Litauen IX: Noch einmal Vilne

Wieder in der Stadt angekommen, machte ich damit weiter, mir die Dinge anzusehen, die ich bisher nicht gesehen hatte. Ich ging noch einmal in die Rūdninkų gatvė, wo ich vergeblich nach zwei Gedenktafeln gesucht hatte, aber diesmal war ich wenigstens so schlau gewesen, mir die Hausnummern zu merken. An der Nummer 18 fand ich schließlich die Tafel, die an das große Ghetto erinnerte. Der Text war derselbe wie beim kleinen Ghetto, abgesehen davon, dass von dort aus mehr als 30.000 Menschen nach Ponar geschickt wurden.




Schließlich ging ich auch in den richtigen Innenhof, den von Nummer 8 und nicht von Nummer 4 und 6. Dort befand sich die Gedenktafel, die an den Judenrat (Judenratas auf Litauisch) erinnerte. Der Judenrat war eine administrative Behörde, die die Nazis zusammenstellten. Meist handelte es sich um führende Mitglieder der ehem. kehile, Gemeinde, die dann gezwungen waren, für die Ausführung von Nazi-Befehlen zu sorgen, z.B. die Einsammlung von Wertsachen oder die „Bereitstellung“ von Zwangsarbeitern.



Gleichzeitig versuchte der Judenrat aber auch, das Leben im Ghetto zu organisieren, quasi ein Stück Normalität in der Hölle zu schaffen. Es wurden Krankenhäuser und Schulen aufgebaut, mitunter sogar Theater und Orchester. Zudem gab es eine Art Sozialamt, das versuchte, den besonders Bedürftigen zu helfen. Heute ist es schwer vorstellbar, wie sie es geschafft haben, unter so monströsen Bedingungen eine Art Gemeinwesen zu etablieren, auch wenn natürlich alles nur von kurzer Dauer und letztendlich vergebens war.



Auf der Gedenktafel in der Rūdninkų gatvė 8 steht folgendes: In der doziker gebayde iz geven der yudnrat. Oyfn hoyf hot men dem 3-ten november 1941 opgeklibn tsu farnikhtn 1200 yidn (In diesem Gebäude ist der Judenrat gewesen. Auf dem Hof hat man am 3. November 1941 1200 Juden ausgewählt, um sie zu vernichten).



In der Rūdninkų gatvė befindet sich auch ein Denkmal für Tsemakh Shabad, das ihn mit einem Kind zeigt. Shabad (1864-1935) war Arzt, aber auch sozial und politisch engagiert, u.a. in der Unterstützung von Kriegflüchtlingen. Er saß auch im Senat der zweiten polnischen Republik. Zudem zählt er mit seinem Schwiegersohn Max Weinreich (dem berühmten Linguisten) zu den Mitbegründern des YIVO.


Ich konsultierte noch einmal meinen Reiseführer, aber ich hatte so ziemlich alles gesehen, was ich sehen wollte und bin zurück zum Hostel gegangen. Außerdem hatte ich auch ziemlich Hunger. Nur auf meinen Abendkaffee musste ich verzichten, da mir jemand ein Paket geklaut hatte und ich das letzte für den nächsten Morgen behalten wollte. Grrr!



Zu meiner Überraschung war das Hostel am Abend wie ausgestorben. Ich war gerade in mein Buch vertieft, als es plötzlich an das Fenster klopfte. Nach dem ersten Schock sah ich, dass es sich um die beiden Polen handelte. Sie wollten ihre Sachen abholen, aber es war niemand an der Rezeption, weswegen ich sie hereinlassen musste, wofür sie sich auch bedankten. „No worries, although you just scared me to death!“, erwiderte ich. “You just came back?” “No, you scared me to death, because you were knocking on the window!”, sagte ich mit vielen Gesten. “But I am not a ghost!”, antwortete er verwirrt. Uff. “Never mind!”



Nachdem ich später noch eine Gruppe zum Sachen abholen hereingelassen hatte, kam schließlich auch noch die Rezeptionistin in mein Zimmer. Sie klärte mich darüber auf, dass ich die Nacht allein im Hostel verbringen müsste, da sie in dem anderen sei. „And I can’t be in two places at the same time!“ Okay… Sie gab mir bereits mein key deposit zurück, mit der Bitte, den Schlüssel am Morgen auf den Tisch in der Rezeption zu legen. Eigentlich bat sie mich sogar zweimal. „Please be good and leave the key!“ „Yes, yes , I will…”, seufzte ich und sie rauschte ab. Also bitte, sehe ich aus wie jemand, der vergisst, den Schlüssel morgens abzugeben? Okay, okay, aber nach dem einen Mal habe ich meine Lektion gelernt.

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