Der Blitz, der keiner war

Manchmal erschien es ihm, als ob die Müdigkeit niemals vergehen würde. Er war aus der Narkose erwacht, aber die Müdigkeit war immer noch da. In jede Zelle seines Körpers hatte sie sich eingenistet und wollte einfach nicht vergehen. Es gab nicht genug Ruhe auf der ganzen Welt, die sie hätte vertreiben können. Jeden Morgen war er im Krieg mit sich selbst. Mit der Müdigkeit, die sich in jede Zelle seines Körpers ausgebreitet hatte. An den Schmerz hingegen hatte er sich schnell gewöhnt. Manchmal begrüßte er ihn sogar, weil er ihn bei all der überwältigenden Müdigkeit daran erinnerte, dass er wach und lebendig war, auch wenn er es manchmal kaum glauben konnte.

Dabei war die Müdigkeit gar nicht einmal das Problem. Das Problem war der Arm. Ausgerechnet der Arm. 14 Knochenbrüche, aber ausgerechnet der Arm wollte einfach nicht verheilen. Der Rücken, die Beine und die Hüfte schmerzten zwar immer noch, aber alles war irgendwie zusammengewachsen. Nur die Brüche im linken Arm nicht. Am Anfang waren die Ärzte optimistisch. Doch nun hatte er schon drei Operationen hinter sich und der Arm war immer noch nicht verheilt. Die Ärzte sagte, dass er Geduld brauche. Doch ihr Ton war verhaltener geworden und sie sprachen immer häufiger davon, dass bleibende Schäden nicht auszuschließen seien.

An den Unfall erinnerte er sich kaum. Aber an den Himmel. Wie oft hatte er den Abend am Töppinger See verbracht und versucht, seine Version des Himmels auf Papier zu bringen. Es war ein heißer Tag gewesen und ein Gewitter zog auf. Und wie so oft vor einem Wetterumschwung erstrahlte der Himmel besonders prächtig. Ein tiefes Krapprot wie eine frisch erblühende Rose, das in ein leuchtendes Purpur überging. Es schmeckte nach reifen Brombeeren.

Er hatte sich gerade auf den Heimweg gemacht, als das Gewitter lospolterte. Der Donner hallte über die Felder und der Regen prasselte auf das Autodach wie Kieselsteine. Und dann blitzte es, nur dass es kein Blitz war. Es waren die Scheinwerfer eines Autos, das über die Töppinger Kreuzung raste. Er trat auf die Bremse, glitt davon und hob schließlich ab und in einer Sekunde, die so lang war wie ein ganzes Leben, flog er durch die dunkle Nacht.

Manchmal ertappte er sich dabei, wie er ein „Was wäre wenn“ im Kopf durchspielte, obwohl er wusste, dass es nichts brachte. Sicher, er war zu schnell gefahren, 80, 85 Stundenkilometer statt der erlaubten 70, zu schnell für das Wetter. Aber jetzt war es zu spät und alles war egal. Alles war egal bis auf den Arm, der einfach nicht heilen wollte.

Er erwachte aus seiner Tagträumerei, als Bonnie, benannt nach dem schrecklichen Volkslied, an seine offene Tür klopfte. „Chef, du musst in zehn Minuten im Rathaus sein!“, sagte sie mit ihrem typischen Bonnie-Strahlen. Er seufzte. „Ja. Danke.“ Er stand auf und stopfte mit der rechten Hand mühselig die Pläne, die er nicht mehr angeschaut hatte, in die Tasche, während Bonnie zusah und sich auf die Lippe biss. Er wusste, dass sie am liebsten zum Schreibtisch gestürmt wäre und ihm die Arbeit abgenommen hätte, aber sie war klug genug, es nicht zu tun. Er ergriff die Aktentasche und machte sich auf den Weg nach draußen. „Ich schätze, dass ich in einer Stunde zurück bin“, sagte er. „Alles klar, Chef“, erwiderte Bonnie, die es sich dann doch nicht verkneifen konnte, ihm die Eingangstür zu öffnen.

Der Himmel über Beiersfelde war grau an diesem Tag. Der Himmel schmeckte nach Kartoffelbrei. Er hasste Kartoffelbrei. Bis zum Rathaus war es nur ein kurzer Fußmarsch, aber trotzdem zeigte die Uhr bereits 13:02 Uhr an, als er das Gebäude betrat. Die Beamten waren schon im Wochenende und alles wirkte wie ausgestorben. Er lief die Treppe hinauf. Seine Tritte waren das einzige Geräusch an diesem sonst totenstillen Ort. Um 13:03 Uhr klopfte er an die Tür des Besprechungsraums und trat ein.

Zu seiner Überraschung war das vorhergehende Meeting noch im vollem Gange. Der Bürgermeister war da und der Baumamtsleiter. Und sein Schwiegervater, der ihn freundlich anlächelte. Natürlich war sein Schwiegervater überpünktlich. Er seufzte innerlich. Seit seiner Pensionierung mischte sein Schwiegervater, der eigentlich nur Ratsmitglied war, sich ziemlich viel in Verwaltungsfragen ein. „Oh, hallo, Jan“, sagte der Bürgermeister, der ihn seit kurzer Zeit aus unerfindlichen Gründen mit dem Vornamen ansprach. „Bin ich zu früh?“, fragte er zurück und bemühte sich zu lächeln. „Nein, nein, wir sind gerade fertig. Ein Vorgespräch, was wir mit dem Meyerhof-Gelände machen“, erklärte der Bürgermeister. Jan nickte, aber sein Blick richtete sich schon nicht mehr auf den Bürgermeister. Sein Blick fiel auf die beiden Gäste. Genauer gesagt auf die Frau. Genauer gesagt auf ihre Haare. Jan hatte noch nie in seinem Leben solche Haare gesehen. Sie trug sie schulterlang mit Pony und sie glänzten wie frisch polierte Kupferrohre. Ja, sie hatten die Farbe von Kupfer. Im Licht glänzten sie so sehr, dass er meinte, sich darin spiegeln zu können. Ihre Haare hatten die Farbe von Kupfer und sie schmeckten nach Himbeersorbet.

Der Bürgermeister schien zu merken, dass Jans Aufmerksamkeit nicht mehr ihm galt. „Das ist Herr Schnieders vom Planungsbüro SSRP und seine Mitarbeiterin Frau Wecker“, stellte er die Gäste vor. „Ja, wir kennen uns“, sagte Jan, als er Schnieders die Hand reichte. Dieser nickte. „Herr van Drien entwirft das neue Feuerwehrhaus für uns“, erklärte der Bauamtsleiter unbeirrt. „Oh“, sagten die Gäste und lächelte höflich. Er reichte Frau Wecker die Hand. Sie lächelte freundlich. „Ist das Ihre echte Haarfarbe?“, fragte er. Die Herren im Saal lachten überrascht auf. Frau Wecker schoss die Hitze ins Gesicht und sie errötete. Ja, Himbeeren, dachte Jan. „Ja, die ist echt“, erwiderte Frau Wecker sichtlich befremdet. „Außergewöhnlich“, erwiderte Jan. Die Männer sahen betreten auf den Boden und räusperten sich. Es war der Bürgermeister, der als erster das Wort ergriff: „Und? Was macht der Arm?“, fragte er. „Ist noch dran“, erwiderte Jan. Alle lachten erneut überrascht auf. „Das sieht wirklich schlimm aus“, sagte Schieders angesichts der riesigen Schiene, die Jans Arm fixierte. „Ein Autounfall. Jemand hat ihm an der Töppinger Kreuzung die Vorfahrt genommen. Einfach das Stoppschild überfahren“, erklärte der Bürgermeister. „Ach, du liebe Güte“, sagte Schnieders. „Manche Leute sind einfach so rücksichtslos“, sagte Frau Wecker und alle, bis auf Jan, stimmten lebhaft zu. „Haben Sie den Kerl wenigstens erwischt?“, fragte Schnieders. Jan schüttelte den Kopf. „Wenigstens ist es ihr linker Arm und nicht ihr rechter“, bot Frau Wecker tröstend an. „Es sei denn natürlich, Sie sind Linkshänder.“ „Bin ich.“ Frau Wecker errötete erneut. „Tut mir leid“, sagte sie beschämt. „Ich hatte gehört, dass sie lange krank waren“, meinte Schnieders zu Jan. „Aber ich wusste nicht, dass es ein Unfall war. So sinnlos noch dazu. Das ist natürlich bitter.“ Jan sah betreten zu Boden. „Nun, dann wollen wir sie nicht länger aufhalten“, richtete sich Schnieders an die vier Herren und er und Frau Wecker verabschiedeten sich. „Weiterhin gute Besserung“, sagte er zu Jan. Jan biss sich auf die Lippe und nickte kaum merklich.

