Litauen VII: Von Aleph bis Zappa

Nach dem ganzen Horror musste ich mich erstmal ablenken und bin ins „Tiger“ gegangen, um Mitbringsel für die Familie zu kaufen. Dort findet man alles von Schreibwaren über Spielsachen bis hin zu Küchengeräten. So ähnliche Geschäfte hatte es auch in Melbourne gegeben und ich habe sie geliebt, aber im Gegensatz zu Melbourne war in Vilnius alles bezahlbar, einzig der Platzmangel in meiner Tasche verhinderte ein shopping spree.

Anschließend habe ich mich daran gemacht, alle jene Sehenswürdigkeiten abzuklappern, die mir bisher noch fehlten. Zuerst machte ich einen Abstecher zur Büste von Frank Zappa, die man vielleicht nicht unbedingt in Vilnius erwartet, but there it is. Meines Wissens ist es das erste Denkmal von Zappa außerhalb der Vereinigten Staaten. Danach ging es weiter zum ehemaligen YIVO-Institut, das am westlichen Rand der Altstadt liegt. Das war ein bedeutender Ort für das Jiddische, aber heute gibt es nichts, das daran erinnert. Das Gebäude ist nicht mehr ganz taufrisch und im Erdgeschoss ist heute ein Friseur. Gegenüber war übrigens das Hauptquartier der SS. In der Nähe gibt es auch ein kleines, aber sehr schmuckes Theater.

Frank Zappa

ehem. YIVO-Gebäude

Theater
A propos Theater: Danach ging ich zurück zum Gediminos Prospektas zum dortigen Theater, das von außen nicht sehr ansprechend ist. Mit einer Ausnahme: Über dem Eingang befinden sich drei Musen – schwarz, mit goldenen Gesichtern – die Komödie, Tragödie und Drama repräsentieren. Da Litauen ja nun so berühmt für seine Kirchen ist, dachte ich mir, ich müsste mir wenigstens noch eine ansehen. Ich habe mich schließlich für die Peter-und-Paul-Kirche entschieden, da diese von allen Seiten gelobt wurde. Sie liegt im Nordosten der Stadt, sodass ich über den Kathedraleplatz am Gediminashügel vorbeigegangen bin. Dort liegt auch das Litauische Nationalmuseum, das ich mir aber nicht angesehen habe.


Ich ging die T. Kosciuškos gatvė entlang, eine breite Kopfsteinstraße, die parallel zur Neris verläuft, dem zweiten und größeren Fluss in Vilnius. Von außen sah die Kirche zwar ganz gut aus, aber nicht sonderlich speziell, der Putz bröckelte ein wenig. Kaum dass ich sie jedoch betreten hatte (nachdem ich mich an einer Hochzeitsgesellschaft vorbeigekämpft hatte), fielen mir fast die Augen aus dem Kopf. Überall an den Wänden waren Stuckskulpturen, angeblich an die 2000, überwiegend Engel. Weitere Highlights war ein Schiff aus Gold und Kristall (ob echt kann ich nicht beurteilen), das in der Mitte hing und die gigantische Orgel über dem Eingang.



Sonst gab es all die Dinge, die in osteuropäischen Kirchen üblich sind, allen voran Gemälde, wobei Johannes Paul II. und auch „The Sacred Heart of Jesus“ natürlich nicht fehlen durften. Dazu gab es noch einige Statuen, u.a. von Franz von Assisi. Das alles war selbstverständlich protzig ohne Ende, aber trotzdem muss ich sagen, dass ich es sehr beeindruckend fand. Kaum zu glauben, wie viel Arbeit darin stecken muss! Vielleicht ist es sogar die beeindruckendste Kirche, die ich je betreten habe.






