Books I've Read: Nancy Isenberg - White Trash





Nancy Isenberg hätte sich wahrscheinlich nicht träumen lassen, wie aktuell ihr Buch bei Erscheinen sein würde. Mit der US-Wahl rückte auch wieder die weiße Unterschicht in den Fokus, die diesmal nicht vorzugsweise die Demokraten wählte, sondern in Scharen zu den Republikanern überlief und ausgerechnet Donald Trump als ihr Sprachrohr ansah. Der Titel White Trash wirkt zunächst recht provokativ, dabei nimmt Isenberg nur auf, wie die Unterschicht in den USA oft wahrgenommen wird - und das bereits seit Kolonialzeiten.

Der Untertitel "The 400-Year Untold History of Class in America" ist Hinweis darauf, dass Klassenunterschiede kaum eine Rolle im amerikanischen Bewusstsein spielen (anders als die Unterschiede zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen). Klasse wird in den USA nur allzu gern als ein altes, britisches Relikt angesehen, das man mit der Besiedlung, spätestens aber mit der Unabhängigkeit, hinter sich gelassen hat. Isenberg macht deutlich, dass nichts von der Wahrheit weiter entfernt sein könnte und räumt genüsslich mit dem Gründungsmythos auf. Das fängt beim Thanksgiving-Feiertag an, der erst während des Bürgerkriegs von der Geflügelindustrie ins Leben gerufen wurde. Die ersten Siedler waren keineswegs überwiegend noble Puritaner. Die neue Welt war für Großbritannien nichts anders als die Mülldeponie für ihre arme und kriminelle Bevölkerung. Um die Straßen Londons von den Armen zu "säubern", hat man diese massenhaft nach Nordamerika verschifft. Dort sollten sie das Land bewirtschaften, damit aus den "idlers" vielleicht doch noch produktive Mitglieder der Gesellschaft würden. In erster Linie brauchte man jedoch Arbeitskräfte, die man verschleißen konnte. Die Arbeit war hart und die Leute starben wie die Fliegen. Nachgetrauert hat ihnen niemand, denn aus dem Mutterland kam immer wieder Nachschub an neuen Armen, die man verheizen konnte. Es war die Geburtsstunde der "waste people". Waste, trash - die Armen waren Müll.

Die USA waren alles andere als eine klassenlose Gesellschaft. Vielmehr wurden die englischen Klassen nach Amerika implantiert. Die Plantageneigentümer waren die, die auch schon in England zur den Wohlhabenderen gehörten, während die Armen arm blieben. Große amerikanische Denker philosophierten darüber, was man mit der Unterschicht anstellt, die als faul und degeneriert angesehen wurde. Einige meinten, dass man sie mit harter Arbeit "reformieren" könne, während Verfechter der Eugenik forderten, dass man die Armen sterilisieren müsse, damit sie ihre "genetische Minderwertigkeit" nicht auch noch weitergeben.

Crackers und squatters waren die Ausgestoßenen der amerikanischen Gesellschaft. Das änderte sich erst, als der aus relativ armen Verhältnissen stammende Andrew Jackson Präsident wurde. Seinen politischen Gegner schmeckte Jacksons bescheidene Herkunft gar nicht und sie fuhren während des Wahlkampfs die wohl erste Schmutzkampagne der amerikanischen Geschichte auf. In der Bevölkerung hingegen wurden die Crackers plötzlich Sympathieträger und beide Parteien versuchten schließlich, sich als Vertreter des kleinen Mannes darzustellen. William Henry Harrison behauptet gar, aus der hintersten Provinz zu kommen, obwohl er aus einer reichen Plantagenbesitzerfamilie aus Virginia stammte. Damit hatte er 1840 mehr Erfolg als Martin Van Buren, der als elitärer Ostküstenvertreter nicht die Massen für sich begeistern konnte (man beachte die Parallelen zur Gegenwart).

In der Regel wurde die Unterschicht mit Abscheu betrachtet, wenngleich einzelne Vertreter eine Art Kultstatus erreichten - von Abraham Lincoln bis Elvis Presley. Die meiste Zeit war man sich einig, dass die Armen an ihrer Misere selbst schuld sind und sie einfach nur mal hart arbeiten müssten, um ihre Situation zu verbessern. Das änderte sich zeitweise während der Großen Depression, als plötzlich ein Viertel aller Amerikaner ohne Job waren und man Arbeitslosigkeit nicht länger als selbstverschuldet abtun konnte. Einer der wenigen Präsidenten, der die Situation der Armen wirklich verbessern wollte, war Lyndon B. Johnson. Mein liebstes Zitat aus dem Buch stammt von ihm: "If you can convince the lowest white man he's better than the best colored man, he won't notice you're picking his pocket. Hell, give him somebody to look down on, and he'll empty his pockets for you." Damit fasst er ein Dilemma zusammen, dass nicht nur für die USA gilt: Die Oberschicht nutzt die Abstiegsangst der unteren Mittelschicht. Die Menschen nehmen die schlechtesten Arbeitsbedingungen in Kauf, damit sie keine von "denen" werden, Arbeitslose, die den ganzen Tag vor dem Fernseher hocken und Bier trinken. Man schaue sich nur an, wie Sozialhilfeempfänger in den letzten Jahren auch bei uns dargestellt wurden.

"Today as well we have a large unbalanced electorate that is regularly convinced to vote against its collective self-interest", schreibt Isenberg. Das ist wohl nie so deutlich geworden wie bei dieser Wahl. Doch was kann man tun? Vielleicht würde mehr Ehrlichkeit helfen. Ehrlich sagen, dass der amerikanische Traum eine Illusion ist, dass viele hart arbeiten, aber trotzdem arm bleiben. Ehrlich sagen, dass Arme nicht von Natur aus minderwertig sind, und dass staatliche Unterstützung Menschen nicht zwangsweise zur Faulheit animiert. Der erste Schritt ist jedoch nach 400 Jahren endlich anzuerkennen, dass es Klassen auch in den USA existieren und immer existiert haben. Dazu leistet Isenbergs aufschlussreiches und enorm wichtiges Buch einen Beitrag.

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