„Na, das lief doch gut“, meinte Schnieders zu Elisa, als sie sich in seinen Audi setzten. „Mhm-hm“, stimmte Elisa knapp zu. Ja, es war gut gelaufen. Bis dieser Architekt auftauchte und sie nach ihrer Haarfarbe fragte. Was sollte das überhaupt? Sie kochte vor Wut. Es war nicht leicht, sich in ihrer Branche als Frau zu behaupten und dass der Architekt anscheinend nichts anderes zu ihr zu sagen hatte außer sie zu fragen, ob ihre Haarfarbe echt sei, brachte ihr Blut zum Kochen. Und dann war er auch noch Linkshänder. Sie wollte etwas Nettes sagen, weil er ihr trotz allem ein bisschen leid tat wegen seines Unfalls, aber er war Linkshänder und sie hatte sich zum Affen gemacht. Ausgerechnet hier, bei ihrem ersten großen Projekt. Das Meyerhof-Gelände war das letzte, zentrumsnahe landwirtschaftliche Anwesen in Beiersfelde. Der alte Meyer war fast siebzig und da er keinen Nachfolger für seinen Hof hatte, hatte er das Areal an die Gemeinde verkauft. 50.000 Quadratmeter in traumhafter Lage, die nur darauf warteten, eine neue Bestimmung zu erhalten. Seit Wochen arbeitete Elisa einen Plan aus, aber jetzt konnte sie nur noch daran denken, wie wütend sie war.

Jan ging schon in den Kindergarten, als er feststellte, dass andere Menschen keine Farben schmecken konnten. Für ihn war es das Natürlichste auf der Welt, so natürlich, wie eine Gänsehaut zu bekommen, wenn man friert, oder zu schwitzen, wenn es heiß ist. Beides war untrennbar miteinander verbunden. Doch nun, da er ein paar Jahre alt war und nichts lieber tat, als weiße Blätter mit allen Farben zu füllen, die er finden konnte, machten ihm die Menschen um ihm herum deutlich, dass es ganz und gar nicht natürlich ist, Farben zu schmecken. Seine Eltern sagten ihm, dass er aufhören solle, Unsinn zu reden und seine Erzieherinnen ermahnten ihn, keine Lügenmärchen zu erfinden. Danach erzählte Jan nie wieder jemandem, dass er Farben schmecken konnte. Er hatte seine Lektion gelernt. Vielleicht hatten die Erwachsenen einfach nur vergessen, wie es ist, überlegte er. Er begann sich darauf einzustellen, dass der Geschmack irgendwann verschwinden würde, wenn er älter würde, doch er blieb. Nun war es nicht so, dass er ständig hunderte Geschmäcker auf der Zunge hatte, dass würde einen in den Wahnsinn treiben. Aber jedes Mal, wenn er sich auf eine Farbe konzentrierte, war der Geschmack da. Gelb schmeckte nach Vanille, Rot nach Beeren und Blau nach Salz.

Vielleicht liebte er deswegen Farben über alles. Wenn er könnte, würde er den ganzen Tag nichts anderes machen, als mit Farben zu experimentieren. Natürlich hatte er überlegt, Kunst zu studieren, aber Farbfeldmalerei war nicht mehr gefragt und er wollte auch nicht ständig an der Armutsgrenze kratzen wie seine Eltern, die zwar beide arbeiteten, aber trotzdem nur das Geld für das Nötigste hatten. Also tat er das, was „vernünftig“ war: Er studierte Architektur, um mit Zeichnen seinen Lebensunterhalt verdienen zu können. Für die Malerei wäre nebenbei immer noch genug Zeit, dachte er. Aber es war nie genug Zeit. Er arbeitete auf dem Bau, um sein Studium zu finanzieren, er lernte Julia kennen und heiratete sie, sie bekamen einen Sohn, dann eine Tochter. Jan kam es nicht so vor, als ob er diese Entscheidungen bewusst getroffen hatte. Eins führte irgendwie zum anderen und für die Malerei war keine Zeit.

Hinzu kam, dass mit der Architektur kaum Geld zu verdienen war. Kurz nach seiner Hochzeit stieg er als Junior-Partner in ein kleines, aber etabliertes Architekturbüro ein. Sein Chef war froh, einen zweiten Architekten an seiner Seite zu haben und Jan war zufrieden damit, Erfahrungen zu sammeln. Doch zwei Jahre später erlitt sein Chef mit 60 Jahren einen Herzinfarkt. Er entschloss sich, in Rente zu gehen, sein Haus zu verkaufen und nach Gran Canaria zu ziehen. Und plötzlich übernahm Jan viel früher als geplant das Büro. Er hatte nicht die Kontakte und die Bekanntheit seines Chefs und die Auftragslage brach ein. Er musste die Bürokauffrau und die zweite Bauzeichnerin entlassen. Immerhin hatte er Bonnie, die für drei arbeitete. Oft dachte er, dass sie die viel bessere Architektin wäre, da sie Häuser wirklich liebte.

Aber Julia war glücklich. Nach dem Studium wäre er am liebsten nach Töppingen gezogen, wegen des Sees, aber Julia wollte nach Beiersfelde, wo sie aufgewachsen war und wo ihre Eltern und ihr Bruder lebten. Und warum auch nicht? War es denn nicht auch idyllisch? Zur Hochzeit schenkten ihre Eltern ihnen ein Baugrundstück und Jan entwarf das Haus. Es war ein sehr langer Kampf gewesen, mit Julia, die seine Entwürfe immer wieder abschwächen wollte, und mit der Gemeindeverwaltung, die sich schwer tat eine Holz-Glas-Konstruktion unter lauter Klinkerbauten zu akzeptieren. Und dann waren da noch die Farben. Nie konnte er sich mit seinen Ideen durchsetzen, nicht bei seiner Frau, nicht bei seinen Kunden. Natürlich blieben sie stets höflich, sie fragte nur, ob es nicht auch „ein klein wenig weniger bunt“ ginge und dass es vielleicht doch „ein bisschen zu viel“ sei. Und er konnte ihnen nicht sagen, dass er die Küche grün streichen wollte, weil grün nach frischen Tomaten schmeckt, oder den Flur orange, weil es Schokolade ist und der Geschmack, der am ehesten willkommen sagt. Dabei machte das Entwerfen, das Zeichnen, nur einen geradezu aberwitzig kleinen Teil seiner Planung aus. Den Großteil seines Tages, so erschien es ihm, verbrachte er damit, sich mit Ämtern, Auftraggebern und Handwerkern herumzuschlagen.

Und doch hatte er die ganze Zeit geglaubt, dass er eines Tages Maler sein würde. Wie absurd ihm das nun erschien. Seine Malertätigkeit beschränkte sich im Wesentlichen darauf, einmal in der Woche seine Frau anzulügen und zu behaupten, länger arbeiten zu müssen, wenn er in Wahrheit die 30 Kilometer zum Töppinger See fuhr, um den Himmel und das Wasser auf Papier zu bringen. Er wurde dessen niemals müde, denn nie glich ein Himmel dem anderen. Die Formation der Wolken, die Farbe der Sonne, die Reflexionen auf dem Wasser – sie wiederholten sich niemals. Aber das war nun alles endgültig vorbei.

Seine Frau hatte gewartet, bis sie ihn von der Intensiv- auf die Normalstation verlegten, um ihm sein Skizzenbuch mit drei Dutzend Zeichnungen vom Töppinger See vor den Latz zu knallen, das die Polizei aus dem Wrack gefischt hatte. Jan hatte es immer schwierig gefunden, mit ihr über seine Liebe zu Malerei zu sprechen. Auf seine Arbeit als Architekt hingegen war sie ungemein stolz. Sie war die stellvertretende Schulleiterin der Grundschule und kann fast jeden in Beiersfelde, und mindestens ebenso viele Menschen liebten sie. Dass Jan überhaupt als Architekt halbwegs Fuß gefasst hatte, obwohl die Leute auch nach fast zehn Jahren sein Haus für einen Fremdkörper hielten, das hatte er im Wesentlichen dem guten Ruf Julias und seines Schwiegervaters zu verdanken. Ihr Gesicht strahlte, wenn sie erzählte, dass ihr Mann den Neubau des evangelischen Kindergartens entworfen hatte und nun auch das neue Feuerwehrhaus gestalten würde.

