauchen, wo auch Rina war. Sie tranken mehr Tequila. Sie schwammen in warmen, mondlosen Nächten im Töppinger See. Sie beschlossen, nach der Schule Jura zu studieren und Staatsanwalt zu werden, was, wie Mijo heute überzeugt war, dem übertriebenen Konsum von Krimiserien geschuldet war. Sie verbrachten ein glorreiches Jahr mit zwei glorreichen Sommern miteinander, bis Rina am Ende des zweiten Sommers feststellte, dass sie in der 15. Woche schwanger war. Das war die einzige Sache, die sie nicht durchziehen konnte.

Mijo war heilfroh, dass Alessio Schütz seinen Drogentest bestanden hatte, auch wenn er sich in erster Linie für sich selbst freute. An diesem Tag hätte er es einfach nicht ertragen, Leuten ins Gewissen reden zu müssen. Aber Alessio Schütz hatte seinen Drogentest bestanden, Jessica Ringer hatte alle Papiere für den ALGII-Antrag dabei und Harald Fühner hatte sich mit seiner aktuellen Freundin versöhnt. Und Tino Bauer hatte noch einmal Bewährung bekommen. Er bekam keine dringenden Anrufe vom Gericht, Verteidigern oder Angehörigen. Unter anderen Umständen hätte Mijo den Tag als Erfolg verbucht, aber jetzt war er einfach nur erleichtert, ihn irgendwie überstanden zu haben.

Rina war schon da, als er das Belinskis betrat. Es wäre ein leichtes gewesen, einen Notfall vorzutäuschen und das Treffen abzusagen, aber es wusste nicht wie er sie erreichen konnte. Was er wusste war, dass es ohnehin keinen Sinn machte, davon zu laufen. Er war schon zu viel gelaufen. Sie trug einen schwarzen Samtrock und eine hellrosa Bluse. Nicht so förmlich wie am Mittag, aber immer noch edel. Mijo hingegen hatte sein Hemd bloß gegen einen Kapuzenpullover getauscht. Sie lächelte und stand auf, als sie ihn sah. Es folgte ein peinlicher Moment, in dem keiner so recht wusste, wie er den anderen begrüßen sollte, bis Rina ihn schließlich umarmte.

Sie setzten sich. „Schön, dass du so spontan Zeit hattest“, sagte sie. Mijo nickte. Er wusste nicht, was er ihr antworten sollte. Die Kellnerin brachte die Speisekarten, was ihm ein paar Minuten Luft verschaffte. Rina bestellte das Lachsfilet und Weißwein, Mijo entschied sich für das Lammkotelett und Bier. Normalerweise versuchte er, keinen Alkohol zu trinken, aber dies war einer der Momente, in dem es ihm gerechtfertigt erschien.
„Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte Rina mit einem zaghaften Lächeln.
„Mit mir? Oh ja“, sagte er und klopfte mehrfach mit dem Zeigefinger auf die Tischkante.
„Es ist nur… na ja, du siehst ein bisschen lädiert aus.“
Mijo lachte auf und lehnte sich zurück. „Es gibt da diesen Typen… Micki. Wie auch immer, vor ein paar Wochen ist er aus dem Knast entlassen und mir zugeteilt worden. Ich konnte ihn ewig nicht erreichen, weder per Post noch telefonisch, also bin ich irgendwann zu ihm hingefahren. Ich habe geklingelt und mich vorgestellt und er “ - Mijos Faust schnellte durch die Luft - „er schlägt mir mit der Faust ins Gesicht. Bäm!“
„Ach du meine Güte“, sagte Rina entsetzt.
„Jedenfalls bin ich so überrascht… ich falle hin, und er tritt auf mich ein, bis seine Freundin oder wer auch immer dazwischen geht“, fuhr Mijo fort. „Nicht gerade meine Sternstunde.“
Rina hielt die Hände vor den Mund, ernsthaft erschrocken. „Du hast doch hoffentlich die Polizei gerufen.“
„Ja, habe ich. Sie haben ihn mitgenommen. 2,4 Promille. Das war‘s dann wohl mit der neuen Freiheit.“
„Und was ist mir dir?“
„Ein Veilchen und eine Rippenprellung, nichts, was nicht wieder in Ordnung kommen würde“, winkte Mijo ab.
Rina atmete tief durch. Sie schaute für einen Moment traurig aus dem Fenster, bevor sie sich wieder Mijo zuwandte. „Dass du Bewährungshelfer geworden bist“, sagte sie und schmunzelte.
Mijo zuckte die Achseln. „Jura war einfach nicht mein Ding. Vier Semester habe ich geschafft, aber… es war einfach zu… zu abstrakt. Und dann die Leute“, stöhnte er.
„Ach ja, die Leute“, sagte Rina und lächelte.
„Nicht… du“, sagte er zögerlich. „Eher die ganzen Karrierejuristen, die möglichst viel Kohle scheffeln wollen, du weißt schon.“ Sie nickte verständnisvoll. „Aber du bist auch keine Staatsanwältin.“
Sie holte tief Luft. „Ich hab ziemlich schnell gemerkt, dass mir Strafrecht einfach zu langweilig ist. Ich mache jetzt Arbeitsrecht, das ist erheblich abwechslungsreicher.“
Für einen Moment wusste keiner, was er sagen sollte, bis Rina erneut das Wort ergriff. „Es tut mir übrigens sehr leid mit deiner Mutter“, sagte sie leise.
„Danke“, erwiderte Mijo knapp. Eine Welle der Erleichterung schwappte über ihn hinweg, wofür er sich augenblicklich schämte. Der Tod seiner Mutter schmerzte auch nach fünf Monaten noch wie am ersten Tag, aber er hatte die vage Hoffnung, dass dies vielleicht der Grund war, warum sie mit ihm sprechen wollte.
„Sie hat mich manchmal bedient, wenn ich Brötchen geholt habe.“
„Ja, sie hat einmal erwähnt, dass sie mit dir gesprochen hat.“
Rina schaute für einen Moment verwundert, bevor sie wieder tief Luft holte. „Hast du was von deinem Vater gehört?“, fragte sie.
Mijo schüttelte den Kopf. „Nein, aber das ist mir auch ganz recht so.“
„Ach ja?“
„Ja, denn wenn er sich gemeldet hätte, dann sicher nur wegen Geld und darauf kann ich wirklich verzichten.“
„Das glaube ich“, sagte Rina bedrückt.
„Das ist das Gute: Sein letzter Stand ist, dass ich Jurist werde oder bin. Vielleicht traut er sich deswegen nicht.“
Rina lachte kurz. „Warst du bei ihr?“
Mijo nickte. „Ja, das letzte Jahr. Ich bin hergezogen, weil… es wäre zu schwierig geworden. Die Krankenhausaufenthalte und das alles. Es war einfach so viel zu regeln.“ Aus irgendeinem Grund hatte er das Gefühl, sich dafür entschuldigen zu müssen, dass er zurück nach Töppingen gekommen war. Als ob die Pflege seiner krebskranken Mutter kein ausreichender Anlass wäre.
Rina nickte. „Deine Mutter war sehr stolz auf dich.“
Mijo lachte abwehrend. „Ich weiß nicht...“
„Doch, doch“, meinte Rina, plötzlich sehr lebhaft, „das hat man deutlich gemerkt.“ Mit einen Mal wurde sie wieder ruhig. „Ich habe deine Mutter immer sehr gemocht. Sie war die einzige, die damals nicht völlig durchgedreht ist.“
Mijo räusperte sich und nickte energisch. Er wollte wirklich nicht darüber sprechen. „Wie geht es Robert?“, fragte er deshalb.
Rina blickte verwirrt zurück. „Lorenz?“, fragte sie schließlich.
„Lorenz“, sagte Mijo und verdrehte die Augen. Seine Mutter hatte ihm gesagt, dass Rina verheiratet war. Irgendein Typ mit einem versnobten Namen. Lorenz.
Sie seufzte. „Wir sind gerade im Trennungsjahr.“
„Oh, tut mir leid“, sagte Mijo erstaunt.
„Na ja, passiert“, wehrte Rina ab. „Wir haben uns… auseinander gelebt, wie man so schön sagt. Außerdem habe ich einen großen Klienten für die Kanzlei gewonnen, was ihm nicht gepasst hat.“
„Hm“, machte Mijo verächtlich.
„Ich schätze, man sollte wirklich nicht mit seinem Partner zusammenarbeiten“, sagte Rina resigniert.
Mijo wusste, dass er dieses Fass nicht aufmachen sollte, und eigentlich wollte er auch gar nicht, aber er konnte auch nicht anders. „Habt ihr Kinder?“, fragte er.
Rina schüttelte den Kopf. Tränen stiegen ihr in die Augen. Mijo hielt den Atem an. „Ich, ähm… ich wollte, dass diesmal alles perfekt ist, weißt du. Damit niemand mehr was sagen kann. Nur dass es den perfekten Moment nicht gibt.“ Sie seufzte. „Wobei ich jetzt natürlich froh bin, dass ich keine Kinder mit Lorenz habe.“ Sie atmete tief durch. „Ich soll wahrscheinlich einfach keine Mutter sein“, sagte sie und schüttelte schniefend den Kopf.
„Hey“, sagte Mijo sanft. „Du bist noch jung, du kannst immer noch Mutter werden.“
Rina zuckte die Achseln. „Ich weiß auch nicht. Bis ich jemanden kennengelernt habe und wir dann soweit sind, Kinder in die Welt zu setzen ist der Zug wahrscheinlich abgefahren.“ Sie schüttelte den Kopf. „Und was ist mir dir?“
Mijo lachte. „Ich versuche noch herauszufinden, wie man eine Beziehung dauerhaft am Leben erhält.“
„Hm“, machte Rina.

Wenn er seinen Beziehungsstatus benennen müsste, würde Mijo wahrscheinlich von einem semi-freiwilligen Zölibat sprechen. Er hatte eine Reihe wunderbarer Freundinnen gehabt, aber nach spätestens zwei Jahren überkam ihn das dringende Bedürfnis nach Unabhängigkeit. Er machte Schluss, oder, was häufiger vorkam, torpedierte die Beziehung so lange mit unausstehlichem Verhalten, bis die Frau das Handtuch warf. Erst als der Krebs seiner Mutter zurückkehrte reifte in ihm die Einsicht, dass er so nicht weitermachen konnte. Also beschloss er, bis auf Weiteres die Finger von Frauen zu lassen und sich ganz auf die Pflege seiner Mutter und die Arbeit zu konzentrieren.

Schließlich brachte die Kellnerin das Essen. Eine ganze Weile stocherten beide ihn ihren Gerichten herum, ohne ein Wort zu sagen. „Eigentlich habe ich überhaupt keinen Hunger“, sagte Rina schließlich und legte die Gabel zur Seite.
„Ich auch nicht“, gab Mijo zurück.
Rina seufzte tief. „Weißt du, die Sache, die ich mit dir besprechen wollte...“ Mijos Körper verkrampfte sich, während sein Herz wild in seiner Brust hämmerte. „Ich hatte einen Anruf vom Jugendamt.“ Seine Atmung stand still. Also ging es doch darum. „Er hat sich die Akte angesehen. Er ist ja jetzt sechzehn.“
„Ich weiß“, sagte Mijo knapp, wobei er beleidigter klang als ihm lieb war.
„Ja“, sagte Rina entschuldigend. „Jedenfalls… er möchte uns treffen.“ Mijo blickte erstaunt auf. „Er will uns keine Vorwürfe machen“, beeilte sie sich zu sagen. „Das hat die Frau vom Jugendamt gesagt. Er will uns nur treffen, uns kennenlernen.“ Sie schaute ihn hoffnungsvoll an, aber Mijo erwiderte ihren Blick nicht. „Ich weiß, dass das ein Schock sein muss…“ Sie lachte kurz. „Ich habe auch erst mal eine Woche nur geheult.“
Mijo schüttelte den Kopf. „Hätte ich das nicht wissen müssen?“
„Aber woher denn?“
Er atmete tief ein. „Es ist nicht so… ich denke noch an ihn, manchmal“, versuchte er Rina zu erklären. „An seinem Geburtstag und… ich weiß, dass er sechzehn ist. Hätte ich das nicht kommen sehen müssen?“, fragte er verwirrt.
„Wir konnten doch nicht wissen, was er tun würde“, sagte Rina, während ihr ein paar Tränen über das Gesicht liefen. Sie seufzte. „Ich möchte ihn auf jeden Fall treffen. Ich dachte nur, falls du ihn auch treffen möchtest, dass… dass wir das zusammen machen könnten.“ Mijo sah sie erschöpft an. „Du musst mir jetzt aber keine Antwort geben.“
„Doch“, sagte er, kaum dass sie den Satz beendet hatte, worüber er mindestens so überrascht war wie Rina. „Doch, lass es uns tun. Das, ähm… das sind wir ihm wohl schuldig.“
Rina lächelte erleichtert. „Soll ich um die Rechnung bitten?“ Mijo nickte.

