Books I've Read: Lew Tolstoi - Anna Karenina





Während ich Dostojewskis berühmteste Werke gelesen habe, war Tolstoi mir bisher fremd. Dabei hatte ich schon lange vor, einmal Anna Karenina zu lesen, schließlich landet das Werk auf Listen der besten Bücher aller Zeiten regelmäßig auf einem der obersten Plätze. Was mich bisher immer abgeschreckt hat, war die Länge von gut 1200 Seiten. Da ich aber neulich Urlaub hatte, habe ich mir vorgenommen, Tolstois zweites großes Opus Magnum endlich einmal anzugehen.


Auch wenn Anna Kareninas Ende weit und breit bekannt ist (wie auch der erste Satz: "Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise"), hatte der Roman einige Überraschungen für mich zu bieten. Die erste war, dass sich das Buch keineswegs aussschließlich um Anna Karenina dreht, ja, sie ist nicht einmal die einzige Hauptfigur. Erst nach hundert Seiten erlebt der Leser sie zum ersten Mal. Genau genommen müsste der Roman Die Karenins, die Oblonskis, die Schtscherbazkis, die Wronskis und die Lewins heißen, denn diese fünf mehr oder weniger glücklichen Familien stehen in seinem Zentrum. Der Roman beginnt mit der Ehekrise von Stepan Arkadjitsch Oblonski, genannt Stiwa, und seiner Fraun Darja Alexandrowna, genannt Dolly. Weil ihr Mann sie betrogen hat, will Dolly die Scheidung einreichen. Stepans Schwester, Anna Karenina, macht sich auf dem Weg nach Moskau, um zwischen den beiden zu vermitteln - mit Erfolg. Doch ihr Aufenthalt beginnt mit einem schlechten Omen: Ein Bahnarbeiter wird vom Zug überrollt. In Moskau lernten Anna den schneidigen Graf Wronksi kennen und die beiden verlieben sich ineinander. Dies ist ein harter Schlag für Dollys Schwester Kitty Schtscherbazkaja, die darauf gehofft hatte, dass Wronski ihr einen Antrag macht und dafür die Avancen von Stepans Jugendfreund Konstantin Lewin zurückgewiesen hat. Ihre Liebe zu Wronski kommt Anna teuer zu stehen, denn sie ist verheiratet und hat ein Kind. Während die russische Gesellschaft bei Männer beide Augen zudrückt, ist der Ehebruch einer Frau eine unverzeihliche Sünde. Anna ist zunehmend isoliert und flüchtet sich in Wahnvorstellungen.

Annas gesellschaftlichem Niedergang steht die Entwicklung Konstantin Lewins gegenüber, der zweiten Hauptfigur des Romans. Anders als die anderen Familien des Romans lebt Lewin nicht in den russischen Metropolen, sondern verwaltet das Gut seiner Familie auf dem Land - wie übrigens Tolstoi selbst. Kostja trägt einige autobiographische Züge (man vergleiche seinen Nachnamen und Tolstois Vornamen), doch er ist - anders als sein Schöpfer - manchmal ziemlich von gestern. So missbilligt er Schulbildung für die einfach Bevölkerung und macht sich mit seinen ablehnenden Haltung gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen nicht gerade beliebt. Als Kitty auch noch seinen Heiratsantrag ablehnt, stürzt er sich in landwirtschaftliche Theorien - von Tolstoi auf vielen, vielen Seiten erklärt. Doch Wronksis Liebe zu Anna bietet Konstantin eine neue Chance.

Wenn ich einen Unterschied zwischen Dostojewksi und Tolstoi nennen müsste, dann ist es, dass Dostojewskis Werke (soweit ich sie gelesen habe), eher Charakterstudien sind, während Anna Karenina ein Panorama der russischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts darstellt, genauer gesagt der russischen Oberschicht. Diese verbringt den lieben langen Tag damit, sich gegenseitig zu besuchen und ins Konzert, ins Theater oder auf Bälle zu gehen. Alles in allem ein recht oberflächliches Leben, das Tolstoi jedoch auf erstaunlich plastische Weise darstellt. Ich habe selten ein Buch gelesen, in dem die Personen so lebendig werden wie in Anna Karenina. Man hat förmlich das Gefühl, mit ihnen am Tisch zu sitzen, wenn sie über aktuelle Themen diskutieren oder übereinander herziehen. Daher macht es auch überhaupt nichts, dass Anna Karenina so lang ist, da man einfach furchtbar gerne Zeit mit den Figuren verbringt.

Sicher, Tolstois Roman ist sehr detailliert und so manche Szene ist für den Fortlauf der Handlung nicht wirklich nötig, aber das Buch ist unglaublich interessant. Nicht nur gibt er einen tiefen Einblick in die Psyche seiner Figuren, er diskutiert auch allgemeine, philosophische Fragen und kommt dabei zu zu unzähligen, spannenden Einsichten. Ein Buch, das so unterhaltsam wie geistreich ist. Dazu trägt auch die wunderbare Neuübersetzung von Rosemarie Tietze bei, die zum einen sehr werkgetreu (ich empfehle unbedingt den sehr aufschlussreichen Anhang zu lesen) und zum anderen ausgesprochen frisch ist.

Fazit: Perfekt.

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