Nur mit der Malerei konnte sie nichts anfangen. Einmal zeigte er ihr ein Gemälde von Rothko, den er mehr verehrte als alle anderen, und sie spottete, dass ihre Schüler so etwas genauso malen könnten. Sie verstand es nicht. Die Kühnheit, die in den wenigen Farben steckte und das Gefühl, wenn man sie ansah. Wie der ganze Körper sich in seine Elementarteilchen aufzulösen schien, bis nur die Farbe und der Geschmack übrig waren.

Der Fund des Skizzenbuchs hatte ihrer Ehe einen Knacks verpasst, der sich nur deshalb nicht zum Riss ausweitete, weil der Arm nicht heilte und er nicht mehr malen konnte. Julia schien zufrieden, dass die Lügerei ein Ende hatte, aber sie konnte nicht sehen, dass dies für Jan auch das Ende von allem anderen war. Nichtsdestotrotz liebte er sich noch immer, trotz ihres Unverständnisses für Kunst, trotz der braunen Haare, die nach vertrockneten Walnüssen schmeckten. Sie hatte ein großes Herz für alles und jeden, sie war eine wunderbare Mutter und eine wunderbare Lehrerin. Es war diese Liebe und Güte, die sie umgab, die damals an der Uni sein Interesse an ihr geweckt hatte. Jans Eltern hatte sich nach seinem Abitur scheiden lassen und er hatte zu beiden seitdem nur noch sporadisch Kontakt. Ihre Lebenswege waren ohnehin schon lange vorher auseinander gelaufen. Julia hingegen war von gütigen, hingebungsvollen Eltern aufgezogen worden, und die Liebe, die sie ihr geschenkt hatten, umgab sie noch immer. Ihre Liebe hatte seinem Leben Stabilität gegeben.

Elisa fiel es schwer, sich auf die Pläne für das Meyerhof-Gelände zu konzentrieren. Ihr Kopf schmerzte, ihre Zunge war pelzig, ihr Körper träge. Sie wusste, dass sie unter der Woche nicht mehr so viel trinken sollte, aber es war nun mal die einzige Möglichkeit, Mark zu sehen. Er betrieb einen kleinen Club in der Töppinger Innenstadt. Letztes Jahr hatte eine Freundin sie dorthin geschleppt und Elisa war mit ihm ins Gespräch gekommen. Und sie hatte sich verliebt. Auch wenn ihr tief im Innersten bewusst war, dass Mark ihre Gefühle nicht auf diese Weise erwiderte, waren sie sich näher gekommen. Sie waren zumindest intim geworden. Das reichte Elisa die meiste Zeit schon. Die Warnungen ihrer Freundinnen ignorierte sie. Na gut, dann ging er halt auch mit anderen aus. Oft genug hasste Elisa sich dafür, aber der Wunsch, ihm nah zu sein, war so überwältigend, dass alles andere nebensächlich wurde. Er bereitete ihr körperliche Schmerzen, nicht in seiner Nähe zu sein. Und so verbrachte sie mehr Nächte als sie sollte im Saturn Sky.

Und war es nicht auch eine schwierige Woche gewesen? Irgendjemand hatte sich verplappert und jetzt wusste halb Beiersfelde, dass auf dem Meyerhof-Gelände mehrere Wohnanlagen für Senioren entstehen sollten. Und natürlich waren die Anwohner Amok gelaufen, weil sie befürchteten, dass die Wohnanlagen ihnen die Aussicht und damit ihre Grundstückspreise ruinieren würden. Die Gemeindeverwaltung hielt sich bisher bedeckt, hatte SSRP aber angewiesen, bei der bevorstehenden Präsentation des Entwurfs nicht die Anlagen in den Mittelpunkt zu stellen.

Und dann war da noch der Architekt. Elisa wünschte, dass sie verstehen könnte, warum sie so wütend war. Es hatte sie zu Schulzeiten stolz gemacht, wenn die anderen Kinder sie „Hexe“ genannt hatten wegen ihrer roten Haare. Und jetzt regte es sie auf, dass er sie gefragt hatte, ob ihre Haarfarbe echt sei? Vielleicht war sie es einfach nicht mehr gewohnt, dass Leute sie auf ihre Haarfarbe ansprachen. Im Grunde hatte dies nie jemand getan, bis auf ihre Mitschüler und Jan van Drien.

Die Deutschaufsätze der 4a wollten korrigiert werden, aber Julia stand wenig nach den Ergüssen ihrer Schüler. Zumindest nicht an diesem Abend. Jan hatte angerufen, dass er später aus dem Büro kommen würde. Und auch wenn sie wusste, dass er die Präsentation des Endentwurfs für den Planungsausschuss vorbereiten musste, nagten Zweifel an ihr. Aber was sollte er denn anderes tun, sagte sie sich vor. Das Auto stand vor der Tür, fahren konnte er mit dem Arm sowieso nicht. Malen erst recht nicht. Es war praktisch ausgeschlossen, dass er zum Töppinger See fuhr. Was das überhaupt für eine komische Obsession? Der Himmel, immer und immer wieder. Das ganz verdammte Buch bestand aus Zeichnungen des Himmels und des Wassers. Julia fühlte sich so gedemütigt. Sie konnte einfach nicht den Abend vergessen, als die Polizei an der Tür klingelte. Wie sie den Beamten versuchte, klar zu machen, dass es unmöglich ihr Mann sein konnte, der den Unfall an der Töppinger Kreuzung hatte. Er war im Büro, nur fünf Minuten entfernt. Dann geht er eben nicht ans Handy. Wahrscheinlich ist der Akku leer, weil er vergessen hat, ihn aufzuladen. Das passiert ihm dauert. Ja, er fährt einen schwarzen Citroen. Ja, das ist sein Ausweis. Ja, 1,90 Meter groß, 85 Kilo schwer, das passt. Aber… aber…

Und dann die Bilder. Wie ahnungslos sie dort im Krankenhaus gestanden hatte, vor ihren Eltern, als die Schwester ihr seine persönlichen Sachen, oder was davon noch übrig war, überreichte. Das Buch war unversehrt. Sie konnte nicht sprechen, als sie sich durch die gut 30 Zeichnungen blätterte, die, wenn man der Datierung glauben mochte, in den letzten zehn Monaten entstanden waren. „Ja, malt er denn?“, hatte ihr Vater gefragt. Sie hatte keine Antwort.

Jan war auch wütend. Er war auf dem Rückweg vom Orthopäden und stand an der Ampel. Er wusste, dass er mit dem Arm nicht Auto fahren sollte, aber Beiersfelde hatte keinen Orthopäden und er wollte nicht mit dem Bus in den Nachbarort fahren und sich dem Geschwätz der Leute aussetzen. Außerdem war die Grundschule nur etwa 300 Meter von seinem Büro entfernt. Sie würde gar nicht merken, dass er das Auto – seit seinem Unfall hatten sie nur noch eins – für ein Stündchen oder zwei auslieh. Im Grunde war es völlig lächerlich, da der Orthopäde mal wieder nichts zu sagen hatte, außer dass er Geduld brauchte, was nur ein Euphemismus dafür war, dass noch keine Besserung zu erkennen war. Nun stand er an der Ampel und sah sie, wie sie mit Schnieders, dem Bürgermeister, dem Bauamtsleiter und noch drei weiteren Herren in Anzügen über das Meyerhof-Gelände stapfte. Es war windig und sie versuchte, sich die Haare aus dem Gesicht hinter die Ohren zu streichen. Himbeersorbet. Wie konnte sie nur mit solchen Haaren herumlaufen? Es war die reinste Provokation. Hinter ihm hupte es. Die Ampel war, ohne dass er es gemerkt hatte, auf Grün umgesprungen. Er legte den ersten Gang ein und fuhr los.

„Und? Alles startklar für Donnerstag?“, fragte Kurt, sein Schwiegervater. „Oh, ja. Ja“, erwiderte Jan, während er konzentriert versuchte, sich mit der rechten Hand Kartoffeln auf den Teller zu geben. „Sag doch was, ich kann dir doch auch welche geben“, rief seine Schwiegermutter. „Mama, lass ihn, er kriegt das schon hin“, meinte Julia, die in den letzten Wochen die schmerzliche Erfahrung gemacht hatte, dass man Jan besser nicht half, bis er darum bat, oder etwas drohte, zu Bruch zu gehen. „Nichts passiert“, sagte Jan, nachdem er die dritte Kartoffel sicher auf seinen Teller befördert hatte. In letzter Zeit kamen seine Schwiegereltern recht häufig zum Abendessen vorbei. Das Ganze hatte sich wohl eingependelt, als er im Krankenhaus und in der Reha gewesen war. Seitdem half seine Schwiegermutter regelmäßig im Haushalt.