Es war eine laue Frühlingsnacht. Die letzten tiefroten Sonnenstrahlen verschwanden gerade hinter dem Horizont des Sees, als Mijo und Rina das Restaurant verließen. „Bist du mit dem Auto da?“, fragte Mijo. Rina schüttelte den Kopf. „Soll ich dich nach Hause bringen?“
Rina schüttelte erneut den Kopf. „Ich werde einfach laufen, das ist nur eine halbe Stunde von hier.“
„Allein durch Töppingen?“
Rina lachte. „Na ja, wir sind ja nicht gerade in Baltimore.“ Mijo kratzte mit seinem rechten Fuß über den Boden. „Was denn?“, fragte Rina zurück.
Er seufzte. „Es ist nur… ich musste gerade daran danken, wie viele von meinen Leuten hier jetzt gerade unterwegs sind und wahrscheinlich viel zu viel Alkohol intus haben. Und dazu kommen noch die ganzen anderen, die nicht unter meinen Fittichen stehen.“
Rina grinste. „Du hast ja Vertrauen in die rechtschaffene Bevölkerung von Töppingen am See.“
„Erfahrungswerte. Bitte, lass mich dich nach Hause fahren.“ Rina nickte.

Hastig sammelte Mijo die Kaffeebecher und Pfandflaschen der letzten drei bis vier Wochen aus dem Beifahrerbereich auf und warf sie auf die Rückbank, bevor er Rina die Tür öffnete. „Sorry, ähm, es ist leider nicht so ordentlich.“
„Schon gut“, schmunzelte Rina, als sie sich in den alten Ford setzte.
Mijo kramte seine Brille aus der Ablage hervor und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. „Also, wohin des Wegs?“
„Ähm, nach Seestadt. Früenthauer Weg. Ich weiß nicht, ob du das kennst, oder...“
Mijo seufzte. „Normalerweise kenne ich mich ganz gut aus in Töppingen, aber das ist nicht gerade die Ecke, in der ich für gewöhnlich unterwegs bin.“ Rina biss sich auf die Lippe. „Aber nach Seestadt finde ich ungefähr. Nur beim Rest musst du mir helfen.“
„In Ordnung.“
Mijo ließ den Motor an und „The Promised Land“ plärrte aus den Boxen. Hastig drehte er die Lautstärke runter. Rina lachte. „Stehst du immer noch auf Springsteen?“
„Ja, natürlich. So eine Liebe ist fürs ganze Leben“, erwiderte Mijo und wendete den Wagen.
Rina lehnte sich zurück. „Ich musste neulich an dich denken, weißt du. Als Springsteen seine Autobiographie veröffentlicht hat.“
„Ein fantastisches Buch.“
„Natürlich.“
Mijo sah zu ihr herüber. Sie lächelte ihn an. Genau wie damals. Sie fuhren über die Ringstraße. Die Stadt war immer noch hell erleuchtet.
„Weißt du, was komisch ist?“, fragte Rina.
„Was denn?“
„Ist der junge Mann von heute nicht wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis verurteilt worden?“
„Woher weißt du das denn schon wieder?“
„Dein Kommentar, dass er doch bitte den Bus nehmen soll.“
„Oh“, machte Mijo.
„Ich meine nur… das ist ja ein Vergehen, dessen du dich in seinem Alter häufiger schuldig gemacht hast.“
Mijo räusperte sich. „Also, erstens ist Tino schon zwanzig, auch wenn man es ihm nicht ansieht. In diesem Alter habe ich über eine Fahrerlaubnis verfügt. Und zweitens war ich nie so doof, mich erwischen zu lassen.“
„Du hast einfach nur Glück gehabt!“, rief Rina und lachte.
„Also ich bin nie mit 140 Sachen über den Zentral-Parkplatz geheizt, samstagnachts, wenn die halbe Töppinger Dienststelle Streife fährt.“
„Ernsthaft?“, fragte Rina zurück. Mijo nickte. „Du hast es wirklich nicht leicht“, sagte sie.
Er seufzte. „Ich will mich nicht beschweren. Tino könnte es wirklich schaffen, weißt du. Er macht jetzt sogar eine Ausbildung zum Gärtner. Ich wünschte nur, er würde es lassen, sich dann und wann wie ein 13-Jähriger aufzuführen.“ Rina lächelte sanft.

Mijos Cousin Alex machte eine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker. Seinen überschaubaren Lohn besserte er auf, indem er abends und am Wochenende die Autos des halben Stadtteils auf Vordermann brachte. Alex war es auch, der Mijo zeigte, wie man Auto fuhr. Mijo war schon immer erpicht darauf, Auto fahren zu lernen, und ganz besonders, nachdem er erfuhr, dass Rinas Eltern eine kleine Anglerhütte am Töppinger See besaßen. Der Busverkehr zum Ostufer steckte damals noch in den Kinderschuhen und am Sonntag fuhr schon einmal gar nichts. Den Großteil seiner geistigen Energie in diesen Tagen steckte Mijo in die Frage, wie er endlich Sex mit Rina haben konnte. Er wohnte mit seinen Eltern in einer Drei-Zimmer-Wohnung mit praktisch nicht-existenter Privatsphäre. Rinas Eltern hatten ein Haus, aber ihre Mutter oder ihre Schwestern waren immer da und ihr Vater kam auch allerspätestens um halb sieben von der Arbeit zurück. Es war einfach nicht möglich, ungestört Zeit miteinander zu verbringen.

Doch dann erwähnte Rina, dass ihre Eltern eine Anglerhütte am Töppinger See hatten, die ihr Großvater einst gebaut hatte. Ihr Vater hatte nicht viel fürs Angeln übrig und so wurde die Hütte nur ab und zu an Sommerwochenenden benutzt. Sie hatten schon einmal einen Testlauf gestartet – tatsächlich war es nur für Mijo ein Testlauf – und ihre Freunde zu einer Party am See eingeladen. Sogar Stefan Werners Cousin Leonard, den eigentlich keiner besonders leiden konnte, der aber über einen Führerschein und einen Kleintransporter verfügte. Er hatte auch die Kartons voll Wein, das Bier und den Fusel mit den synthetischen Farben besorgt. Die Hütte hatte ein Bett, einen Tisch mit zwei Stühlen und eine Spüle ohne Wasseranschluss und es passten kaum zwei Leute rein. Aber das war egal, denn es war Sommer und die Hütte lag direkt am See. Sie tranken Wein und Bier und Schnaps und tanzten am Seeufer zu der Musik aus Stefans batteriebetriebenem Ghettoblaster. Dass die CDs ständig stockten, war auch egal. Sie waren am See und tanzten und tranken Alkohol. So frei hatten sie sich noch nie gefühlt.

Die Hütte. Die verdammte Hütte. Keine Villa auf der Welt konnte an die Hütte heranreichen, die einsam am Ostufer zwischen Wasser und Wald stand. Und deshalb brauchte Mijo ein Auto. Nachdem er lange, lange auf Alex eingeredet hatte - dem Mijos Anliegen durchaus sympathisch war - willigte dieser schließlich ein, ihm eins der Autos seiner Kunden zu leihen. Der Opel fiel ohnehin fast auseinander, ein Kratzer würde wahrscheinlich kaum auffallen. Rina staunte nicht schlecht, als er sie, ein paar Straßen von ihrem Elternhaus entfernt, mit dem Wagen abholte. Mit einem Mal war die Hütte, und alles, was er sich von ihr erhoffte, zum Greifen nah.

„Da vorne links“, sagte Rina. Mijo war erleichtert, dass sie nicht in einer Villa am Ufer wohnte, sondern ein paar Straßen entfernt in einem Mehrfamilienhaus ohne Seeblick. Trotzdem. „Na, dann vielen Dank, dass du mich vor Töppingens Delinquenten beschützt hast“, meinte sie grinsend.
Mijo machte eine kleine Verbeugung. Während der Fahrt hatte er sich daran erinnert, wie leicht es war, sich mit Rina zu unterhalten. Doch jetzt stand wieder diese Sache zwischen ihnen und im Wagen herrschte eine beschämte Stille.
„Ich, ähm… ich werde dann mit dem Jugendamt telefonieren“, sagte Rina leise. „Soll ich dir Bescheid sagen, wenn wir etwas ausgemacht haben?“ Mijo nickte.
Sie tauschten Visitenkarten aus. Wie erwachsen sie waren. Rina stieg aus und ging zur Haustür. Kurz bevor sie sie erreicht hatte, drehte sie sich noch einmal um und winkte.

Mijo zündete sich eine Zigarette an und fuhr nach Hause. In seiner Wohnung angekommen, putzte er die Zähne, zog sich auf dem Weg ins Schlafzimmer aus und ließ sich erschöpft auf das Bett fallen. Er verstand sich selbst nicht. Auch wenn er gehofft hatte, dass es nicht so war, hatte er doch gewusst, dass Rina ihnen wegen des Kindes sprechen wollte. Trotzdem war er aus allen Wolken gefallen, als sie ihm erzählt hatte, dass er sie sehen wollte. Das Jugendamt hatte sie damals auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht, geradezu vorgewarnt, dass das Kind Zugang zu ihren Namen hatte und vielleicht versuchen würde, Kontakt aufzunehmen. Und obwohl Mijo wusste, dass es möglich war, war dieser Zeitpunkt immer weit, weit entfernt in der Zukunft gewesen. Vielleicht will er ja auch gar nichts von uns wissen. Irgendwann war Mijo halbwegs überzeugt davon, dass das Kind kein Interesse an einer Begegnung hatte. So kann man sich täuschen.

Sie wollten das Geschlecht des Babys nicht wissen und einen Namen überlegten sie sich auch nicht. Sie versuchten alles, um die Bindung möglichst gering zu halten. Mijo gelang das sogar ganz gut, aber das Kind war ja auch nicht in seinem Körper. Irgendwann hatte er akzeptiert, dass Rina schwanger war. Dass dies tatsächlich in einem Kind resultierte, versuchte er weitgehend auszublenden. So war er der Einzige, der halbwegs überrascht war, als bei ihr die Wehen einsetzten. Am liebsten hätte Mijo das Kind nie gesehen, aber er wusste, dass er Rina wenigstens bei der Geburt beistehen sollte, wo er ihr doch während der Schwangerschaft keine große Hilfe gewesen war. Rinas Vater rastete aus, weil er Mijo nicht im Kreißsaal haben wollte. Die beiden stritten sich lautstark auf dem Krankenhausflur, bis Rina über eine Schwester mitteilen ließ, dass sie auf keinen Fall jemanden aus der Familie dabei haben wollte. Mijo konnte ihretwegen hereinkommen.

Die Geburt dauerte nur fünf Stunden, die Mijo allerdings wie Tage erschienen. Rina weinte und schrie. Er wollte sie beruhigen, doch sie war in einer Welt, in der er sie nicht erreichen konnte. Schließlich gab er auf und legte seinen Kopf auf ihren Arm und betete dafür, dass es endlich vorbei sein möge. Nach fünf langen Stunden, so lang wie ein ganzes Jahr, holte der Arzt ein blutendes, schreiendes Etwas aus ihrem Körper hervor, dass die Hebamme ihr wenig später in den Arm drückte. Es war ein Junge. Er war 53 Zentimeter groß und 3280 Gramm schwer. Er war gesund. Rina zitterte und Tränen liefen ihr über das Gesicht. Sie hielt das Kind fest umklammert. Das Kind war winzig klein. Es hatte viele rote Haare und sah ein bisschen verschrumpelt aus. Dann öffnete es die Augen. Seine Augen war blau und tief und endlos wie das Weltall. Es schaute nach oben zu Rina und dann schaute es zu Mijo. Es schaute wirklich zu ihm. Auf einmal schien der ganze Kreißsaal sich zu drehen und umzukippen. Dann kam die Schwester und nahm den Jungen. Das war das letzte Mal, dass sie ihn sahen.

Im Gegensatz zu Rina hatte Mijo ihre Entscheidung nie bereut. Er war überzeugt, dass es dem Kind bei erwachsenen Eltern besser gehen würde, bei Eltern, die ihm ein richtiges Zuhause bieten konnten. Und er war erleichtert, dass ihm diese Verantwortung erspart geblieben war. Er hatte nur nicht damit gerechnet, dass das Kind ihn ansehen würde.

Irgendwann hörte er auf, jeden Tag an es zu denken. Es muss rund ein Jahr später gewesen sein, als bei seiner Mutter zum ersten Mal Brustkrebs diagnostiziert wurde. Sein Vater kam damit nicht zurecht und ging einfach. Plötzlich hatte Mijo die Verantwortung, der er gehofft hatte, entfliehen zu können, und er hatte keine Zeit mehr, jeden Tag an das Kind zu denken. Nicht, dass er es völlig vergessen hatte. Es gab immer wieder diese Momente. An seinem Geburtstag am 14. März, natürlich, aber nicht nur dann. Wenn er Eltern sah, die mit ihren Kindern am See spazieren gingen. Oder wenn er sich bei einer Online-Dating-Seite anmeldete und gefragt wurde, ob er Kinder hatte. Natürlich klickte er auf „Nein“, da das Kind ja nicht mehr sein Sohn war. Aber er dachte an das winzige Baby mit den roten Haaren und den blauen Augen.

