Books I've Read: Richard Flanagan - The Narrow Road to the Deep North





Hierzulande verbindet man mit dem Pazifikkrieg wohl in erster Linie die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki. Das jahrelange Gemetzel, das diesem grausamen Schlusspunkt voranging, ist in Europa - so erscheint es mir manchmal - angesichts des eigenen monströsen Krieges im kollektiven Gedächtnis nur wenig präsent. Anders sieht die Sache in Australien aus: Der Eroberungskrieg der Japaner ist dort genauso präsent wie der der Nazis, wenn nicht sogar noch mehr, schließlich wurde der Norden, insbesondere Darwin, mehrfach von den Japanern bombadiert. Hinzu kommt, dass natürlich viele australische Soldaten in Südostasien gekämpft haben - darunter auch der Vater von Richard Flanagan. In seinem jüngsten Roman The Narrow Road to the Deep North greift Flanagan ein besonders brutales Kapitel des Pazifikkriegs auf, das für ihn zugleich ein sehr persönliches ist: Der Bau einer Eisenbahnlinie zwischen Thailand und Burma, an dem 250 000 Kriegsgefangene - auch Flanagans Vater Arch - beteiligt waren und der über 100 000 von ihnen das Leben kostete.

Im Zentrum von Flanagans Roman steht ein Tag in einem japanischen POW-Camp im August 1943. 1000 australische Soldaten unter dem Kommando von Chirurg Dorrigo Evans müssen hier am so genannten "Death Railway" ackern. Da sie tasgüber nur einen Reisball zu essen bekommen, sind sie am Verhungern, außerdem leiden sie an Malaria, Cholera, Pellagra und diversen anderen Krankheiten. Evans versucht, so gut es geht, dem massenhaften Sterben seiner Männer Einhalt zu gebieten, doch bei den Japaner stößt er auf taube Ohren. Für sie gibt es schließlich nicht Ehrenhafteres, als für den Kaiser zu sterben. Die Australier sind in ihren Augen nicht nur Schwächlinge, sondern Untermenschen, und wenn sie wie die Fliegen sterben, dann sind sie selbst Schuld.

The Narrow Road to the Deep North ist aber nicht nur eine Kriegs-, sondern auch eine Liebesgeschichte. Bevor Dorrigo in den Dschungel geschickt wird, lernt er Amy, die Frau seines Onkels kennen und beginnt eine Affäre mit ihr. Es ist das erste und das einzige Mal, dass Dorrigo Liebe erfährt. Die Beziehung verfolgt ihn während des Krieges und auch danach. Er in einer lieblosen Ehe gefangen und flegt geradezu mechanisch zahlreiche Liebschaften. Für das Nachkriegs-Australien ist er ein Held, doch er kann sich nur widerwillig mit dieser Rolle abfinden. Überhaupt nimmt das Danach einen großen Teil in Flanagans Roman ein: Wir folgen nicht nur Dorrigo und den überlebenden POWs, sondern auch den Japanern in ihrem weiteren Leben. Dabei macht Flanagan sehr schön deutlich, dass die hohen Offiziere, die die entsetzlichen Verbrechen angeordnet haben, allzu oft davon gekommen sind, während die kleinen Soldaten, häufig Koreaner, für das Ausführen dieser Anordnungen mit dem Tode bestraft wurden.

Dennoch stellt Flanagan die Japaner immer noch als die Menschen da, die sie waren. Trotz der begangenen Verbrechen und trotz ihres Rassismus entdeckt manch einer von ihnen, wenn auch spät, Gutes in sich. Das ist nicht selbstverständlich, denn die ehemaligen Soldaten sind Produkte eines brutalen Systems, in dem nur der Wille des Kaisers zählt und in dem das Leben der einfachen Menschen keinen Wert hat. Trotz dieser kulturellen Unterschiede gibt es etwas, dass Dorrigo und die Japaner vereint: Ihre Liebe zur Poesie. Der Chirurg sucht Halt in Gedichten, allen voran Tennysons "Ulysses", und die Japaner rezitieren zur gegenseitigen Erbauung Haikus. Denn auch Japan ist trotz allem ein Land der Dichter, wie Flanagan aufzeigt: Der Titel The Narrow Road to the Deep North ist auch der Titel eines japanischen Epos aus dem 17. Jahrhundert, und jeder Teil des Romans beginnt mit einem Haiku von Issa.

Wie man sich vorstellen kann, ist The Narrow Road to the Deep North ein unwahrscheinlich brutales Buch. Die Grausamkeiten der Japaner sprengen fast den menschlichen Horizont. Doch obwohl Blut, Eiter und Scheiße überall sind, ist der Roman ungeheuer poetisch, selbst an den brutalsten Stellen. Die Schilderungen eines Befehlshabers, mit welcher Leidenschaft er Menschen enthauptet, sind so lyrisch, dass es einem einen kalten Schauer über den Rücken jagt. Und es ist ein ungeheuer trauriges Buch, denn es handelt nicht nur vom Krieg, sondern auch von verpassten Chancen und dem Verlust des eigenen Ichs. Dorrigo ist nach Ende des Krieges nur noch Zaungast im eigenen Leben. Nur als seine Familie in Gefahr gerät, schafft er es, an seinen pragmatischen und nobles Tun im Camp anzuknüpfen.

Was Flanagans Roman ebenfalls auszeichnet, ist sein Realismus. Vorbild für Dorrigo Evans war Edward "Weary" Dunlop, ein Arzt, der die Kompagnie am Death Railway anführte, in der Flanagan Senior diente. Sein Sohn hat nicht nur viele Erlebnisse des Vaters einfließen lassen, sondern auch mit vielen ehemaligen japanischen Soldaten gesprochen. Das alles macht The Narrow Road to the Deep North zu einem einfühlsamen, packenden, geistreichen, aufbauenden, niederschmetternden, brillanten Buch, das 2014 völlig zurecht mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet wurde. Es ist so großartig, dass man darin so lange wie möglich verweilen möchte, auch wenn man es eigentlich nicht aushalten kann.

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