Er wusste nicht genau, was sein Schwiegervater mit seiner Frage bezweckte, da er bereits bei dem Treffen im Rathaus deutlich gemacht hatte, dass der Endentwurf abgeschlossen war und einer Präsentation nichts mehr im Weg stand. Möglicherweise war er einfach besorgt, weil er das Feuerwehrhaus gewissermaßen zu seinem persönlichen Projekt gemacht hatte. „Ich habe gestern Abend noch eine Präsentation erstellt mit 3D-Ansichten, die lieben die Leute“, sagte er grinsend. Julia versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sie erleichtert aufatmete. Kurt versuchte zu lächeln. „Ich bin sicher, dass alle zufrieden sein werden. Alle Beteiligten sind sehr erpicht darauf, die Planung abzuschließen.“ Jan nickte. Er wusste, dass der Rat die Einweihung am liebsten noch vor der nächsten Wahl gefeiert hätte. Nun konnten sie froh sein, wenn es noch mit dem Spatenstich klappte. „Auf ein paar Monate mehr oder weniger kommt es nun wirklich nicht an“, meinte seine Schwiegermutter Margot. „Wobei wir natürlich alle froh sein, wenn der alte Kasten endlich wegkommt. Wie lief denn das Gespräch im Rathaus?“, fragte sie, obwohl sie es zweifelsohne schon wusste. „Oh, gut. Gut“, antwortete Jan. „Sie wollten im Grunde nur wissen, ob die Pläne soweit fertig sind.“ „Alles Routine“, meinte Julia. „Na ja, bis auf die Tatsache, dass Jan mit der Städteplanerin geflirtet hat“, sagte Kurt lachend. „Bitte?!“, rief Julia entsetzt. „Ich habe nicht geflirtet“, sagte Jan düster. „Er hat sie gefragt, ob ihre Haarfarbe echt ist. Kein guten Tag, kein Hallo, nur das.“ „Sie hat wirklich eine außergewöhnliche Haarfarbe, so etwas habe ich noch nie gesehen“, versuchte Jan sich zu rechtfertigen. „Was hatte sie denn für eine Haarfarbe?“, fragte Margot. „Rot“, sagte Kurt. „Sie sind nicht rot, sie sind Kupfer. Das ist ein himmelweiter Unterschied“, sagte Jan pikiert. „Kupfer“, sagte Julia verächtlich. „Pass nur auf, nachher denkt sie noch, du willst was von ihr“, lachte seine Schwiegermutter. „Ja, weil sie bestimmt total auf Krüppel abfährt.“ „Jan, um Gottes Willen!“, rief Julia verärgert und schüttelte den Kopf. „Darf ich auch mal das Feuerwehrhaus sehen?“, fragte der achtjährige Tom mit einem sicheren Gespür dafür, dass ein Themenwechsel notwendig war. Jan atmete erleichtert auf. „Ich bin sicher, dass wir eine persönliche Führung arrangieren können“, erwiderte er. „Echt? Cool!“ Toms Augen strahlten. „Und was ist mit mir?“, fragte Katja, seine fünfjährige Tochter. „Für dich natürlich auch.“ Katja nickte zufrieden. Zum ersten Mal seit langer Zeit verspürte Jan so etwas wie ein Glücksgefühl. Niemandem hatte sein Unfall so zu schaffen gemacht wie seinen Kindern und dass er immer noch nicht voll beweglich war, dass er nicht mit ihnen herumkalbern konnte, belastete sie sehr, auch wenn sie für ihr Alter erstaunlich verständnisvoll reagierten. Nichtsdestotrotz war Jan froh, ihnen eine Freude machen zu können und vergaß darüber sogar Elisa Weckers kupferfarbenes Haar.

Jan hatte den Sitzungssaal noch nie so voll erlebt. Normalerweise nahmen lediglich ein Reporter von der Lokalzeitung sowie zwei bis drei Berufsnörgler an den Ausschusssitzungen teil, doch diesmal platzte der Raum aus allen Nähten. Zwei Azubis beeilten sich, alle Stühle, die sie finden konnten, hinein zu tragen, während die Leute sich im Eingangsbereich aneinander quetschten. Alle 38 Feuerwehrleute, die Beiersfelde hatte, waren vertreten. Bei den meisten Zuschauern handelte es sich jedoch um einfache Bürger, die, so vermutete Jan, erfahren wollten, was nun mit dem Meyerhof-Gelände geschah. Jan setzte sich an den Gästetisch neben Elisa. Auch wenn er natürlich auf der Tagesordnung gesehen hatte, dass das Gelände Thema war, war er überrascht, sie zu sehen, und angenehm erfreut. Seine Wut, die er an der Ampel empfunden hatte, war verflogen. Ihr Haar schmeckte so fruchtig wie noch nie. „Haben Sie Ihren Chef nicht mitgebracht?“, fragte er neckend. „Oh, bitte“, sagte sie und verdreht die Augen. Jan grinste. „Was ist mit Ihnen? Wollen Sie nicht die Champions League sehen?“, fragte sie zurück. Er seufzte gespielt. „Ich bin ja nur ein kleiner Architekt, ich muss hier noch selber antanzen.“ Elisa lächelte. Tatsache war, dass Jan Fußball hasste. Dies hatte das Verhältnis zu seinem Sohn erschwert, dessen ganze Existenz sich nur noch darum zu drehen schien. Und es hatte zum Streit mit seiner Frau geführt. Bei dem großen Turnier im letzten Jahr – er wusste schon nicht mehr, ob es die WM oder EM gewesen war – hatten sie sich die Spiele mit Freunden angeschaut, bis es Jan zu viel wurde und er sich im Halbfinale noch vor der Halbzeitpause verabschiedete. Er habe noch zu tun. Julia war erbost und warf ihm vor, dass er, nun da er die 40 erreicht habe, offenbar exzentrisch werde.

An diesem Abend war er jedoch froh, dass ein Fußballspiel stattfand. Da alle Ausschussmitglieder sicher pünktlich zum Anstoß zu Hause sein wollten, erhöhte es die Wahrscheinlichkeit, dass sie seinen Entwurf ohne größere Diskussion verabschieden würden. Tatsächlich waren das Feuerwehrhaus und das Meyerhof-Gelände die einzigen Punkte auf der Tagesordnung. Jan war zuerst an der Reihe. Das kontroverse Thema wurde für gewöhnlich ans Ende gepackt, um die Bürger schmoren zu lassen, so Jans Vermutung. Nachdem der Ausschussvorsitzende alle begrüßt hatte und keine Einwände gegen die Tagesordnung vorgebracht wurden, bat er Jan nach vorne. Dieser erhob sich von seinem Platz, was ihm schwerer fiel als ihm lieb war. Er gab sich Mühe, sich seine Schmerzen nicht anmerken zu lassen. Die Fernbedienung mit der rechten Hand zu bedienen war ungewohnt, doch nach einigen Minuten gewöhnte er sich daran und erklärte ruhig die neuesten Änderungen. „Oh“, hallte es beeindruckt durch den Saal, als er die 3D-Ansichten des geplanten Neubaus zeigte.

Elisa beobachtete Jan mit Interesse. Als sie auf der Tagesordnung gesehen hatte, dass sein Entwurf Thema war, hatte sie wenig begeistert reagiert. Umso überraschter war sie, dass er diesmal keine dummen Sprüche über ihr Äußeres machte, sondern sich im Gegenteil selbstironisch zeigte. Ein bisschen tat er ihr immer noch leid, weil ihm die Folgen seines Unfalls offensichtlich noch zu schaffen machten. Er bewegte sich mühselig, er war deutlich zu schlank für seine breiten Schultern und er hatte die Blässe von jemandem, der zu viel Zeit im Krankenhaus verbracht hatte. Dabei sah er an und für sich nicht schlecht aus. Natürlich nicht so wie Mark, der mit seinen blonden Haaren und seinem muskulösen Körperbau wirkte, als ob er direkt einem Supermodelkatalog entsprungen sei. Jan hatte, anders als sein holländischer Nachname vermuten ließ, schwarze, kurze, etwas unordentliche Locken, die an den Schläfen ergrauten, und schwarze Augen. Wenn er wollte, konnte er sogar ganz sympathisch lächeln. Nach ein paar Minuten schienen seine gesundheitlichen Beschwerden, trotz der Armschlinge, vergessen und er stellte klar und sachlich die letzten Änderungen vor. Die Feuerwehrleute applaudierten am Ende seiner Präsentation, was ihnen den ermahnenden Blick des Ausschussvorsitzenden einbrachte.