Mijo las Tinos Urteil durch, das das Gericht zwischenzeitlich geschickt hatte. Tino summte eine willkürliche Aneinanderreihung von Tönen ohne erkennbaren harmonischen Zusammenhang. „Scharfe Puppe neulich“, sagte er schließlich.
„Entschuldige bitte?“, erwiderte Mijo.
„Na, die Blondine im Gericht.“
Mijo seufzte. „Weißt du, vielleicht würde es zwischen dir und der Damenwelt besser funktionieren, wenn du Frauen nicht als Puppen bezeichnen würdest.“
„Ja, ja, ja. Wer war sie denn?“
Mijo verlor zusehends die Geduld. „Nur eine Anwältin.“
„So sah das aber nicht aus.“ Tino verzog den Mund. „Nagelst du sie?“
Es kam nicht mehr oft vor, dass etwas Mijo die Sprache verschlug, aber dies war so ein Moment. Er hatte allerdings gelernt, sich nicht provozieren zu lassen. Demonstrativ setzte er die Brille ab, die er zum Lesen und Autofahren trug. „Eins will ich mal klarstellen: In unserer Beziehung geht es einzig und allein um dich. Hast du das verstanden?“, sagte er streng. Tino nickte widerwillig. Mijo setzte die Brille wieder auf und las weiter.
„Trotzdem“, seufzte Tino. „Warum kann ich nicht mal von so einer Anwältin vertreten werden? Ich krieg immer nur die alten Säcke.“
„So ist das eben, wenn man straffällig wird. Wenn du irgendwann mal einen richtigen Job hast und dich mit deinem Arbeitgeber streitest, dann kannst du dich von ihr vertreten lassen. Vorausgesetzt natürlich, du kannst das dreistellige Stundenhonorar aufbringen.“
Tino sah Mijo entgeistert an. „Wa-ha-has? Scheiße, man.“ Mijo grinste.

Es verging über eine Woche, bis Mijo wieder von Rina hörte. Sie schickte ihm eine Nachricht, dass sie sich für Samstagabend, 19 Uhr, bei ihr zu Hause verabredet hatten. Ob er wohl eine Stunde früher kommen könnte, um alles durchzusprechen? Um 18.02 Uhr stand Mijo vor ihrer Tür. Sein Herz hämmerte so stark, dass er kaum atmen konnte. Für einen Moment befürchtete er, sich übergeben zu müssen und suchte panisch nach einem passenden Behältnis. Außer einem bepflanzten Blumenkübel sah er nichts. Die Übelkeit verflog. Er klingelte.

Rina lächelte, als sie die Tür öffnete. Sie trug ein schlichtes, dunkelblaues, knielanges Kleid mit Dreiviertelärmeln. „Komm rein“, sagte sie schüchtern. Mijo folgte ihrer Aufforderung. Die Wohnung lag im Erdgeschoss. Rina führte ihn in ein großes, sehr aufgeräumtes Wohn-Esszimmer. Sie war gerade dabei, den Tisch zu decken.
„Hübsche Wohnung“, sagte Mijo.
„Danke“, sagte sie knapp, während sie, recht hektisch wie er fand, das Besteck verteilte.
„Miete?“
„Nein, wir haben sie gekauft.“
„Hm“, machte Mijo. „Behältst du sie?“
Rina seufzte. „Wir sind uns noch nicht einig geworden. Lorenz ist zwar ausgezogen, aber er hätte sie gern. Ich möchte sie auch behalten, aber ich kann ihn so nicht auszahlen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß noch nicht, was ich mache.“
„Klar“, sagte Mijo.
Sie öffnete eine Flasche Wein. „Möchtest du auch was?“
„Nein, danke.“
„Ein Bier?“
„Nein, danke.“
„Sicher nicht?“
„Ich muss ja noch fahren.“
Rina schaute ihn überrascht an. „Okay, dann vielleicht ein alkoholfreies Bier?“
„Um...“
„Bitte“, flehte sie. „Dann sieht es nicht so aus, als ob ich die einzige bin, die trinkt.“
„Okay, ja. Gerne“, sagte Mijo.
„Gut“, erwiderte sie erleichtert und holte das Bier aus dem Kühlschrank.
Sie trat vor ihn und musterte ihn. Dann strich sie vorsichtig mit ihrer rechten Hand über sein linkes Jochbein. Mijo fühlte, wie sich jeder einzelne Muskel seines Körpers verkrampfte. „Sieht schon viel besser aus“, sagte sie.
„Ja, hat sich so gut wie erledigt.“
„Ist dir so was schon mal passiert?“
Mijo schüttelte den Kopf. „Nein, das war das erste Mal.“ Bevor Micki Berger ihn mit seiner Faust im Gesicht traf, hatten ihm überhaupt erst zwei Personen ernsthaft Schläge angedroht. Sein Vater, und Rinas Vater.
„Tut mir echt leid für dich“, sagte sie.
„Was soll‘s. Ist das ganze Leben nicht bloß eine Aneinanderreihung von Faustschlägen? Auf einen mehr oder weniger kommt es da auch nicht an.“
„Oha“, lachte sie erstaunt. „Sehr philosophisch.“
Sie setzten sich an den Tisch. „Darf ich rauchen?“, fragte Mijo.
„Klar“, sagte Rina und kramte aus der hintersten Ecke der Kommode einen Aschenbecher hervor. Mijo zündete sich eine Zigarette an und sie prosteten sich mit einem nervösen Lachen zu. „Also“, begann Rina. „du rauchst, du brauchst eine Brille beim Autofahren, dein Alkoholkonsum ist ausgesprochen moderat und du hast die Juristerei aufgegeben, mehr oder weniger zumindest. Gibt es noch etwas, dass sich bei dir geändert hat?“
Alles, wollte Mijo sagen. „Nein, das ist es ungefähr.“ Sie lachte. „Und bei dir?“
„Bei mir?“, erwiderte sie überrascht. „Nichts, was du nicht schon wüsstet. Ich bin ein mäßig erfolgreiche, fast geschiedene, 32-jährige Anwältin. Das ist es so ziemlich.“
„Deine Haare sind heller.“
Sie lachte. „Na ja, ich habe nachgeholfen. Sieht adretter aus, finde ich.“
Er nickte. „Und wie geht es dir sonst so?“
Sie lachte erneut, eine Spur trauriger. „Ich bin ein Wrack. Ich habe versucht, mich mit Arbeit und Einkaufen und Putzen abzulenken, aber trotzdem. Oh Gott, und das Essen erst.“
„Das Essen?“
„Ich habe tagelang überlegt, was ich heute zu Essen mache. Irgendwann habe ich mich für Lasagne entschieden. Ich meine, jeder mag Lasagne, oder?“ Mijo zuckte die Schultern und nickte. „So weit, so gut. Doch plötzlich denke ich: Was ist, wenn er Vegetarier ist? Oder sogar Veganer? Also habe ich versucht, noch eine vegane Lasagne zu machen. Es ist beides im Ofen, keine Ahnung, ob irgendwas geklappt hat. Ich hasse kochen. Sonst hat Lorenz das immer übernommen.“ Sie seufzte. „Kannst du kochen?“
„Ich? Ich kenne wahrscheinlich jeden Imbissverkäufer im Umkreis von zwei Kilometern von meinem Büro mit Vornamen.“
Sie lachte, doch dann atmete sie tief durch und sah ihn an. „Ich hab so wahnsinnige Angst, Mijo“, flüsterte sie. Er zögerte einen Moment, doch dann nahm er ihre Hand. Sie war noch genauso warm und weich wie früher.
„Ich weiß“, erwiderte er, ebenfalls flüsternd.
„Was ist, wenn er uns hasst?“ Darüber hatte Mijo die ganze Zeit nachgedacht. Erst jetzt wusste er, was er sagen sollte.
„Immerhin haben wir jetzt die Gelegenheit, es ihm zu erklären.“ Sie lächelte erleichtert.

Es war 19.10 Uhr, als es an der Tür klingelte. In den vorangegangen zwanzig Minuten hatten Rina und Mijo nicht mehr miteinander gesprochen, sondern nur auf den Zeiger der Wanduhr gestarrt, wie er sich immer weiter in Richtung der vollen Stunde bewegte. Beide sehnten sich nach dem Klingeln und beide fürchteten nichts mehr. Als es soweit war, sprang Rina auf und rannte zur Tür, sodass Mijo Probleme hatte, ihr zu folgen. Im Flur blieb sie abrupt stehen. Sie holte tief Luft und öffnete die Tür. „Hallo, komm rein“, hörte er sie sagen.

Und dann stand er da. Mijo war überrascht, wie ähnlich er dem Kind aus seiner Erinnerung sah. Er hatte granatapfelrotes Haar und meerblaue Augen. Er trug Jeans, ein schwarzes T-Shirt und eine schwarze Lederjacke. Er war drei oder vier Zentimeter größer als Rina. Unsicher schaute er sich um. Rina zitterte. Dann umarmte sie ihn fest und begann zu weinen. Er legte zögerlich seine Arme um ihren Rücken und drückte sie leicht. Schließlich löste sie sich von ihm und wischte hastig ihre Tränen weg. „Tut mir echt leid, ich hatte mir so vorgenommen, nicht zu heulen“, sagte sie und lachte nervös.
„Schon gut“, sagte er, während seine Augen hektisch blinzelten.
„Warum gibst du mir nicht deinen Rucksack und deine Jacke?“, fragte Rina.
„Oh, klar“, sagte er überrascht. Er legte seinen Rucksack und seine Jacke ab und reichte sie Rina, die sie an die Garderobe hängte. Mijo lächelte ihn zaghaft an. Der Junge schaute neugierig zurück. Seine Augen waren klar und funkelten.
„Okay“, sagte Rina und holte erneut tief Luft. Sie streckte ihre Hand aus: „Ich bin Rina.“
Er reichte ihr die Hand. „Ich bin Max.“
Dann war Mijo an der Reihe: „Ich bin Mijo“, sagte er. Max nickte und blickte ihn wieder mit seinen offenen Augen an. Er ist so groß und er sieht aus wie das Baby.