Danach machte ich mich langsam auf den Rückweg, zumal es zwischendurch immer wieder regnete, wenn auch nicht übermäßig stark. Ich ging durch die Lydos gatvė im ehemaligen Ghetto, da ich unbedingt noch das eine Haus fotografieren wollte, über dessen Eingang sich eine Hand befand, die einen Regenschirm hielt. So richtig von den Socken war ich jedoch erst, als ich an der Wand neben mir hoch schaute: Dort standen vier Zeichen an der Wand, aber Moment – sind das nicht hebräische Buchstaben? Teile waren schon abgeblättert, aber das eine sieht doch aus wie ein Ayn? Und das andere wie ein Mem? Der erste und letzte Buchstabe waren absolut nicht mehr zu identifizieren, dennoch wurde ich ganz kribbelig bei der Aussicht, dass es sich dabei vielleicht um ein Originalüberbleibsel des jüdischen Vilnius handelt. Ich wollte so sehr, dass dies der Fall ist. Die Nazis und die Sowjets haben alles, alles zerstört und ich wollte einfach, dass noch irgendetwas von damals übrig ist, irgendetwas, das zwei Diktaturen überlebt hat – und wenn es nur vier Buchstaben sind.



Ich machte ein Foto des „Beweisstücks“, sodass eine ältere Frau, die kurz darauf daran vorbeiging, die Buchstaben ganz verwirrt ansah, da sie für sie wahrscheinlich völlig bedeutungslos waren. Ein Stück weiter gab es noch eine weitere Gedenktafel an der Wand, auf der geschrieben stand: Dem 7-ten september 1941 zeynen oyf der doziker gas tsunoyfgetribn gevorn merer vi 2 toyzend yidn velkhe men hot shpeter derharget in ponar (Am siebten September 1941 wurden auf dieser Straße mehr als 2000 Tausend Juden zusammengetrieben, die man später in Ponar ermordet hat).


Danach bin dann aber wirklich zurück ins Hostel gegangen, da ich keinen Schritt mehr laufen konnte. Dummerweise habe ich auch festgestellt, dass meine Chucks mit dickeren Socken etwas zu klein waren, dabei war es schon Größe 43!!! Wie gemein! Ich will auch normale Füße. Im Hostel selbst war die Hölle los, das Zimmer war voll belegt und da Samstagabend war, haben sich alle darauf vorbereitet, auszugehen,  aber ich wollte nur noch im Bett liegen und lesen. So weit, so gut, aber dann fragte der eine Pole, ob ich immer lesen würde. Ich fand die Frage so doof, dass ich einfach „ja“ gesagt habe. Er fragte daraufhin, ob ich mir denn nicht auch mal das Land ansehen wolle. „Ähm, ich war den ganzen Tag unterwegs?!“ „Ach, tatsächlich?“ „Ja?!“ Das sind die Hostelunterhaltungen, die ich so liebe.



Außerdem habe ich Ohne Furcht und Tadel von Evelyn Waugh gelesen, auch bekannt als die Sword of Honour-Trilogie. Das ist kein Buch, das man so einfach aus der Hand legt. Ich hatte das Buch eingepackt, ohne wirklich zu wissen, worum es geht, aber wie sich herausstellte, war es der größtmögliche Kontrast zu meinem Ausflugsprogramm. Während ich tagsüber mit dem Horror des Zweiten Weltkriegs und den Folgen konfrontiert wurde, war der Roman eine Satire über eben diesen Krieg.



Der Protagonist, Guy Crouchback, ist ein reicher Sohn, der mit knapp Vierzig nichts auf die Reihe gekriegt hat und sich nach Kriegsausbruch freiwillig meldet, um wenigstens als Held zu sterben. Dumm nur, dass es als Angehöriger der Upper Class mit der Armee gar nicht so einfach ist. Er wird in ein Edel-Regiment gesteckt, wo die Ausbildung praktisch ewig dauert. Letztendlich bekommt Guy die Front nie zu Gesicht, einzig bei der extrem chaotischen Evakuierung von Kreta ist er dabei. Am Ende des Krieges ist er immer noch lebendig und vor allem ziemlich desillusioniert, da das Soldatentum lange nicht so glorreich ist, wie er gedacht hatte. Der Roman ist in weiten Teilen autobiographisch und, typisch für Waugh, beißend komisch. Man hat den Eindruck, die britische Armee besteht aus nichts weiter als einem Haufen Idioten, die u.a. ihre Zeit damit verschwenden, nicht existente Verschwörungen aufzudecken. Zumindest kann man so erahnen, warum es so lange gedauert hat, die Nazis zu besiegen.

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