„Gibt es Fragen oder Anmerkungen?“, eröffnete der Vorsitzende die Diskussion. Der CDU-Sprecher ergriff das Wort. „Das wir ein neues Feuerwehrhaus brauchen, ist unbestreitbar, aber ich frage mich wirklich, ob wir alles getan haben, um die Kosten niedrig zu halten.“ Ein Raunen ging durch den Raum angesichts dieser schon mehrfach diskutierten Frage. „Ja, stöhnt nur. Aber was allein die Außenanlagen kosten! Brauchen wir denn wirklich 32 Parkplätze?“ „Ho“, hallte es empört aus den Reihen der Feuerwehr. „Ruhe!“, rief der Vorsitzende. „Was sollen sie denn machen? Sollen sie zum Dienst radeln, während irgendwo die Hütte brennt?“, fragte Jan zurück. Die Feuerwehrleute grölten. „Ich habe nicht gesagt, dass sie radeln sollen, ich habe gefragt, ob wir 32 Stellplätze brauchen“, fragte der CDU-Sprecher während er puterrot anlief. „Es gibt eine öffentliche Richtlinie, was die Anzahl der Stellplätze betrifft. Bei der Größe der Wehr brauchen wir mindestens 28. Das heißt, vier könnten wir theoretisch noch wegnehmen“, erklärte Jan. Einzelne Mitglieder schüttelten den Kopf. „Vier Stellplätze machen den Kohl auch nicht fett“, so der Sprecher der SPD. „Fakt ist: Die Feuerwehr braucht ein neues Haus, wir brauchen die Feuerwehr. Da sollten wir jetzt nicht an allen Ecken und Enden herumknapsen und uns jeglichen Spielraum nehmen.“ Die Feuerwehrleute applaudierten. „Ruhe!“, rief der Ausschussvorsitzende erneut. „Von Knapsen kann nun wirklich nicht die Rede sein. Wir haben mit 1,2 Millionen Euro angefangen, jetzt sind wir schon bei 1,5 Millionen. Das finde ich Fragen, ob alle Möglichkeiten zur Kostenreduzierung bereits erschöpft sind, mehr als berechtigt“, meinte der Vorsitzende der Bürger für Beiersfelde bestimmt. „Können wir denn wirklich nichts mehr einsparen?“ Elisa konnte sehen, dass Jan langsam die Geduld verlor. „Nur wenn Sie sich ein paar Schwarzarbeiter aus Osteuropa holen oder selber zur Schaufel greifen“, sagte er. Der Bürgermeister und der Bauamtsleiter sahen Kurt Wegener streng an, während der BfB-Vorsitzende ebenfalls puterrot anlief. „Ich verstehe ja, dass Ihnen die Gelder der Steuerzahler am Herzen liegen“, meinte Jan diplomatischer, aber – so erschien es Elisa – durchaus bewusst doppeldeutig. „Die Kosten lassen sich aber nur senken, wenn Sie an der Ausstattung sparen. Was Sie hier haben, ist Standard für ein modernes Gerätehaus. Wir verbauen hier keinen Schnickschnack. Ich würde sagen: Die Schmerzgrenze ist erreicht. Für alle.“ Der Bürgermeister fasste sich mit der Hand an die Stirn. „Wenn ich vielleicht auch mal was sagen darf“, erhob sich der Gemeindebrandmeister, ohne eine Antwort abzuwarten. „Herrn van Drien ist hier wirklich ein hervorragender Kompromiss aus Sparsamkeit und Funktionalität gelungen. Das Haus hat alles, was eine zukunftsfähige Wehr braucht, nicht mehr und nicht weniger. An der Ausstattung zu sparen würde die Sicherheit unserer Bevölkerung gefährden.“ Bürger und Feuerwehrleute applaudierten gemeinsam. „Wir wollen doch nicht ernsthaft noch mal alles umschmeißen“, rief jemand von den Grünen, ohne eine Reaktion zu bekommen. Auch der Ausschussvorsitzende hatte offensichtlich genug. „Ich lasse jetzt abstimmen. Wir haben schon genug Zeit verloren, durch… ähm, durch Herrn van Driens bedauerlichen Unfall.“ Jan schluckte. Elisa fühlte mit ihm. Mit Ausnahme von Jans Schwiegervater, der sich für befangen erklärte, stimmte der Ausschuss einstimmig für den Neubau.

„Machen Sie sich jetzt auf den Heimweg?“, fragte der Ausschussvorsitzende Jan. „Ein bisschen Zeit habe ich noch“, erwiderte dieser. „Aber es ist Champions League!“ „Ich glaube, das hier ist spannender“, meinte Jan und lächelte Elisa zu. Der Vorsitzende schüttelte den Kopf. Die Feuerwehrleute erhoben sich derweil. „Vielen Dank, Jan“, sagte der Gemeindebrandmeister und schüttelte ihm die Hand. „Jetzt aber!“, rief einer der Bürger. Jan setzte sich wieder auf seinen Platz, während Elisa ihre Präsentation auf dem Computer öffnete. Sie versuchte, den unangenehmen Teil kurz zu halten. Dass ein Investor Interesse an dem Gelände hatte und dort sechs Wohnanlagen mit je zehn Wohnungen bauen wollte, ließ sich natürlich nicht verschweigen. Daher betonte sie, wie sehr die Gemeinde davon finanziell profitieren würde. Nichtsdestotrotz hagelte es Buhrufe aus den Reihen der Anwohner, denen auch der Ausschussvorsitzende machtlos gegenüber stand. Elisa erläuterte ausführlich, dass es auch ein Park auf dem Gelände geplant sei und zudem 15 bis 20 neue Baugrundstücke entstehen sollten. Sie bekräftigte, dass es sich lediglich um einen ersten Entwurf handelte: „Wir stehen noch ganz am Anfang der Planung“, war ihr Mantra.

Die Ausschussmitglieder nahmen die Pläne äußerst erfreut auf, sowohl was das Interesse des Investors als auch die neuen Baugrundstücke betraf. Einzig die Grünen fürchteten um den ländlichen Charakter Beiersfeldes. Ganz anders sah die Sache bei den Anwohnern aus. „Wen wollt ihr hier eigentlich verarschen?“, rief ein mittelalter Mann, nachdem der Ausschussvorsitzende die Einwohnerfragestunde eröffnet hatte. „Der ganze Ort wird zubetoniert!“, rief einer und ein anderer meinte, dass er nicht auf ein Eigenheim gespart habe, um für den Rest seines Lebens auf sechs Betonklötze zu starren. Einige junge Bürger mit Bauabsichten äußerten sich positiv, doch änderte das wenig an der aufgeheizten Stimmung im Saal, gegen die auch der Bürgermeister nicht ankam. „Peter, Hans-Dieter, Andreas“ - er kannte anscheinend jeden mit Vornamen - „ich verstehe euren Unmut. Aber wir haben eine große Nachfrage nach Baugrundstücken, die wir im Moment nicht befriedigen können, und viel zu wenige barrierefreie, seniorengerechte Wohnungen. Eure Einwände werden wir aber natürlich berücksichtigen, sollten wir in die Bauleitplanung einsteigen.“

Jan hörte nicht zu. Es war sowieso immer dasselbe. Stattdessen beobachtete er Elisa. Sie trug eine pinke Bluse – ein ziemlich gewagtes Outfit angesichts ihrer Haarfarbe. Jan applaudierte innerlich ihrem Wagemut. Sie versuchte, cool zu bleiben bei ihrer Präsentation, aber immer wieder flackerten ihre Wangen rosa auf. Der Geschmack von Himbeeren und Brombeeren tanzte auf Jans Zunge.