„Bitte, komm rein“, sagte Rina und führte ihn an den Esstisch. „Ich hoffe, du hast Hunger“, rief sie aus der Küche, während sie die Lasagnen holte. Mijo nahm die Formen entgegen und stellte sie auf den Tisch. „Ich, ähm, ich hoffe du magst Lasagne“, sagte Rina als sie aus der Küche zurückkehrte. „Ich wusste nicht, ob du Fleisch isst, deshalb habe ich eine normale und eine vegane gemacht.“
„Ähm, danke“, erwiderte Max überrascht. „Ich, äh, ich esse auch Fleisch. Eigentlich esse ich fast alles.“ Rina lachte erleichtert und gab Max etwas von der traditionellen Lasagne. Max entschied sich für eine Cola, während Rina sich noch ein Glas Wein einschenkte und Mijo noch ein Bier reichte.
Sie schwiegen peinlich berührt. Alle hatten das Bedürfnis, sich zu studieren, aber keiner traute sich so recht, den anderen anzustarren. Er hatte ohne Zweifel Rinas Augen. Mijo sah ein, dass die Haarfarbe von ihm kommen musste, auch wenn der Rotstich in seinen braunen Haaren vergleichsweise dezent war.
„Danke, dass... ihr euch die Zeit genommen habt“, sagte Max schließlich.
„Ist doch klar“, murmelte Mijo.
„Natürlich“, sagte Rina gleichzeitig.
„Ich, ähm, ich weiß nicht, was Frau Schiller vom Jugendamt euch gesagt hat, ich, ähm, ich… ich weiß auch nicht, ich wollte euch nur mal sehen. Also gesehen habe ich euch natürlich auf dem Foto, aber ich… na ja, ich wollte euch einfach mal persönlich sehen.“ Mijo erinnerte sich dunkel, dass Rina nach der Unterzeichnung der Papiere der Sachbearbeiterin etwas mitgegeben hatte. Warum habe ich sie nicht gefragt? Warum hat sie mich nicht gefragt?
„Ja, natürlich“, erwiderte Rina.
„Hattest du es denn weit?“, fragte Mijo nach einem weiteren Moment der Stille.
„Oh, nein“, sagte Max und nahm einen Happen von der Lasagne. Mijo und Rina blickten sich panisch an. Max bemerkte, dass die Information nicht ausreichte. „Wir wohnen in Pauluswerder. Ich hab den Bus genommen“, sagte er schließlich.
„Oh“, erwiderten Mijo und Rina. Er konnte kaum glauben, dass das Kind die ganze Zeit nur 20 Kilometer entfernt gewesen war. Alessio Schütz wohnt in Pauluswerder. Und Dennis Faber. Und Melanie Schriever.
„Ich hoffe, das ist in Ordnung für… für deine Eltern“, meinte Rina zaghaft.
„Oh ja“, sagte Max und stopfte sich noch eine Gabel in den Mund. „Sie wissen, dass das wichtig für mich ist.“
Rina sah Mijo flehentlich an. „Also...“, stammelte er. „Also, wir, ähm… ich weiß nicht genau, wie so etwas abläuft.“
„Ich auch nicht“, sagte Max und alle begannen zu lachen.
Ein Stück der Anspannung fiel von Mijo ab. „Möchtest du etwas über uns wissen, hast du irgendwelche Fragen?“
Max schluckte. „Ich habe so viele Fragen, ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll.“
Mijo nickte. „Sollen wir dir erst mal was über uns erzählen?“ Max nickte hektisch.
„Okay“, sagte Rina erleichtert. Sie warf sich Blicke mit Mijo zu. „Also,“ begann sie schließlich. „ich, ähm… ich bin 32 Jahre alt. Ich bin Anwältin, ich arbeite in einer Kanzlei in Töppingen.“ Max‘ Augen weiteten sich erstaunt. „Ich, ähm, ich bin verheiratet, aber mein Mann und ich wir… wir lassen uns gerade scheiden.“
Max‘ Augen weiteten sich noch ein bisschen mehr. „Also seid ihr gar nicht mehr zusammen?“, während er mit dem Zeigefinger zwischen Mijo und Rina hin und her wedelte. Sie schüttelten den Kopf. „Aber ihr seid Freunde?“
Sie sahen sich verwirrt an. „Ähm...“, machte Rina.
„Tja...“, sagte Mijo.
„Ihr habt noch Kontakt?“, versuchte Max es.
„Hm… w...wieder“, sagte Mijo.
„Wir haben uns lange nicht gesehen. Mijo hat eine Weile woanders gewohnt, aber jetzt… ja, jetzt haben wie wieder Kontakt“, sagte Rina. Mijo schloss für eine Sekunde dankbar die Augen.
„Wie lange habt ihr euch nicht gesehen?“, fragte Max weiter. Erneut unsichere Blicke.
„Sechzehn Jahre“, sagte Rina schließlich.
„Hm“, machte Max.
„Na ja“, sagte Mijo schließlich. „Ich bin auch 32 Jahre alt. Ich, ähm, ich arbeite als Bewährungshelfer.“
„Oh, wow“, sagte Max überrascht.
„Ja“, lachte Mijo. „Auch hier in Töppingen. Meine, ähm, Klienten wohnen aber im ganzen Landkreis.“
„Auch in Pauluswerder?“
Mijo nickte. „Aber die, die da wohnen, sind ganz harmlos.“ Max verzog den Mund. So richtig zu glauben schien er ihm nicht.
„Arbeitet ihr manchmal zusammen?“, fragte er.
„Ähm, nein, ich mache Arbeitsrecht“, sagte Rina. Max nickte eine ganze Weile.
„Du denkst nicht zufällig über eine Karriere im Rechtswesen nach?“ fragte Mijo halbernst.
„Früher wollte ich mal Polizist werden. Jetzt weiß ich noch nicht, was ich machen will“, sagte Max betrübt. „Mein Papa ist Ingenieur, ich glaube, er fände es gut, wenn ich auch so was studieren würde.“
„Also gehst du noch zur Schule?“, fragte Rina.
Max nickte. „Ja, auf das Gymnasium in Pauluswerder.“
„Und was macht deine M… Mutter?“
„Sie arbeitet halbtags als Büroangestellte. Aber auch erst seit ein paar Jahren.“ Rina nickte.
„Habt ihr noch mehr Kinder?“, fragte Max unvermittelt.
Mijo und Rina schüttelten den Kopf. „Nein, Lorenz, mein Mann, und ich, wir… wir waren noch nicht so weit.“
Max nickte und blickte zu Mijo herüber. „Ich, ähm, keine Ahnung. Ich schätze, ich habe noch nicht die Frau gefunden, mit der ich Kinder haben möchte.“ Rina biss sich auf die Lippe. „Außerdem habe ich schon genug Leute, die ich bemuttern muss“, lachte er. Rina und Max sahen ihn entsetzt an. „Sorry. Blöder Scherz“, meinte Mijo verlegen. „Aber irgendwann, da hätte ich schon... gerne… mal sehen.“ Rina sah ihn erschrocken an.
„Also hast du keine Freundin?“, fragte Max. Mijo schüttelte den Kopf.
„Wollt ihr auch was über mich wissen?“, fragte Max.
„Ja!“, riefen Rina und Mijo begierig. Max nickte, er lächelte sogar ein bisschen. „Okay, ähm, ich bin sechzehn Jahre. Aber das wisst ihr ja wahrscheinlich. Ich gehe in die elfte Klasse. Ich spiele Schlagzeug in einer Band.“
„Wow“, sagten Mijo und Rina gleichzeitig.
„Das war auch immer mein Traum, mal in einer Rockband zu spielen“, meinte Mijo.
„Ehrlich?“, sagte Max begeistert.
„Na gut, Traum ist wahrscheinlich zu viel gesagt. Sagen wir mal, ich fand die Vorstellung ganz cool. Aber mir hat es immer an Talent und Ehrgeiz gefehlt, um das weiter zu verfolgen.“
„Hm“, machte Max, offensichtlich enttäuscht.
„Was macht ihr für Musik?“, fragte Rina.
„Wir spielen Rock und Punk. Irgendwann wollen wir auch eigene Songs spielen, aber… na ja, Songs schreiben ist echt hart. Spaceship Battlefield heißen wir.
„Okay“, sagte Rina lachend. „Ihr spielt nicht zufällig was von Bruce Springsteen? Mijo hier ist nämlich der weltgrößte Springsteen-Fan“, grinste sie.
„Das bezweifle ich“, wehrte Mijo ab.
„Bisher noch nicht“, meinte Max.
„Hast du denn eine Freundin?“, fragte Mijo.
Max verzog den Mund. „Sagen wir mal, ich arbeite dran.“
„Okay“, lachte Rina überrascht.
Max nahm noch etwas von der veganen Lasagne. „Darf ich euch noch was fragen?“
„Natürlich“, sagten Rina und Mijo nickend.
„Warum habt ihr mich zur Adoption freigegeben?“ Sie schluckten. „Ich meine das nicht böse, oder so, ich… ich würde es nur gerne wissen“, sagte Max. „Ich weiß, dass ihr noch jung wart, so alt wie ich...“ Er runzelte die Stirn. „Wow, echt so alt wie ich. Von daher… also ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn ich jetzt auch ein Kind bekommen würde.“
Rina und Mijo sahen sich an. „Ja, wir…“, begann Mijo, „wir waren einfach noch so jung. Das ist uns wirklich nicht leicht gefallen...“, Er fühlte, wie seine Stimme versagte, als das Bild von dem winzigen Max vor seinen Augen auftauchte. Rina sah ihn überrascht an. Er schluckte. „Wir hatten einfach die Befürchtung, dass wir dir nicht das Leben bieten können, dass du verdienst“, sagte er schließlich.
„Wir dachten, dass du es… dass du es bei Erwachsenen, dass du es vielleicht besser hast“, flüsterte Rina. „Es war nicht, weil wir dich nicht wollten… wir… wir wussten nur nicht, ob wir es können.“
Max nickte. „Was haben eure Eltern gesagt?“
Rina lachte auf. „Sie, ähm… sie waren… überrascht.“
„Das war nicht unbedingt das, was sie sich vorgestellt haben“, sagte Mijo vorsichtig.
„Wissen Sie, dass ich heute hier bin? Wohnen Sie in der Nähe?“ Rina schaute zur Seite.
Mijo ergriff das Wort. „Meine Mutter ist vor fünf Monaten gestorben. Krebs.“
„Oh, tut mir leid“, sagte Max, überraschend traurig.
„Danke. Na ja, und mein Vater… ich habe ihn seit 15 Jahren nicht mehr gesehen. Er… damals hatte meine Mutter zum ersten Mal Krebs und er ist damit nicht klar gekommen. Als ihm keine Ausreden mehr eingefallen sind, warum er nicht ins Krankenhaus kommen kann, ist er… ist er abgehauen.“
Max schaute entsetzt zurück. „Oh… das, das tut mir leid“, sagte er. Mijo nickte.
Rina holte tief Luft. „Meine Eltern wohnen noch in der Nähe. In Friedrichsberg.“ Friedrichsberg war ein Viertel am Rand von Töppingen. „Ich habe es ihnen noch nicht gesagt.“ Das überraschte Mijo. „Wir… im Moment ist die Lage etwas angespannt.“
„Wieso?“, fragte Max.
„Na ja, sie… Sie sind nicht so glücklich darüber, dass ich mich scheiden lasse.“
„Aber das hast du doch bestimmt nicht gewollt“, meinte Max.
Sie zuckte mit den Schultern. „Ja. Wahrscheinlich müssen sie sich einfach erst daran gewöhnen.“
Eine Weile hingen alle ihren Gedanken nach, bis Rina wieder das Wort ergriff: „Dürfen wir dich auch noch was fragen?“ Max nickte eifrig. „Warum wolltest du uns sehen? Ich meine… ich freue mich sehr darüber, wirklich.“ Ihre Stimme stockte. „Ich bin nur neugierig.“
Max nickte langsam. „Ich… also ich mag meine Eltern wirklich. Sie sind die besten“, betonte er. Rina und Mijo lächelten, oder versuchten es zumindest. „Es ist nur… es ist, als ob man ein Puzzle hätte, in dem ein paar Teil fehlen.“ Max zuckte die Schultern.
Rina nickte verständnisvoll. „Ich hoffe, das hat dich nicht so lange gequält.“
„Oh, nein“, sagte Max. „Mama und Papa haben mir erst so vor drei Jahren überhaupt gesagt, dass ich adoptiert bin.“
„Sie haben was?“, fragte Rina entsetzt. „Ich...“ Sie bemühte sich, Luft zu holen. „Ich dachte nur, dass es so üblich ist, dass man es den Kindern möglichst früh sagt.“
„Na ja, ich glaube, sie wussten nicht so richtig wie. Aber das ist schon okay. Irgendwie habe ich es schon geahnt, das war jetzt nicht der Schock meines Lebens. Ich meine, niemand in meiner Familie hat blaue Augen oder rote Haare. Damals haben sie mich aufgeklärt. Ich wusste natürlich schon über alles Bescheid. Und da haben sie mir es gesagt, dass… na ja, dass sie mich nicht gezeugt haben. Sie sind ein bisschen empfindlich bei Sexkram.“ Mijo nickte fassungslos.
Rina überlegte einen Moment. „Ich weiß nicht, ich weiß nicht, was du dir vorgestellt hast, wie… wie es weiter gehen soll.“ Plötzlich stiegen ihr Tränen in die Augen und sie presste die Hand vor den Mund.
Max blickte Mijo erschrocken an. „Ich glaube, was Rina sagen will, ist“, sprang er ein, „dass es immer einen Platz für dich in unserem Leben geben wird. Wenn du das möchtest.“ Rina nickte heftig.
Max sah sie überrascht an. „Danke“, sagte er leise.

Um neun Uhr nahm Max den Bus zurück nach Pauluswerder. Vorher tauschten sie Telefonnummern aus und beschlossen, sich bald erneut zu treffen.
„Das lief doch gar nicht so schlecht“, sagte Mijo, nachdem Max das Haus verlassen hatte.
Rina setzte sich an den Tisch und brach in Tränen aus.
„Rina, was...“ Er setzte sich neben sie und beugte sich zu ihr herüber, bis ihre Schläfen nur wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. „Rina, was ist denn los?“ Sie schluchzte. Mijo hob seine Hand, nahm sie zurück, und legte sie schließlich auf Rinas Schulter. „Rina.“
Sie schniefte. „Könntest du jetzt bitte gehen?“ Mijo zog seine Hand zurück.
„Sicher“, sagte er. Dann stand er auf und verließ das Haus.

Als er zu Hause ankam, putzte er sich die Zähne, ließ seine Kleidung im Wohnzimmer auf den Boden fallen und warf sich erschöpft aufs Bett. Mijo fragte sich, ob sich zu viele Gefühle gegenseitig neutralisieren, oder ob er überhaupt nicht mehr ins der Lage war, irgendetwas zu fühlen. Wahrscheinlich fühlte er etwas, aber er wusste nicht was. Er wusste nur, dass er gegenüber Rinas Tränen immer noch hilflos war. Sollte ich damit nicht umgehen können? Etwa einmal in der Woche brach einer seiner Klienten in Tränen aus. Am Anfang hat Mijo das noch beschämt, jetzt war es Routine, wie so vieles. Nur wenn Rina weinte, dann war er hilflos. Er erinnerte sich an den Moment, als sie ihm sagte, dass sie schwanger war. Wie sie auf dem Bett saß und weinte und wie er an der Wand stand und sich nicht bewegen konnte. Oder irgendetwas sagen konnte. Oder irgendetwas denken konnte. Wie er paralysiert an der Wand stand, bis Rina fragte, ob er verdammt noch mal auch eine Meinung zu dem Thema habe. Wie er seinen Mund öffnete, aber einfach kein Worte herauskommen wollten. Wie sie weinte und wie er sie in seinem Arm nehmen wollte und wie er es nicht tat, weil er paralysiert an der Wand stand und sich nicht bewegen konnte. Nun wollte er nichts lieber, als ihr zu sagen, dass er sich verändert hatte. Dass er nicht mehr derselbe war wie vor sechzehn Jahren. Dass niemand, der ein Elternteil in den Tod begleitet hat, jemals wieder derselbe Mensch sein konnte. Dass er bereit war für die Verantwortung. Nur warum bin ich dann so hilflos? Mijo fühlte sich wahnsinnig erschöpft, und doch konnte er lange nicht einschlafen.

Harald Fühner weinte. Mijo verbrachte den Großteil des Nachmittags bei ihm auf dem Sofa und reichte ihm Taschentücher. Wie die verdammten Niagarafälle. Harald und seine Freundin hatten sich getrennt. Mijo schämte sich, dass er so wenig Mitgefühl für Harald empfand. Natürlich tat er ihm leid, aber er war so erschöpft und überhaupt warum müssen sie jeden verdammten Monat Schluss machen? Mijo versuchte alles in seiner Macht stehende, damit Harald nicht wieder zur Flasche griff. Die Flasche. Die Büchse der Pandora. Die große Abrissbirne. Vielleicht würden sie ja wieder zusammenkommen, versuchte er es. Schließlich hatten sie sich doch schon häufiger versöhnt. Harald schwor, dass es dieses Mal anders war. Bitte nur kein Alkohol.

Es war schon kurz vor 19 Uhr, als er ins Büro zurückkehrte. Zu seiner Überraschung stand Rina vor der Tür. Sie trug ein schwarzes Kostüm und schwang ihre Aktentasche hin und her.
„Hey“, sagte sie. Mijo sagte nichts. Er schmollte und hasste sich dafür. „Tut mir leid, dass ich dich schon wieder so überrumple, ich mag es nur nicht, persönliche Dinge am Telefon zu besprechen.“ Sie schaute ihn erwartungsvoll an. Sie haben genau die gleichen Augen.
„Ich hoffe, du hast nicht allzu lange gewartet. Ich hatte noch einen Hausbesuch“, sagte er, während er die Tür öffnete. Sie schüttelte den Kopf. „Möchtest du reinkommen?“, fragte er schließlich. Sie nickte. Mijo ließ seine Tasche auf den Boden fallen. Mit der Hand zeigte er auf den Besucherstuhl. Rina setzte sich. Mijo stützte mit den Händen seinen Kopf ab.
„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte Rina.
Er lehnte sich zurück. „Ja, war nur ein langer Tag.“
„Kannst du denn gleich Feierabend machen?“
„Muss noch zwei Berichte schreiben.“ Rina nickte. „Ich will dich nicht lange aufhalten, ich… es tut mir leid. Dass ich dich Samstag praktisch rausgeworfen hab. Ich...“ Sie schluckte und starrte für einen Moment an die alte, fleckige Decke. „Es war einfach alles zu viel.“
Mijo fühlte, wie sich sein Unmut langsam auflöste. „Schon in Ordnung. Es war…“ Er verschränkte seine Arme hinter dem Kopf. „Außergewöhnlich.“
„Ja“, lachte Rina. „Es war der schönste und der furchtbarste Moment meines Lebens.“ Wieder stiegen ihr Tränen in die Augen. Sie presste ihre Finger aufs Gesicht. „Oh man, ich wünschte, ich könnte endlich mit dieser elenden Heulerei aufhören.“
„Manchmal muss es eben raus.“
„Das musst du gerade sagen.“
Mijo hielt die Luft an. „Du kannst mir glauben, dass ich im letzten Jahr so manche Träne vergossen habe.“
Rina blickte erschrocken auf. „Oh, shit, tut mir leid. Tut mir so leid.“
„Macht nichts.“
„Doch. Arschloch-Alarm hoch Zehn. Tut mir so leid. Ich glaube, ich bin im Moment einfach nicht ich selbst.“ Sie seufzte. „Hast du vielleicht eine Zigarette für mich?“
Mijo holte die Schachtel aus seiner Jackentasche und reichte sie Rina. Er entzündete ihre und steckte sich selbst eine an. Dann kramte er einen Kaffeebecher aus seiner Schublade und stellte ihn auf die Schreibtischkante. „Hier. Normalerweise rauche ich nicht im Büro.“
„Sorry“, sagte sie und nahm einen tiefen Zug.
„Schon okay. Außergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen, heißt es nicht so?“
Sie lächelte und aschte in die Tasse. „Ich glaube, ich habe seit der Uni nicht mehr geraucht.“

Er schaute ihr zu, wie sie einen weiteren Zug nahm. Er war enorm erregt. Er dachte an ihren zweiten, ihren letzten Sommer. Tropfen liefen über Rinas Gesicht. Er wusste nicht, ob es Wasser oder Schweiß war. Sie lachte. Er drückte ihren Körper an sich. Sie umarmte ihn fest. Das Seewasser schlug an ihre Körper. Er löste die Umarmung leicht, wanderte mit der Hand unter Wasser und berührte ihre Schamlippen. Sie schrie auf und kicherte. Er lachte. „Du!“, rief sie und boxte gegen seine Schulter. „Ich dachte schon, es wäre ein Fisch.“ Er grinste. Sie küsste ihn.

„Darf ich dich was fragen?“, sagte er nach einer Weile.
Rina lachte müde. „Immer diese Frage.“ Noch ein Zug. „Klar, schieß los.“
„Was ist mit dir und deinen Eltern?“
Sie nahm einen letzten, tiefen Zug und drückte die Zigarette aus. „Lange haben wir so gut wie gar nicht miteinander gesprochen. Praktisch das ganze Studium hindurch. In den letzten Jahren ist es etwas mehr geworden. Sie werden ja auch nicht jünger. Mit Mamas Rheuma ist es nicht so toll, das schränkt sie ziemlich ein. Sie brauchen halt manchmal Hilfe.“
„Verstehe.“
„Aber dann vor einem Jahr oder so, das war so drei Monate nach der Geburt meiner Nichte, waren Lorenz und ich zum Essen bei ihnen und sie haben gesagt, ob wir nicht auch mal langsam über Kinder nachdenken wollen.“
„Autsch.“
Sie nickte. „Ich bin so wütend geworden! Sie haben mir über Monate eingetrichtert, dass ich mein Kind weggeben muss, weil ich nicht in der Lage wäre, mich um es zu kümmern. Und dann, nachdem sie mir erfolgreich eingeredet haben, dass ich die weltschlechteste Mutter wäre, kommen sie mit so was.“
„Was hast du gemacht?“
„Ich habe sie angeschrien, dass sie sich zur Abwechslung einfach mal aus meinem Uterus heraushalten sollen.“
Mijo lachte. „Stark.“
Sie lachte auch - kurz. „Im Moment ertrage ich es jedenfalls nicht, sie zu sehen.“
Rina lehnte sich zurück und schaute ihn an. Er blickte fragend zurück. „Er sieht aus wie du“, sagte sie schließlich.
Mijo lachte. „Er hat deine Augen.“
Rina zuckte die Schultern. „Was hältst du von ihm?“, fragte sie.
Wie beschreibt man sein fremdes Kind in seinem Satz? „Er ist toll“, sagte Mijo einfach.
Rina strahlte. „Ja.“
„Und höflich.“ Rina nickte. „Wohl ganz gut erzogen“, meinte er. Sie lachte höhnisch. „Was denn?“
„Es ist nur… kannst du es fassen, dass sie ihm dreizehn Jahre nichts gesagt haben?“ Sie biss sich auf die Lippe.
„Ja, gut, das ist… scheiße. Keine Ahnung, warum sie das gemacht haben. Vielleicht wussten sie einfach nicht wie.“
„Vielleicht. Aber… die Sachbearbeiterin hat gesagt, dass man es den Kindern heutzutage von klein auf erzählt. So hatte ich mir das einfach nicht vorgestellt. Aber man unterschreibt die Papiere und hat nichts mehr zu melden. So ist das wohl“, sagte sie bitter.
„Immerhin scheint er es ganz gut verkraftet zu haben“, versuchte es Mijo als Trost.
Rina schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht. Hoffen wir mal, dass es so ist.“ Sie trommelte mit ihren Zeigefingern auf ihre Oberschenkel. „Bist du weiter dabei?“
„Natürlich“, sagte Mijo.
Sie nickte und stand auf. „Okay. Ich sollte dich jetzt endlich weiterarbeiten lassen, ich habe dich schon lange genug aufgehalten.“ Mijo seufzte. „Wie auch immer… es tut mir leid“, sagte sie.
„Mir tut es auch leid.“
„Was denn?“
Er fühlte eine Enge in seiner Brust. „Alles“, sagte er. „Wie es damals gelaufen ist.“
„Scheiße, Mijo“, rief sie und begann zu zittern. Er sprang auf und legte seine Hände auf ihre Schultern.
„Ernsthaft. Es tut mir leid.“
Sie schlug seine Arme weg. „Ich kann jetzt nicht darüber sprechen. Nicht so. Ich ruf dich an“, sagte sie und rannte aus dem Büro. Mijo setzte sich an den Schreibtisch und ließ seinen Kopf auf die Tischplatte fallen.

Er brauchte zwei Stunden, um seine Berichte zu schreiben. Anstatt sich gleich auf den Heimweg zu machen, fuhr er zum Töppinger See. Die Sonne war fast untergegangen und die Wolken leuchteten feuerrot. Die Laternen entlang des Uferwegs brannten bereits und es waren nur noch wenige Menschen unterwegs. Ein paar Leute mit Hunden, ein paar Jogger, ein paar Pärchen und ein paar Leute mit Bierflaschen, die einem unsichtbaren Gegenüber auf Parkbänken zuprosteten. Mijo zündete sich eine Zigarette an. Wie oft hatte er im Krankenhaus auf den feuerroten Himmel geschaut. Die Ärzte hatten ihr ein Zimmer mit Seeblick gegeben. Mijo hatte sie in ein Hospiz bringen wollen, aber alle Plätze waren belegt, also bekam sie das Zimmer mit Seeblick. Sie war ruhig, er war ruhig. Nicht so wie in der Woche zuvor, als sie ihm gesagt hatte, dass sie keine lebensverlängernden Therapien wollte und er an ihrem Bett in Tränen ausgebrochen war. Er hatte es die ganze Zeit gewusst, aber er hatte es nicht wahrhaben wollen. Erst als sie es aussprach, wurde es wahr. Er starrte auf den feuerroten Himmel und dachte an das alte Gedicht von Dylan Thomas, Do not go gentle into that good night, rage, rage against the dying of the light. Früher hatte er imaginäre Wortgefechte mit seiner Mutter geführt, in denen er sie aufforderte, zu kämpfen. Erst jetzt hatte er verstanden, was für ein Geschenk es war, wenn man nicht kämpfen musste, wenn man kampflos und in Frieden gehen konnte. Er war froh, dass sie diesen Abschied hatte, und dass er diesen Abschied mit ihr hatte. Nicht so wie bei seinem Vater oder Rina oder dem kleinen rothaarigen Jungen, die von der einen auf die andere Sekunde aus seinem Leben verschwunden waren. Er schaute hinaus auf den See und den roten, zusehends blasser werdenden Himmel. Seine Mutter schlief. Er setzte sich zu ihr und nahm ihre papierne Hand. Als das Licht starb, starb auch sie.

Mijo war spät dran. Max wollte sie sehen und er war spät dran. Wenngleich er bei ihrem ersten Treffen gesagt hatte, dass er sie wiedersehen wolle und versprochen hatte, sich zu melden, kam es Mijo fast wie ein kleines Wunder vor, als er die Einladung erhielt. Max‘ Band nahm als eine von fünf an einem Nachwuchswettbewerb teil und er hatte Mijo und Rina gefragt, ob sie nicht kommen wollten. Die ganze Woche hatte Mijo sich nach diesem Abend gesehnt und jetzt war er spät dran.
Rina war schon da. Allein stand sie an einem Stehtisch im Veranstaltungssaal des Pauluswerder Jugendzentrums und nippte an einem Glas Ginger Ale. Sie trug zur Abwechslung eine Jeans und eine locker sitzende, pfirsichfarbene Bluse. Ihr blondes Haar trug sie offen. Es war leicht gewellt und sah aus wie frisch gewaschen. Mijo hechtete an den Tisch. Sie roch, als käme sie gerade aus der Badewanne. Ich dachte schon, es wäre ein Fisch. Seit ihrem Besuch in seinem Büro hatten sie abgesehen von einer WhatsApp-Nachricht nicht miteinander gesprochen.
„Hey“, sagte Mijo, ein bisschen atemlos. Rina schaute sich überrascht um. „Haben sie schon gespielt?“
„Noch nicht.“
„Hast du ihn schon gesehen?“
„Noch nicht.“ Mijo nickte erleichtert.
„Ich dachte schon, du kommst nicht mehr“, meinte Rina.
„Ich hatte noch einen Hausbesuch in Beiersfelde, der leider etwas länger gedauert hat als geplant.“
„Am Samstag?“
„Lässt sich leider manchmal nicht vermeiden.“
„Und? Was hat er angestellt, dein Proband?“, fragte sie, plötzlich ziemlich neugierig.
„Haufenweise Sachen im Internet bestellt und nicht bezahlt.“
Sie stöhnte. „Die Kriminellen werden auch nicht schlauer. Oder origineller. Langweilt dich das nicht?“
Mijo lächelte. „Die Straftaten sind vielleicht dieselben, aber die Menschen sind alle unterschiedlich. Mich haben die Menschen schon immer mehr interessierte als die Rechtslage.“ Rina nickte und lächelte leicht, fast ein bisschen schelmisch. „Ich habe versucht, mir grob einen Überblick über seine Finanzen zu verschaffen, aber es ist ein gigantisches Chaos. Da muss auf jeden Fall ein Schuldnerberater an.“
„Na ja, Hauptsache, du hast jetzt Feierabend und bis bereit für den Auftritt von“ - ihre Stimme rutschte eine Oktave tiefer - „Spaceship Battlefield“. Sie lachten beide.
„Ich hoffe nur, die Musik ist nicht so martialisch wie der Name“, meinte Mijo. Plötzlich ging das Licht aus.
„Es geht los!“, flüsterte Rina aufgeregt und boxte gegen Mijos Arm. Du.