Nach 15 Minuten lautstarker Diskussion beendete der Ausschussvorsitzende die Einwohnerfragestunde und damit auch die Sitzung. Die meisten Bürger und Ausschussmitglieder strömten hinaus, nur wenige blieben zurück, um sich zu unterhalten. „Das war ja ein erfolgreicher Abend für Sie“, meinte Elisa zu Jan, als sie den Saal verließen. „Na ja, wenn erfolgreich bedeutet, dass das Ding höchstwahrscheinlich gebaut wird, dann schon.“ „Das klingt aber nicht besonders euphorisch.“ Er zuckte die rechte Schulter. „Sie kennen das ja wahrscheinlich auch, dass das, was sie anfangs planen, nicht unbedingt das ist, das am Ende herauskommt.“ Elisa nickte. „Ist es denn so anders als das, was Sie sich vorgestellt haben?“, fragte sie. „Ich musste schon ziemlich abspecken. Es würde mich nicht wundern, wenn sie in 20 Jahren wieder ein neues Feuerwehrhaus brauchen, weil das jetzige aus allen Nähten platzt. Aber das ist dann nicht mehr mein Problem.“ „Na ja, wer weiß, vielleicht bauen Sie das ja auch“, lachte sie. Es war als Scherz gemeint gewesen, doch plötzlich legte sich ein trauriger Schatten über Jans Gesicht. „Nein, das ist wahrscheinlich mein letztes Projekt“, antwortete er resigniert. „Aber wieso denn das?“, fragte Elisa erschrocken. „Na ja, der Arm heilt nicht und was ist ein Architekt, der nicht zeichnen kann?“ „Was sagen denn die Ärzte?“ „Dass ich geduldig sein muss.“ „Vielleicht braucht es wirklich nur ein bisschen Zeit.“ „Ja, vielleicht, aber irgendwie fällt es mir schwer, das zu glauben.“ „Und doch sind Sie zu meiner Präsentation geblieben“, meinte Elisa nun aufmunternd. „Touché. Vielleicht habe ich doch noch einen Funken Hoffnung in mir.“

Plötzlich trat sein Schwiegervater an sie heran. „Ist alles in Ordnung?“, fragte er mit einem seltsam perplexen Gesichtsausdruck. „Ja, alles in Ordnung“, antwortete Jan. Kurt schien etwas sagen zu wollen, war aber durch Elisas Anwesenheit offenkundig gehemmt. „Gut, dann… ähm, dann sehen wir uns ja am Samstag“, meinte er schließlich. Jan nickte und Kurt verabschiedete sich. „Mein Schwiegervater“, erklärte er. „Hab ich gehört“, meinte Elisa. „Er ist ein ziemlich großer Fisch hier, oder? Was macht er eigentlich?“ „Snackautomaten.“ „Ist das ein Scherz?“ „Keineswegs. Sie würden sich wundern, wo die Dinger überall stehen, achten Sie mal drauf.“ Elisa schüttelte verdutzt den Kopf. „Ich finde übrigens, dass Sie sich ganz wacker geschlagen haben“, sagte Jan. Elisa winkte übertrieben cool ab. „Ach, das war doch gar nichts. Stellen Sie sich vor, die Gemeinde wollte ein Gewerbegebiet ausweisen oder Windkraftanlagen aufstellen, das wäre richtig die Post abgegangen.“ Jan lächelte.

„Hey!“, rief plötzlich jemand hinter ihnen. Es war ein Kollege von Julia, dessen Haus Jan entworfen hatte. „Nette Hütte, Jan. Und so normal. Ich hatte schon befürchtet, dass du wieder die Küche grün streichen willst oder so etwas in der Art“, lachte er und verabschiedete sich winkend. Jan schüttelte den Kopf. „Eine grüne Küche? Ernsthaft?“; fragte Elisa skeptisch. „Grün schmeckt nach frischen Tomaten“, erwiderte Jan, bevor er mit Erschrecken feststellte, was er da eigentlich gesagt hatte. „Was?“, fragte Elisa überrascht zurück. „Vergiss es“, winkte Jan ab, verärgert über sich selbst. Aber Elisa wollte es nicht vergessen, im Gegenteil. Sie war Feuer und Flamme. „Haben Farben Geschmäcker für dich?“ Jan wusste, dass er die Frage mit nein beantworten sollte, aber die Art der Fragestellung brachte ihn dazu, zu nicken. „Wow“, sagte Elisa. „An der Uni hatte ich eine Mitbewohnerin, die Töne riechen konnte, aber Farben schmecken habe ich noch nie gehört.“ „Das ist ja das Problem“, sagte Jan traurig. „Aber wieso Problem? Das ist doch was ganz Besonderes!“ Jan starrte sie ungläubig an. Für einen Moment war er zu erstaunt, um zu sprechen, fing sich dann aber. „Die meisten Leute finden das ziemlich seltsam, deshalb erzähle ich es normalerweise nicht.“ Elisa sah ihn mitleidig an. „Das ist so schade. Ich bin sicher, dass da sehr interessante Dinge herauskommen, wenn man so eine Fähigkeit hat. Ich würde gerne mal eins deiner Farbkonzepte sehen.“ „Gibt es nicht. Die Leute finden es schrecklich. Nicht mal meine Frau konnte ich damit überzeugen.“ „Hm“, machte Elisa betrübt. „Meine Mitbewohnerin zum Beispiel hat komponiert. Sie hat die Töne für ihre Melodien so ausgewählt, dass die dazugehörigen Gerüche miteinander harmonieren. Ich habe selten so außergewöhnliche Musik gehört. Ich würde gerne wissen, wie das bei Farbkompositionen ist.“ Jan starrte sie immer noch erstaunt an. Sie lächelte sanftmütig und mit der Neugier eines Kindes. Er konnte nicht fassen, was er jetzt tat, aber er konnte auch nicht anders. Er stellte seine Aktentasche auf einen Tisch und holte ein kleines Skizzenbuch heraus. Obwohl er nicht mehr malen konnte, brachte er es nicht übers Herz, die alte Angewohnheit, immer ein Skizzenbuch mit sich herumzutragen, aufzugeben. Elisa sah ihn mit großen Augen an, bevor sie das Buch, das in erster Linie abstrakte Aquarelle enthielt, durchblätterte. „Das ist unglaublich schön“, sagte sie. Jans Mund war so trocken, dass er schmerzte. „Malst du auch großformatiges?“ „Na ja, früher mal...“ Elisa klappte das Skizzenbuch zu. „Verkauf mir ein Bild!“, bat sie aufgeregt. „Was?“, fragte Jan. Es erschien ihm, als ob sie in einer fremden Sprache sprechen würde. „Ich habe da diese weiße Stelle über meinem Sofa, die macht mich wahnsinnig. Bisher habe ich noch nichts gefunden, dass mir gefällt, aber so ein Bild würde einfach perfekt passen!“ „Elisa...“ Jan wusste nicht, was er sagen sollte. Ihr Körper begann zu kribbeln. „Bitte!“, sagte sie mit Nachdruck. Jan seufzte. „Bist du nächste Woche noch einmal in Beiersfelde?“ „Dienstag.“ „Komm bei mir im Büro vorbei. Vielleicht habe ich bis dahin was gefunden.“ Elisa strahlte. Doch plötzlich zuckte sie zusammen und schaute auf die Uhr. Es war bereits nach neun. „Oh! Ich sollte wohl los, ich habe meinem Freund versprochen, dass ich noch vorbeischaue.“ Das war auf mehreren Ebenen gelogen, aber Elisa wusste nicht, wie sie sich sonst ausdrücken sollte. „Na dann“, sagte Jan möglichst ermutigend. „Dienstag“, sagte sie und richtete ihren Zeigefinger auf ihn. „Ich werde da sein“, antwortete Jan.

Die Kinder waren schon im Bett, als er nach Hause kam. Julia saß am Schreibtisch und korrigierte die Klassenarbeiten ihrer Schüler. Jan setzte sich zu ihr. „Und? Wie ist es gelaufen?“, fragte sie aufgeregt. „Einstimmig.“ Sie strahlte. „Oh, das freut mich so für dich“, sagte sie und strich ihm über den rechten Arm. „Na ja, das war ja nur der erste Schritt. Verwaltungsausschuss und Rat müssen ja auch noch zustimmen.“ Julia winkte ab. „Ja, aber das ist ja nur eine Formalität. Ich hatte schon Angst, dass es Probleme gibt, weil du so lange weg warst.“ „Ich habe mir noch angehört, was sie mit dem Meyerhof-Gelände machen wollen.“ „Ach ja, und? Stimmt das mit den Wohnanlagen?“ „Ja, aber es soll auch 15 bis 20 Bauplätze geben.“ Julia lächelte erneut. Überhaupt war sie viel sanftmütiger als zwei Tage zuvor. „Das ist doch toll. Vielleicht lässt ja auch jemand ein Haus von dir bauen.“ „Ja, vielleicht“, seufzte Jan, obwohl er es besser wusste.