Spaceship Battlefield waren ein Quintett, das neben Max aus einem Sänger, einem Gitarristen, einem Keyboarder und einem Bassisten bestand. Die ersten drei Songs waren ziemlich banale 08/15-Rocknummern, die Mijo nicht kannte. Es verschaffte ihm allerdings eine große Genugtuung, dass Max der beste Musiker der Band war. Und mehr noch: Zum ersten Mal in seinem Leben war er regelrecht stolz. Die Songs klangen ziemlich holprig, doch Max trommelte tapfer gegen die Schwächen seiner Bandkollegen an. Dann stimmte der Keyboarder als vierten Song „Dancing in the Dark“ an und Mijo fiel aus allen Wolken. Er glühte geradezu vor Überraschung und Freude und Aufregung, dass er nur am Rande wahrnahm, dass der Sänger nicht sang, sondern kreischte, und der Gitarrist außer dem einen oder anderen schwungvoll gespielten Akkord nichts beizutragen hatte. Immerhin: Der Keyboarder spielte ganz passabel und Max machte ordentlich Dampf.
„Das war dann wohl für dich“, grinste Rina.
Mijo glühte nach wie vor. Der fünfte Song war ihm ebenfalls fremd. Mit einer knackigen Version von „Blitzkrieg Bop“ traten Spaceship Battlefield schließlich ab.

„Ihr seid ja gekommen!“, rief Max freudig, als er in der Umbaupause zu Rina und Mijo an den Tisch kam.
„Na klar, was denkst du denn?“, erwiderte Rina und boxte ihn leicht gegen die Schulter.
„Natürlich sind wir gekommen“, meinte Mijo.
„Und? Wie hat es euch gefallen?“
„Du warst echt gut“, sagte Rina.
„Das Highlight war natürlich der Springsteen-Song“, sagte Mijo.
„Ja“, lachte Max. „Ich hab mir ein paar Sachen von ihm angehört, nachdem ihr davon erzählt habt, und es sind schon einige coole Songs dabei. Wir hatten nur nicht so viel Zeit zum Üben.“ Er runzelte leicht die Stirn.
„Nun, dafür klang es gar nicht schlecht“, versuchte sich Mijo diplomatisch.
Etwas anderes hatte allerdings Max‘ Aufmerksamkeit auf sich gezogen. „Bin gleich wieder da!“, rief er und rannte zu einem Mädchen mit langem, blondem Pferdeschwanz herüber.
„Ha“, machte Rina. „So schnell ist man abgeschrieben.“
„Was erwartest du? Er ist sechzehn. In dem Alter hatte ich auch nur Augen für Mädchen mit langen, blonden Haaren.“
„Ha“, machte sie erneut. Er erlaubte es sich zu grinsen. Sie verdrehte die Augen, musste aber schließlich lachen.

Nach ein paar Minuten kam Max zurück. „‘Tschuldigung.“
„Kein Problem“, sagte Mijo. „Ist das die Freundin, an der du arbeitest?“
Max‘ Augen weiteten sich entsetzt und seine Wangen nahmen fast die Farbe seiner Haare an. Offenbar hatte er seine Bemerkung vom ersten Treffen schon wieder vergessen. „Ja, so in etwa“, meinte er schließlich.
„Sie ist hübsch“, sagte Rina.
„Uh-huh“, murmelte Max peinlich berührt.
Rina versuchte, das Thema zu wechseln. „Oh, hey, sind deine Eltern auch hier?“
„Meine Eltern?“, fragte Max überrascht zurück, während die Farbe schlagartig aus seinem Gesicht verschwand. „Nein. Nein, sie sind auf einem Geburtstag“, murmelte er.
„Ach so. Na ja, vielleicht lernen wir sie ja mal kennen“, sagte Rina.
„Klar, sicher“, erwiderte Max. Er schaute sich nervös um. „Ich, äh… die Pause ist gleich vorbei. Ich geh mal wieder zu meinen Kumpels, ist das okay?“ Rina und Mijo nickten. „Okay“, sagte er, fast ein bisschen erleichtert, und lief los. Zwischendurch drehte er sich noch einmal abrupt um. „Bitte stimmt für uns!“, rief er.

Der Richter stöhnte. Der Staatsanwalt stöhnte. Mijo kaute nervös auf seiner Lippe herum. Dies war eins vor den Verfahren, das eigentlich keiner führen wollte. Das Ganze wäre niemals angeklagt worden, wenn Martin Dreier nicht so ein langes Vorstrafenregister hätte. Trotz all der Voreintragungen hatte er sich entschieden, unbedingt eine Schachtel Zigaretten zu wollen, obwohl ihm das Geld dafür fehlte. Und so musste Mijo berichten. Alles hatte so gut angefangen, bis Martin plötzlich nicht mehr auf seiner Arbeitsstelle auftauchte und nur mit Verzögerung und vielen, vielen Ermahnungen seine Sozialstunden ableistete. Dass er irgendwann nicht mehr zur Therapie ging. Und dass er schließlich auch die Treffen mit Mijo versäumte. Dass wenn er ihn dann erreichen konnte, er behauptete, dass Treffen verschlafen zu haben, selbst wenn es 16 Uhr am Nachmittag war. Dass Mijo es nicht mit Sicherheit sagen konnte, aber dass er das Gefühl hatte, dass Martin wieder Drogen nahm. Mijo wusste, dass er gegen einen übermächtigen Gegner kämpfte, und doch fühlte es sich an wie sein Versagen.

Hoffe, er hat diesmal mehr Zeit, schrieb Rina. Sie wollten Max nicht unter Druck setzen, aber sie hatten sich doch erhofft, ihn mehr als ein paar Minuten zu sehen, wenn sie sich schon durch fünf mittelmäßig begabte Bands kämpfen mussten. Immerhin hatte er sie eingeladen, sagte Mijo sich vor. Und er hatte vorgeschlagen, sich am Sonntagnachmittag zu treffen. Sie einigten sich auf die Promenade. Mijo war ein wenig ernüchtert, als er die hunderten von Menschen sah, die sich am Ufer des Sees entlang schlängelten. Es war kein Wölkchen am Himmel und das Wasser des Sees funkelte, als ob jemand Diamanten darüber gestreut hatte.
„Ich hoffe, du bist nicht enttäuscht über den dritten Platz“, sagte Mijo.
„An uns lag es jedenfalls nicht“, fügte Rina hinzu.
„Oh, nein“, sagte Max. „Dritter ist okay. Letzter wäre peinlich gewesen.“ Sie starrten auf das funkelnde Wasser.
„Und was machen wir jetzt?“, fragte Rina.
„Wie wäre es mit einem Eis?“, schlug Mijo vor. „So was machen Eltern doch, oder? Den Kindern ein Eis kaufen.“ Max sah ihn entsetzt an, dann drehte er den Kopf weg und schluckte heftig. „Ich...“, stammelte Mijo hilflos. Er sah zu Rina herüber, die ebenso hilflos die Schultern zuckte. „Tut mir leid, Kumpel, das sollte nur ein Scherz sein“, versuchte Mijo es. Rina legte ihren Arm um ihn und drückte ihn leicht an sich.
„Alles okay“, sagte Max mit belegter Stimme. „Ich w...weiß auch nicht, was los ist. Ich, ähm, es ist einfach ein bisschen ungewohnt.“
„Ja, das glaube ich“, sagte Rina.
Max wischte sich über das Gesicht. „Schon okay, lasst uns ein Eis essen.“
Während Mijo und Rina das Eis holten, sicherte Max sich eine Bank.
„Ach, so etwas sollte man viel öfter machen“, sagte Rina, als sie sich setzte.
„Was macht ihr denn so in eurer Freizeit, wenn ihr nicht gerade mit mir abhängt?“, fragte Max, nun deutlich entspannter.
„Tja, das mit der Freizeit ist immer so eine Sache. Ich weiß auch nicht… lesen. Musik hören. Das Übliche halt“, sagte Mijo.
„Im Herbst und Winter stricke ich ganz gerne, aber im Sommer...“, meinte Rina etwas ratlos.
Hm“, machte Max.
„Was ist denn los?“, fragte Rina.
„Ach, ich… ich weiß auch nicht. Ich hatte gehofft, dass wir irgendwas gemeinsam haben.“
„Na ja, immerhin mögen wir alle Rock‘n‘Roll“, sagte Mijo.
„Ja, das schon.“ Er verzog seinen Mund. „Es ist nur… ich interessiere mich gar nicht für dieselben Dinge wie meine Eltern. Sie machen Radtouren und sind in der Kirche und so was.“
Rina gab ein leicht schauderndes „Hm“ vor sich.
„Aber nur, weil ihr nicht dieselben Hobbys habt, heißt das ja nicht, dass du nichts von ihnen hast. Du wärst bestimmt nicht du, wenn sie dich nicht auf eine bestimmte Weise erzogen hätten. Sie haben genauso einen Anteil an dem, was du bist, wie wir mit unseren Genen“, sagte Mijo, und fügte traurig hinzu: „Vielleicht sogar noch mehr.“ Rina biss sich auf den Finger.
Max zuckte die Schultern. „Ja, wahrscheinlich.“
„Was wir auf jeden Fall gemeinsam haben, ist unser Frauengeschmack“, grinste Mijo.
„Oh man!“, rief Max und verdrehte die Augen, während seine Wangen rot anliefen.
„Hört nicht auf den Spinner“, sagte Rina.
„Und wenn du deine Stirn runzelst, dann siehst du genauso aus wie Rina“, meinte Mijo weiter.
„Echt?“, fragte Max erstaunt. Auch Rina sah ihn überrascht an.
„Jep. Ohne Frage.“
Plötzlich klingelte Rinas Handy. „Oh, nein“, flüsterte sie.
„Alles in Ordnung?“, fragten Mijo und Max fast gleichzeitig.
„Es ist Lorenz.“ Sie seufzte. „Ich geh da kurz ran, ich hab ihn schon die ganze Woche hingehalten“, meinte sie und stand auf.
„Lorenz“, sagte Mijo und schüttelte den Kopf.
„Eifersüchtig?“, fragte Max grinsend.
„Na hör mal.“
„Nur weil wir ja denselben Frauengeschmack haben.“
Mijo wuschelte mit der Hand durch Max‘ Haare. „Hey, vorsichtig. Das ist ein Gesamtkunstwerk“, sagte er mit gespieltem Ernst und strich seine Haare glatt. „Also?“
„Also was?“
„Du und Rina.“
„Was ist mit mir und Rina?“
„Ich dachte ja nur… sie lässt sich scheiden, du bist Single… und ihr versteht euch doch gut. Vielleicht kommt ihr euch ja noch ein bisschen näher.“
Mijo lächelte traurig. „Nein, der Zug ist abgefahren.“
„Aber wieso?“, fragte Max erstaunt.
„Es ist einfach zu viel passiert zwischen uns.“
„Aber was denn?“
„Ich… ich hab mich nicht besonders toll verhalten. Damals. Vorsichtig ausgedrückt.“
„Aber was du denn gemacht?“
Mijo starrte auf den See hinaus. „Nichts. Ich habe nichts gemacht.“

Nach all den Jahren war Mijo überzeugt, dass Rina das Kind immer hatte behalten wollen, dass sie nur ein wenig Unterstützung brauchte, weil sie es allein nicht konnte. Aber fast alle waren außer sich. Nur Mijos Mutter sagte, dass sie es schon irgendwie hinkriegen würden. Mijos Vater explodierte förmlich und forderte, dass sie es „wegmachen“ ließe, ungehindert der Tatsache, dass es dafür bereits zu spät war. Mijo war froh, dass ihnen wenigstens diese Entscheidung erspart geblieben war. Rina Eltern konnten sich nicht um das Kind kümmern. Sagten sie. Sie konnten es sich nicht leisten. Sagten Sie. Rinas Mutter arbeitete zwar nicht, aber ihr Vater war Buchhalter. Mijo hatte nicht den Eindruck, dass die Tierners den Gürtel besonders eng schnallen mussten, nicht im Vergleich zu seiner Familie. Aber sie sagten, dass sei es sich nicht leisten können. Rinas Mutter konnte sich auch nicht kümmern, wegen des Rheumas. Das stimmte vielleicht. Rina müsste die Schule abbrechen. Wollte sie das wirklich? Wovon sollte sie leben? Sozialhilfe? Da würde sie niemals wieder raus kommen. Und überhaupt, sie und Mijo waren einfach noch viel zu jung. Sie waren noch selbst Kinder, sie hatten nicht die geringste Ahnung, was es bedeutete, ein Kind großzuziehen. Das stimmte vermutlich.

Mijo sagte nichts. Er konnte Rina nicht sagen, dass er sich nicht bereit für das Kind fühlte. Also sagte er nichts. Er ließ die Erwachsenen sprechen bis auch Rina der Überzeugung war, dass sie das Kind weggeben mussten, wenn es nicht bei zwei armen, überforderten, unfähigen jungen Eltern aufwachsen sollte. Zumindest dachte er, dass Rina überzeugt wäre. Es dachte es noch, als sie ihn bei ihrem letzten Treffen am 23. Mai anschrie. Erst viele Wochen später, als er begriff, dass er sie nicht wiedersehen würde, nicht für sechzehn lange Jahre, verstand er, dass er sich geirrt hatte.

Rina setzte sich zwischen Mijo und Max auf die Bank. „Alles in Ordnung?“, fragte Mijo, während sie ihr Handy in ihre Handtasche steckte.
„Ja, es ist nur… er möchte das gerne mit der Wohnung klären“, antwortete sie niedergeschlagen.
Mijo legte sein Hand auf ihre Schulter. „Tut mir leid“, sagte er. Sie nickte. „Kannst du keinen Kredit aufnehmen?“
„Vielleicht.“
„Könnte er dich denn auszahlen?“
Sie zuckte die Schultern. „Er könnte sich bestimmt was von seinen Eltern leihen.“
Mijo seufzte. „Großartig.“
Rina ergriff das Eis, dass Max für sie gehalten hatte, und leckte mit ihrer kleinen pinken Zunge an einer Kugel Stracciatella. „Aber es ist Sonntag. Ich will jetzt nicht darüber reden.“
Max sah stirnrunzelnd zwischen Rina und Mijo hin und her. Plötzlich hatte er einen Einfall: „Wann sehe ich denn deine Wohnung?“, fragte er Mijo.
„Meine Wohnung?“
„Ja. Rinas kenne ich ja schon. Was ist mit deiner?“
„Das… lässt sich sicher irgendwann arrangieren.“
„Warum nicht heute?“
„Also, ich weiß nicht“, wehrte Mijo ab.
„Ach, komm schon“, bat Max.
„Ich weiß auch gar nicht, wo du wohnst“, warf Rina neugierig ein. Sie und Max lächelten sich zu.
„Es ist überhaupt nicht aufgeräumt!“
„Macht nichts. Mein Zimmer ist auch nie aufgeräumt“, sagte Max.
„Noch eine Gemeinsamkeit“, meinte Mijo.

„Ihr könnt nicht sagen, ich hätte euch nicht gewarnt“, sagte er, als er knapp eine Stunde später die Tür zu seiner Wohnung öffnete.
„Hm“, machte Rina. „Sehr… einfarbig. Wie lange wohnst du schon hier?“
„Gut drei Monate.“
„Und du hattest noch keine Zeit, die Umzugskartons auszupacken?“
„Es gibt sehr viele Ex-Kriminelle, die meiner Unterstützung bedürfen“, versuchte Mijo sich zu rechtfertigen.
„Mich stört‘s nicht“, sagte Max und setzte sich an den Esstisch, das einzige Möbelstück im Wohnzimmer neben einem Sofa und einem minimal eingeräumten Bücherregal.
„Bitte“, sagte Mijo zu Rina und zog den Stuhl vor, bevor er die Akten vom Esstisch räumte und sie auf das Sofa warf.
„Und du kümmerst dich um andere“, meinte Rina kopfschüttelnd.
„Es ist viel einfacher, sich um andere zu kümmern“, sagte Mijo und setzte sich zu ihnen. „Ist es noch zu früh fürs Abendessen?“, fragte er.
„Es ist nie zu früh fürs Abendessen“, sagte Max.
„Hast du überhaupt einen Kühlschrank?“, fragte Rina.
„Er steht in der Küche. Er ist nichts drin außer einem Liter Milch, einer angebrochene Packung Käse, einem angebrochenen Paket Butter und einer Packung Toast, aber er steht in der Küche.“
„Meine Güte“, zischte Rina. Max lachte.
„Es gibt einen sehr gute Pizzeria nebenan“, sagte Mijo.
„Oh ja, Pizza!“, rief Max.
„Hätten wir das ja geklärt“, sagte Mijo.

Mijo besorgte drei Pizzen. „Sorry“, sagte Max, während er auf einem Stück Salamipizza kaute, als sein Smartphone wiederholt vibrierte. „Ich antworte kurz.“
„Was seid ihr alle beschäftigt“, frotzelte Mijo.
„Widerwillig“, erwiderte Rina.
„Die Band“, sagte Max knapp während er in atemberaubenden Tempo etwas in sein Handy hackte.
„Und? Wie war deine Woche so?“, fragte Rina Mijo.
„Frag nicht.“
„Doch so gut.“
„Ach, es war nur dieser eine Klient, über den ich berichten musste. Er hat eine Schachtel Zigaretten mit der EC-Karte bezahlt, nur dass sein Konto nicht ausreichend gedeckt war.“
„Oh man“, stöhnte Rina. „Da ist ja einer schlimmer als der andere. Und was hat es gegeben?“
„Ein Monat ohne. Aber er steht unter dreifacher Bewährung.“
„Scheiße ,Mijo“, sagte Rina. „Weshalb Bewährung?“
„BTM, Diebstahl, das Übliche“.
Sie strich über seine Schulter. „Nimm‘s nicht persönlich, okay? Es ist nicht deine Schuld.“ Mijo verzog den Mund.
Max blickte von seinem Smartphone auf. „Was ist los?“
„Ach, einer von meinen Klienten muss ins Gefängnis.“
„Drogen“, ergänzte Rina.
„Was für Drogen?“
„Marihuana. Hauptsächlich.“
Max brummte. „Und dafür buchten sie ihn ein? Ich finde ja, man sollte es legalisieren.“
„Das ist schon nicht ohne“, sagte Mijo.
„Wieso? Ich hab auch Kumpel, die kiffen, und die sind ganz normal drauf.“
„Okay, das habe ich jetzt nicht gehört“, sagte Mijo und atmete tief durch. Plötzlich stutzte er: „Kiffst du denn auch?“
Max zuckte die Schultern. „Nein“. Es klang fast wie eine Frage.
„Bitte, Max, damit ist nicht zu spaßen.“
„Ich mach doch gar nichts!“, wehrte er ab.
„Ich will ja nur sagen… ich hab Leute, die haben als Teenager angefangen zu kiffen und sind jetzt regelmäßig in der Psychiatrie, weil sie denken, dass ihre toten Angehörigen mit ihnen sprechen oder Kobolde unter ihrem Bett hausen.“
Max starrte Mijo einigermaßen entsetzt an, versuchte aber, sich nichts anzumerken zu lassen. „Ja, toll, das sind dann irgendwelche Ausnahmen.“
„Du weißt nie, ob dir das nicht auch so ergeht. Ich möchte nicht den Moralapostel spielen, wirklich nicht. Mir wäre nur einfach wohler, wenn du das nicht machen würdest. Zumindest nicht in den nächsten paar Jahren“, sagte Mijo emphatisch. Rina schluckte.
„Okay,“ erwiderte Max, überraschend einsichtig.

Um halb acht verabschiedete Max sich. „Ich sollte wohl auch gehen“, sagte Rina kühl, als Mijo die Pizzakartons wegräumte.
„Stimmt was nicht?“, fragte Mijo irritiert.
Sie biss sich auf die Lippe. „Du scheinst ja große Angst zu haben, dass Max in der Psychiatrie landet.“ Sie klang erbost.
„Fändest du es etwa gut, wenn er kiffen würde?“, fragte Mijo verwundert.
„Nein, natürlich nicht.“
„Wo ist dann das Problem?“
„Ist es wegen mir? Denkst du, ich hab ihm das Verrücktheits-Gen vermacht?“
Mijo sah sie erstaunt an. „Nein. Niemals.“ Er seufzte. „Es ist wegen mir.“
Rina blickte erstaunt zurück. Sie setzten sich beide an den Tisch, und Mijo zündete sich eine Zigarette an.

Er erzählte ihr von dem Abend vor etwa zehn Jahren, als er auf Freddy Steffens‘ Geburtstagsparty eingeladen war. Es gab Gin, der bei ihnen damals schwer in Mode war, und Wodka, und Jägermeister, Sekt für die Damen und Bier sowieso. Und vielleicht auch noch ein paar andere Getränke, an die Mijo sich nicht mehr erinnern konnte. Er trank Gin, und Wodka, ein bisschen Jägermeister und zwischendurch auch mal ein Bier. Nur den Sekt ließ er aus. Der war schließlich für die Frauen. Es war deutlich nach Mitternacht, als er nach draußen auf den Hinterhof trat. Er stolperte über eine Stufe und fiel zu Boden. Er stand auf und steckte sich eine Zigarette an. Ich sollte aufhören zu trinken, dachte er sich. Er nahm einen tiefen Zug, und plötzlich fiel ihm etwas ein. Ich muss nicht aufhören zu trinken. Ich muss nicht aufhören, wenn ich es nicht will. Es war der großartigste Gedanke, den er jemals gehabt hatte. Er fühlte sich so erleichtert. Plötzlich schienen alle Sorgen von ihm abgefallen zu sein. Er schaute an der grauen Hochhauswand hinauf. Die ganzen letzten Wochen und Monate hatte er das Gefühl, in einer Sackgasse zu stehen, vor einer Mauer, die so hoch und grau und unüberwindlich war wie die Hochhauswand. Aber jetzt war es egal, weil er nicht aufhören musste zu trinken. Es ist so einfach. Ich muss nicht aufhören zu trinken, wenn ich es nicht will. Er drückte die Zigarette aus und ging wieder hinein. Er trank Gin, und Wodka, und Jägermeister.

„Ich bin dann auf der Intensivstation wieder aufgewacht. Es war irgendwas bei drei Promille.“
Rina sah ihn wie erstarrt an. Ihre meerblauen Augen glitzerten. „Mijo“, flüsterte sie schließlich.
„Ich weiß auch nicht, was da in mich gefahren ist“, lachte er beschämt. „Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass alles über mich einstürzt. Das abgebrochene Jura-Studium, die offizielle Scheidung meiner Eltern, alles.“
Rina nickte. „Trinkst du deshalb nicht so viel?“
„Ja. Das, ähm… das war ein ziemlich finsterer Ort, an dem ich nicht unbedingt zurückkehren möchte.“
Sie wischte sich ein paar Tränen aus dem Gesicht. „Tut mir leid“, sagte sie.
„Muss es nicht. Ich wollte nur… es war nicht wegen dir. Sondern wegen mir. Und wegen der ganzen Problemfälle, die ich tagtäglich sehe. Manchmal fällt es schwer, sich zu erinnern, dass die meisten damit umgehen können.“
„Trotzdem hätte ich das nicht sagen dürfen.“ Sie lachte bitter. „Manchmal denke ich, ich bin die Einzige, der das mit Max irgendetwas ausmacht. Ich wollte nicht glauben, dass es für dich auch schwierig war.“
Er lächelte leicht. „Na ja, woher solltest du es auch wissen? Ich hab mich ja ziemlich raus gehalten.“
Sie schniefte. Wieder wischte sie sich Tränen aus dem Gesicht. „Trotzdem. Ich wünschte, ich hätte dich nicht so angeschrien. Dass dir das Kind am Arsch vorbei geht und was ich alles gesagt habe.“
Mijo schluckte. „Schon okay“, flüsterte er. „Ich dachte wirklich, dass mir das nicht so viel ausmachen würde, bis… na ja, bis er dann da war.“ Er nahm ihre Hände, die sie in den Schoß gelegt hatte. „Es tut mir alles so leid, Rina. Es tut mir so leid, wie ich mich verhalten haben. Ich wünschte… Ich wünschte, wir wären nicht so jung gewesen. Heute wäre alles viel leichter.“ Sie lächelte.

Harald Fühner hatte nicht zu Flasche gegriffen. Mijo machte sich keine Illusionen, dass das sein Verdienst war, sondern eher der Tatsache geschuldet, dass Harald wieder eine neue Freundin hatte. Wie machen sie das nur immer? Jedenfalls hatte Harald keinen Tropfen mehr angerührt. Seine Therapie wollte er fortsetzen, aber er hatte keine Tropfen mehr angerührt. Er hatte auch keine Straftaten mehr begangen, niemanden geschlagen, keine Autos zertrümmert, nichts dergleichen.
„Das war‘s dann wohl“, sagte Mijo, als Harald und seine neue Freundin, die schon seit zehn Jahren trocken war, in seinem Büro standen. Er hatte ein gutes Gefühl. Das war nicht bei jedem so, aber bei Harald hatte er ein gutes Gefühl.
„Danke für alles, Mijo“, sagte Harald und reichte ihm die Hand.
„Gern geschehen. Ich wünsch dir alles Gute für die Zukunft. Und immer schön sauber bleiben.“ Harald salutierte.
„Ich pass schon auf ihn auf“, sagte die Freundin.
Die beiden lachten und sahen sich an wie zwei frisch verliebte Teenager. Wie großartig es war, eine neue Chance zu bekommen.