„Du bist ja so spät heute. Und so business-like“, sagte Mark, als Elisa sich an den Tresen des Saturn Sky setzte. „Ich hatte heute doch meine Präsentation!“ „Ach ja, stimmt. Und wie ist es gelaufen?“, fragte Mark, während er ihr einen Martini machte. „Gut, wirklich gut. Die Anwohner waren natürlich stinksauer, aber den Ausschussmitgliedern hat es gefallen.“ „Glückwunsch, Li“, sagte er und stellte ihr den Martini hin. „Und dann habe ich diesen Architekten getroffen, du glaubst nicht...“ Mark hob die Hand. „Entschuldige mich kurz“, sagte er und ging zu einem Kumpel an das andere Ende des Tresens herüber. Elisa seufzte. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie seit dem Mittag nichts mehr gegessen hatte. Sie rutschte vom Barhocker und ging zum Automaten neben den Toiletten hinüber. Während sie darauf wartete, dass die Maschine ihr Päckchen Erdnüsse aus dem Fach schob, fiel ihr, zum ersten Mal, eine kleine, silberfarbene Tafel in der oberen, rechten Ecke auf: Wimau Wegener Imbissautomaten. Sie lächelte.

„Weißt du, Bonnie, ich könnte es verstehen, wenn du dir einen neuen Job suchen willst“, sagte Jan, als er mit seiner Bauzeichnerin in der Frühstückspause einen Kaffee trank. „Willst du mich loswerden, Chef?“, fragte sie überrascht zurück. „Nein, natürlich nicht. Aber ich weiß wirklich nicht, wie lange ich den Laden noch aufrecht erhalten kann.“ „Aber wo soll ich denn hin? Niemand will eine alleinerziehende Mutter!“ Sie war Ende Zwanzig, hatte aber eine elfjährige Tochter. Soweit Jan wusste, hatte Tessas Vater nach dem Akt der Zeugung nie wieder Interesse an Bonnie oder seiner Tochter gezeigt. „Bonnie, jeder kann sich glücklich schätzen, jemanden wie dich zu haben. Wenn du nicht wärst, hätte ich den Laden längst dicht machen können.“ „Das sei mal dahin gestellt. Ich werden auf jeden Fall nicht gehen, bis das neue Feuerwehrhaus nicht steht“, meinte sie trotzig. „Okay“, sagte Jan und lächelte. „Und wer weiß, ob der Arm bis dahin nicht besser ist. Mein Opa ist 92. Letztes Jahr ist er gestürzt und hat sich den Oberschenkelhals gebrochen. Alle habe gedacht, das ist das Ende, aber heute läuft er wieder herum. Er saugt sogar Staub in seiner Wohnung. Er sieht zwar nicht so viel, aber er saugt Staub.“ Das war typisch Bonnie. In jeder Situation konnte sie eine Geschichte mit Happy End aus dem Hut zaubern. Doch plötzlich stiegen ihr zum ersten Mal Tränen ins Gesicht. „Bonnie?“, fragte Jan irritiert. „Es ist einfach nicht fair. Und das alles nur, weil jemand zu dämlich ist, an einem Stoppschild zu halten.“

Bevor Jan irgendetwas sagen konnte, klingelte es an der Tür. Bonnie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und öffnete die Tür. Es war Elisa. „Hallo“, sagte sie, „ich hoffe, ich störe nicht.“ „Oh, nein, nein“, sagte Bonnie und räumte ihre Tasse weg, „ich sollte eh schon wieder lange an der Arbeit sein. Bitte nehmen Sie Platz.“ Elisa setzte sich. „Alles in Ordnung mit ihr?“, fragte sie, nachdem Bonnie den Raum verlassen hatte. „Ich denke schon. Ich habe ihr nur gesagt, dass ich es verstehen könnte, wenn sie sich einen neuen Job suchen möchte.“ Elisas Herz verkrampfte sich. „Ich hoffe nicht, dass das wirklich nötig ist.“ Jan zuckte die Schulter. „Du musst wütend sein auf den Fahrer“, sagte sie vorsichtig. Er seufzte. „Ganz ehrlich? Manchmal würde ich ihm am liebsten den Schädel einschlagen“, sagte er überraschend erregt. Elisa zuckte zusammen. Jan schnaufte. „Dann wieder denke ich, dass ich einfach Pech hatte. Auf dieses Gefühl versuche ich mich zu konzentrieren.“ Für einen Moment war es still, doch dann nahm Elisa ihren Mut zusammen und fragte: „Und? Hast du was für mich?“ Jan erhob sich und holte ein Bild hinter dem Schreibtisch hervor. „Ich weiß auch nicht so recht, ich habe einfach mal eins genommen“, sagte er. Tatsächlich hatte er von Anfang an gewusst, dass Elisa nur Studie #52 bekommen konnte. Es war eine wilde Mischung aus verschiedenen Rot-, Orange- und Violetttönen in unterschiedlicher Stärke. „Wow“, sagte Elisa. „Darf ich es mal anfassen?“ „Sicher.“ Sie strich über das Zinnoberrot, dass er besonders dick aufgetragen hatte, sodass es förmlich herausstach, und dann über den Hauch von Terracotta. „Wonach schmeckt es?“, fragte sie. „Es schmeckt nach Schokoladencreme mit Himbeeren und Brombeeren.“ „Ernsthaft?“, fragte sie amüsiert. Jan nickte. Sie sah das Bild eine Weile an. „Es ist wunderbar.“ Jan seufzte. „Ich weiß auch nicht… am Ende ist es nie so, wie ich es mir vorgestellt habe. Manchmal erscheint es mir so, als ob es einfach nicht genug Farben gäbe. Ich mische und mische, aber es reicht einfach nicht.“ „Es ist auf jeden Fall gut genug für mich. Wie viel?“ „Nimm's einfach mit“, winkte Jan ab. „Nein, ich möchte es kaufen.“ „100 Euro“, sagte Jan geradeheraus. „Deal.“

Elisa war überglücklich. Mark hatte frei und verbrachte den Abend bei ihr. Mark verbrachte den Abend bei ihr und das neue Bild hing über dem Sofa. „Das ist es, wovon du die ganze Zeit geredet hast?“, fragte Mark. Elisa nickte. „Und was sagst du?“ Mark stöhnte. „Ich weiß nicht… was soll das überhaupt darstellen?“ „Es ist abstrakt.“ „Abstrakt“, sagte Mark verächtlich. „Und dann diese Farben! Rot, meinetwegen, aber orange und pink? Das passt doch überhaupt nicht zusammen.“ „Für ihn schon.“ „Ja, ja, weil er Farben schmecken kann. Schon klar. Wenn du mich fragst, sollte dein Herr Kunstmaler oder Architekt oder was auch immer er ist mal den nächstgelegenen Psychiater aufsuchen.“ „Ach“, sagte Elisa und winkte ab. Mark stellte sein Glas Wein auf den Tisch. „Was hältst du davon, wenn wir die Gefilde der schönen Künste verlassen und uns ganz profanen Dingen zuwenden?“ Er fasste Elisa am Arm und zog sie ins Schlafzimmer. Sie kicherte.

Alle waren wütend. Alle, außer Jans Schwager Klemens, der am Samstag auf seiner Geburtstagsfeier seiner unwissenden Schwester den Zeitungsartikel vorlegte, der Jans Antworten für den Ausschuss wortwörtlich zitierte. Klemens amüsierte sich königlich. Julia war wütend, Kurt war wütend. „Junge, du redest dich noch um Kopf und Kragen“, hatte er gesagt. Julia sagte überhaupt nichts. Jan war wütend, weil er nicht einsah, warum er, nun da alles vorbei war, den Leuten weiterhin in den Arsch kriechen sollte. Der Bürgermeister und der Bauamtsleiter waren wütend. Sie bestellten ihn ins Rathaus, um ihn daran zu erinnern, dass der Rat den Neubau noch nicht abgesegnet hatte und dass seine Einstellung nicht hilfreich war. „Er ist nur bestrebt, das Ganze zügig zu Ende zu bringen“, versuchte sein Schwiegervater zu beschwichtigen. Jan sagte nichts.

Plötzlich klopfte es an der Tür und Schnieders und Elisa traten ein. „Oh, entschuldigen Sie. Ich weiß, wir sind etwas früh dran, aber es war unfassbar wenig Verkehr“, sagte Schnieders. „Kein Problem, wir sind sowieso fertig“, sagte Jan und stand auf. Niemand widersprach vor den Gästen. Der Bauamtsleiter seufzte. „Ich bin sofort wieder bei Ihnen, ich muss nur eben telefonieren“, sagte er und verließ den Raum. „Anscheinend sind wir dazu bestimmt, uns immer wieder über den Weg zu laufen“, sagte Jan grinsend. Elisa grinste ebenfalls: „Sieht ganz so aus.“ Pause. „Das Bild sieht übrigens grandios aus. Mein erster van Drien“, sagte sie mit gespielter Schwärmerei. „Ha“, machte Jan und ging.