Ohne große Diskussionen hatten sie sich diesmal darauf geeinigt, dass sie bei Rina zu Abend essen würden. Mijo war schon etwas früher gekommen, um ihr beim Kochen zu helfen.
„Ach, wie schön, wenn man so frisch verliebt ist“, meinte Rina, nachdem Mijo ihr von Harald erzählt hatte.
„Tja, gegen eine anständige Frau kann man als Bewährungshelfer kaum anstinken.“
„Jetzt übertreib mal nicht. Du warst seit du dort arbeitest für ihn da, irgendeinen Effekt wird das schon gehabt haben.“
„Das hoffe ich. Eigentlich ist es auch ganz beruhigend, wenn man sie nicht in die Einsamkeit entlässt.“ Rina nickte nachdrücklich.
Plötzlich klingelte ihr Handy. „Es ist Max“, sagte sie ein wenig verwundert. Normalerweise kommunizierte er als typischer Vertreter seiner Generation einzig und allein per Textnachricht. „Hey, Max“, sagte sie liebevoll. Doch schlagartig verschwand das Lächeln aus ihrem Gesicht. „Was?“, sagte sie leise.
Mijo sah sie verwundert an. „Was ist los?“ Er versuchte zu hören, was Max sagte, verstand aber nichts. Aber seine Stimme klang aufgeregt, fast so, als ob er weinen würde.
„Aber ich dachte, sie wü...“ Ihr Blick versteinerte. „Was… sollen wir machen? Sind sie da? Können wir reden?“ Sie biss sich auf den Daumen. Das Gespräch war zu Ende. Zitternd setzte sich Rina an den Tisch.
„Was ist los?“, fragte Mijo.
„Er… er hat seinen Eltern nicht erzählt, dass er sich mit uns trifft. Erst jetzt hat er es ihnen gesagt, und...“ Rina schluchzte. „Sie wollen nicht, dass er uns sieht.“
Mijos Kopf war vollkommen leer. „Was? Aber… aber ich dachte, die wüssten Bescheid“, sagte er mühselig.
„Anscheinend nicht“, sagte Rina noch mühseliger. Mijo hatte sic die ganze Woche auf den Abend gefreut. Erst jetzt begriff er langsam, dass Max nicht kommen würde. Ratlos sah er Rina an.
„Bitte lass uns zu ihnen fahren“, sagte sie.
„Ich hole den Autoschlüssel.“

„Weißt du, wo er wohnt?“, fragte Mijo, als er den Wagen anließ.
Rina schüttelte den Kopf. „Ich… vielleicht stehen sie im Telefonbuch.“ Sie holte ihr Smartphone raus.
„Ich fahr schon mal nach Pauluswerder“, sagte Mijo.
Rina strich mit dem Zeigefinger über das Display. „Winkler, Winkler… Shit, hier stehen mindestens sechs.“ Panisch presste sie ihre Hand vor die Stirn.
Mijo versuchte nachzudenken, und sich gleichzeitig auf den Verkehr zu konzentrieren. Plötzlich fiel ihm etwas ein. „Hat er nicht gesagt, dass er nur ein paar Minuten vom Jugendzentrum entfernt wohnt?“
„Ja!“, rief Rina aufgeregt. „Warte mal, man kann sich die Ergebnisse auch auf der Karte anzeigen lassen… Winkler, Rainer und Sabine“, sagte sie plötzlich. „Schirmtorweg 11.“ Mijo nickte.

Rinas Telefon lotste sie an die Adresse, ein Einfamilienhaus in einer sehr ruhigen Siedlung. Mijo parkte an der Straße und sie gingen zur Eingangstür. Neben der hing ein Keramikbaum. Auf den Zweigen standen Rainer, Sabine und Maximilian.
„Mir ist so schlecht“, sagte Rina.
„Alles wird gut“, sagte Mijo, obwohl er sich da selbst alles andere als sicher war, und klingelte an der Tür. Es dauerte einige Sekunden, bevor ein Mann mittleren Alters öffnete.
„Ja, bitte?“
„Hallo,“ begann Mijo, „wir sind...“
„Ich weiß, wer Sie sind“, sagte er tonlos.
„Wir würden gerne mit Ihnen reden“, sagte Mijo.
„Was glauben Sie denn? Dass Sie hier einfach bei meiner Familie aufkreuzen können?“, erwiderte der Mann erbost.
„Papa, Papa!“, rief Max von hinten. Er stürmte an die Tür. „Papa, bitte lass sie rein, Papa, bitte. Bitte lass sie rein!“ Max warf erst seinem Vater, dann Rina und Mijo einen flehenden Blick zu.
Der Mann öffnete die Tür. Rina wollte Max umarmen, aber der Mann stellte sich ihr in den Weg.

Sie gingen zusammen ins Wohnzimmer. Auf dem Sofa saß eine Frau. Sie und der Mann waren vielleicht 15 oder 20 Jahre älter als Rina und Mijo, mit dunklen, leicht ergrauten Haaren. Max schniefte.
„Was wollen die hier?“, fragte die Frau erbost.
„Wir möchten nur mit Ihnen reden“, wiederholte Mijo so ruhig er konnte.
„Ich wüsste nicht, worüber“, sagte die Frau. „Wir haben Max gesagt, dass wir nicht möchten, dass er Kontakt zu Ihnen hat.“ Rina zitterte so stark, dass ihre Zähne klapperten.
„Ich kann verstehen, dass das überraschend für Sie kommt. Aber vielleicht könnten wir einfach ganz in Ruhe reden und uns kennenlernen“, sagte Mijo.
„Nein“, erwiderte die Frau. Ihre abweisende Haltung ließ Mijo zusammenfahren.
„Mama!“, rief Max fassungslos.
Mijo holte tief Luft. „Hören Sie, wir wollen Max, oder Ihnen, doch nichts Böses, im Gegenteil. Wir sind Ihnen wirklich dankbar für alles, was Sie für Max getan haben, wirklich. Dass Sie sich um ihn gekümmert haben, als… als wir es nicht konnten, aber...“
„Aber jetzt können Sie es und wollen wieder übernehmen“, sagte der Mann.
„Nein,“ sagte Mijo verwundert. „Wir möchten ihn nur sehen.“
„Nein“, erwiderte der Mann bestimmt. „Wir sagen nein. Wir sind seine Eltern.“
„Aber wir doch auch“, sagte Rina.
Der Mann räusperte sich. „Ich dachte, Sie sind Anwältin.“
„Bin ich“, erwiderte Rina verwundert.
„Als Anwältin sollten Sie doch wissen, dass Sie sämtliche Rechte abgetreten haben.“ Der Mann lachte. „Sind Sie überhaupt zugelassen?“
„Hey!“, rief Mijo wütend. Max sah panisch zwischen seinen beiden Elternpaaren hin und her.
„Warum lassen Sie das Max nicht entscheiden?“, fragte Rina.
„Er ist erst sechzehn!“, rief der Mann. „Wenn er volljährig ist, dann kann er machen was er will, aber solange er noch nicht achtzehn ist, entscheiden wir.“
„Tun Sie das nicht“, sagte Rina kopfschüttelnd. „Sie wissen nicht, was Sie ihm antun.“
„Was wir ihm antun?“, rief die Frau verärgert. „Was wissen Sie denn schon? Sie gehen mit ihm essen und am See spazieren, aber sie wissen nicht, wie es ist, ein Kind großzuziehen. Tag und Nacht für es da zu sein. Wussten Sie, dass es mit Max‘ Noten in den letzten Wochen deutlich bergab ging? Dass er den halben Tag im Bett verbracht hat und nicht einmal mehr seine Freunde sehen wollte?“ Rina und Mijo sahen sich verwundert an. Max sah betreten auf den Boden.
„Bitte verlassen Sie jetzt unser Haus“, sagte der Mann.
Rina und Mijo sahen zu Max hinüber. Er wischte sich mit seinem Unterarm Tränen aus dem Gesicht und schaute zur Seite.
Mijo nickte. „Komm“, sagte er leise zu Rina und führte sie hinaus.

Es war schon kurz vor 18 Uhr. Es war schon kurz vor 18 Uhr und er musste noch den Bericht über Daniel Weiss schreiben, der in einem Kurort in 200 Kilometern Entfernung, wo er sich zu Rehabilitationszwecken nach einem Oberschenkelbruch aufhielt, in ein Haus eingebrochen war. Es war kurz vor 18 Uhr und er musste unbedingt diesen verdammten Bericht noch schreiben. Dass Daniel Weiss wieder straffällig geworden war, interessierte ihn kein bisschen. Verdammter Junkie-Loser. Er ließ Rina nicht gerne allein zu Haus. Sie hatte sich krankgemeldet und war den ganzen Tag allein, bis er abends zu ihr fuhr. Sie war allein und wer wusste schon, was sie dort tun würde. Plötzlich klopfte es an der Tür.
„Ja, bitte“, rief Mijo.
Die Tür öffnete sich langsam und Max trat herein. „Max!“, rief Mijo freudig und lief zu ihm, um ihn zu umarmen. Max ließ sich umarmen, löste sich dann aber schnell von Mijo.
„Darf ich kurz mit dir reden?“, fragte er leise.
„Natürlich“, sagte Mijo und bot ihm einen Stuhl an.
Max schniefte und wischte sich mit seinem Ärmel Tränen weg. „Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich möchte euch so gerne sehen, aber Mama und Papa weigern sich einfach.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich weiß einfach nicht, was mit ihnen los ist. Sonst sind sie nie so. Sonst sind sie die netten Menschen auf der Welt, aber sie wollten nicht mal, dass mir die Akte ansehen. Nur die Akte!“
Mijo seufzte. „Sie lieben dich. Sie haben einfach Angst, dich zu verlieren.“
„Aber sie verlieren mich doch nicht! Sie sind doch trotzdem meine Eltern! Ich dachte, ich dachte, wenn ich ihnen erzähle, dass ihr ganz normal und vernünftig seid, dann würden sie ihre Meinung ändern.“ Max schniefte erneut. „Ich dachte, ich komm zu dir. Ich weiß nicht, wie es mit Rina ist.“
Mijo räusperte sich. „Na ja, sie vermisst dich“, sagte er vorsichtig.
Max nickte. „Was mach ich denn jetzt?“
Mijo seufzte. „Vielleicht müssen wir ihnen einfach ein bisschen Zeit geben. In ein paar Wochen sieht das sicher schon ganz anders aus. Vielleicht müssen sie sich einfach an die neue Situation gewöhnen.“ Max nickte.

Er schrieb ihnen noch einige WhatApp-Nachrichten, aber sie wurden immer weniger und hörten schließlich ganz auf, bis es allen dreien wie ein Traum vorkam, dass sie für eine winzigkurze Zeit tatsächlich so etwas wie eine Familie gewesen waren. Mijo versuchte nach besten Kräften, Rina zu trösten. Dass Teenagerjungs sich einfach nicht so oft melden, dass Max vielleicht endlich mit dem blonden Mädchen zusammengekommen war und anderes im Kopf hatte, dass sie doch wussten, wie schwer es war, dem Druck der Eltern stand zu halten. Er wiederholte das alles, bis es nur noch mechanisch klang. Rina blieb einen Monat krankgeschrieben, den sie fast ausschließlich im Bett verbrachte. Mijo trauerte plötzlich um zwei Menschen, von denen nur einer verstorben war.

Der Wind pfiff durch die Ritzen und draußen vor dem Fenster regnete es bunte Blätter. Rina lag unter der Bettdecke, die sie bis an ihren Mund gezogen hatte. Mijo stand in der Mitte der alten Anglerhütte, nur mit seiner Unterhose bekleidet. Er strich mit seinem Zeigefinger über das Handy-Display.
„Kommst du jetzt endlich?“, rief sie. „Gott, ist das kalt. Jemand sollte diese verdammte Hütte mal auf Vordermann bringen. Warum sind wir noch mal hierher gekommen?“
„Es ist romantisch“, sagte Mijo grinsend, wobei er nur kurz vom Display aufsah.
„Romantisch my ass.“
„Hey“, rief er plötzlich. „Dürfte man hier eigentlich bauen?“
„Bitte?“
„Dürfte man die Hütte abreißen und stattdessen ein Haus bauen?“
„Du meinst für den unwahrscheinlichen Fall, dass meine Eltern mir das Grundstück überlassen?“ Er nickte. „Keine Ahnung, ob das geht. Müsste ich mal meine Kollegin fragen, die macht Baurecht.“
„Ein Haus mit Seeblick, das wäre doch was.“
„Das wäre was“, sagte Rina sehnsüchtig. „Gerade jetzt, wo ich bald obdachlos bin.“
„Ich könnte mit dir in das Haus ziehen“, sagte Mijo. „Meine Sachen sind ja schon gepackt.“
„Noch gepackt“, verbesserte Rina ihn grinsend. Sie zog sich die Decke noch weiter ins Gesicht. „Uah“, machte sie, vor Kälte zitternd. „Kannst du jetzt endlich deinen Arsch hierher bewegen?“
„Ja, ja“ sagte Mijo. Aus dem Smartphone erklang „Thunder Road“. Er legte das Telefon zur Seite.
„Oh“, sagte Rina, „ich liebe dieses Lied.“
„Ich auch“, sagte Mijo lächelnd. Er zog seine Unterhose aus und kroch zu Rina unter die Decke.
„Hallo“, sagte er.
„Hallo“, erwiderte sie und sie küssten sich.
Mittlerweile fühlte es sich genauso an wie früher. Er leckte an ihrer kleinen, pinken Zunge, dann streckte er seinen Arm unter der Bettdecke hervor und holte ein Kondom aus seiner Hosentasche. Er wollte gerade die Verpackung aufreißen, als Rina ihre Hand auf seine Hände legte. Sie schüttelte den Kopf. Er blickte verdutzt zurück, doch dann lachte er. Er lachte und sie lachte auch. Wie großartig es war, eine neue Chance zu bekommen.

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