Aus irgendeinem Grund waren seine Schwiegereltern schon wieder zum Abendessen da. Sicher, er und Julia hatten viel zu tun. Aber das war früher auch schon so gewesen und er hatte auch mit zwei intakten Armen nicht kochen können. Langsam lief es wirklich aus dem Ruder. Seine Schwiegermutter hatte Rinderrouladen gemacht, die er mühselig mit seiner rechten Hand zu zerkleinern versuchte. „Du scheinst dich ja prächtig mit Frau Wecker zu verstehen“, meinte Kurt. Jan hatte so etwas befürchtet. „Wir haben uns nur über unsere Projekte ausgetauscht. Ich kann auch nichts dafür, wenn das Rathaus uns immer zur selben Zeit einbestellt.“ „Wer ist Frau Wecker?“, fragte Margot. „Die Raumplanerin für das Meyerhof-Gelände“, antwortete Kurt. „Oh, Fräulein Kupferhaar“, spottete Julia. „Wie man hört, hast du ihr ein Bild verkauft“, sagte Kurt. Jan hatte das Gefühl, als ob ihm jemand mit der Faust ins Gesicht geschlagen hatte. „Bild? Was für ein Bild?“, fragte Julia aufgebracht. „So ein altes Ding, habe ich vor Jahren gemalt.“ Nun war es an Julia, sich wie geohrfeigt zu fühlen. „Wie kommst du dazu, ihr ein Bild zu verkaufen? Für wie viel?“ „100 Euro. Mehr nicht. Im Übrigen ist das alles deinem Kollegen Henner geschuldet.“ „Henner? Was hat der damit zu tun?“ „Er hat nach der Sitzung gesagt, wie schön es ist, dass das Feuerwehrhaus keine grüne Küche hat. Wir sind auf das Thema Farbgestaltung gekommen und dann hat sich das irgendwie so ergeben.“ „Irgendwie so ergeben“, echote Julia, nun vollends in Rage. „Wieso warst du überhaupt noch da“, wandte sich Jan an seinen Schwiegervater. „Wir sind mit dem Bürgermeister und seiner Frau nächste Woche zum Essen verabredet und ich wollte ihn nur fragen, ob es dabei bleibt. Als Frau Wecker erzählt hat, wie grandios dein Bild aussieht, ist er natürlich neugierig geworden.“ „Grandios“, meinte Julia tonlos. „Sie hat gesagt, dass du eine Beziehung zu Farben hättest, die normale Menschen nicht nachvollziehen könnten“, sagte Kurt. Jan schaute ihn überrascht an. Julia konnte sehen, dass er sich freute. Ihr traten Tränen in die Augen: „Ich glaube das einfach nicht.“ „Würdest du mal aufhören, so ein Drama daraus zu machen? Das hat nichts zu bedeuten“, fuhr Jan sie an. „Bitte!“, rief Margot und nickte in Richtung der erschrockenen Kinder. Julia knallte ihr Besteck auf den Teller und stand auf. „Ja, ich hör auf. Du hältst ja sowieso nicht davon, mir ihr zu reden“, sagte sie und lief davon.

Jan folgte ihr ins Schlafzimmer. „Julia, bitte lass den Unsinn“, sagte er nachdrücklich. Sie schaute ihm direkt in die Augen. Sie war wütend und stolz und verletzt. „Warum hast du mir nichts von den Bildern erzählt? All die Jahre nicht.“ „Ich dachte, sie gefallen dir sowieso nicht.“ „Wie kommst du denn darauf?“ Ihre Wut schien sich noch zu steigern. „Na ja, wenn dir Rothko und Newman und Olitski schon nicht gefallen...“ „Geht das schon wieder los.“ Julia schüttelte den Kopf. „Es geht nicht um die Bilder, es geht darum, dass du mit die Malerei die ganze Zeit verschwiegen hast.“ „Nun, da kannst du ja froh sein, dass der Arm im Arsch ist und ich nie wieder malen werden“, sagte Jan bitter. Sie ging nicht darauf ein. „Was ist das für eine Beziehung zu Farben, die andere nicht verstehen können?“ Jan seufzte tief. „Ich schmecke Farben.“ „Was?“ „Ich schmecke Farben. Jede Farbe hat ihren eigenen Geschmack. Blau ist Salz. Gelb ist Vanille. Grün sind Tomaten, deshalb die Küche.“ Julia schüttelte verständnislos den Kopf. „Hat das irgendwas mit dem Unfall zu tun?“ „Nein, das war schon immer so“, sagte er sanft. Julia starrte ihn befremdet an. Er wusste, was sie jetzt dachte. Sie dachte, mein Mann hat den Verstand verloren. „Das bildest du dir nur ein“, sagte sie leise. Jan schüttelte den Kopf. Dann verließ er das Schlafzimmer, griff nach dem Autoschlüssel, lief aus dem Haus und fuhr davon.

Es war der erste Abend seit einer Woche, den Elisa nicht im Club verbrachte. Sie war müde, außerdem vermisste sie Mark heute gar nicht so sehr. Sie war gerade dabei, planlos durch das Fernsehprogramm zu zappen, als es plötzlich klingelte. Elisa schlurfte zur Tür. Als sie sie öffnete, erblickte sie zu ihrem Erstaunen Jan van Drien. Sein Gesicht war blass, seine Augen waren gerötet, seine Haare waren noch zerzauster als sonst. „Ich möchte das Bild sehen“, sagte er. „Jan, was...“, erwiderte Elisa verwirrt. Sie schaute in die Einfahrt. „Bist du Auto gefahren? Mit dem Arm? Hast du was getrunken? Jan!“ „Was denn? Hast du Angst, ich könnte einen Unfall haben?“ Er lachte auf. Elisa öffnete die Tür ganz und bat ihn ins Wohnzimmer. Er starrte eine ganze Weile auf das Bild. „Weißt du“, sagte er, nun viel ruhiger, „so etwas habe ich mir immer gewünscht.“

Das Bett quietschte furchtbar laut, doch Elisa und Jan stöhnten noch lauter. Ihr war heiß und sie schwitzte und sie war so erregt, dass sie dachte, dass es sie jeden Moment in Stücke reißen müsste. Sie sah Jan an, der unter ihr lag. Er hatte einen verzerrten Gesichtsausdruck, als ob er nicht vor Lust, sondern vor Schmerzen stöhnen würde. „Alles okay?“, fragte sie atemlos. „Mach weiter, mach weiter“, rief er mühselig. Sie machte weiter, bis es sie nicht mehr zerriss, sondern warmer, funkelnder Strom durch ihren Körper floss.

Elisa blickte zu Jan herüber. Er schlief tief und fest. Was sie getan hatte, beunruhigte sie keineswegs, im Gegenteil. Es fühlte sich normal und notwendig an. Hinterher war sie immer wach. Aber auch das beunruhigte sie nicht, im Gegenteil. Draußen begann es zu grummeln, als ob ein Gebirgsbach unter ihrem Fenster fließen würde. Plötzlich blitzte es und für eine Sekunde schien grelles Licht durch die Jalousien ins Zimmer. Und auf einmal wusste Elisa, woher all ihre Gefühle für Jan van Drien kamen. Sie erinnerte sich an die Party, die Mark an der Hütte am Ostufer des Töppinger Sees gegeben hatte, weit weg vom Stadtzentrum am Nordufer. Sie erinnerte sich an das weiße Pulver, das sie nicht einmal benennen konnte und wie sie es nicht nehmen wollte, weil sie am nächsten Morgen arbeiten musste und wie Mark sagte, „Sei keine Spaßbremse, Li“ und wie sie es doch schnupfte und wie sie in das Auto stieg und nach Hause fuhr und wie es die beste Fahrt ihres Lebens war, weil sie nicht fuhr, sondern flog und wie an der Töppinger Kreuzung ein Blitz aufleuchtete, der keiner war und wie sie ihn im Augenwinkel rotieren sah und wie sie es nicht verstand, weil es die beste Fahrt ihres Lebens war und sie wie ein Vogel im Wind flog und flog und flog, bis die dunkle Nacht sie verschluckte.

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