Litauen I: Prolog - Der Poet Fun Geto

Am Ende ist es meist ein Buch. Wenn ich verreise, spielen in der Regel zwei Überlegungen einen Rolle: Wo war ich noch nicht, und: Was gibt die Reisekasse her? Da dies aber immer noch eine kaum zu überblickende Anzahl an Ländern produziert (hauptsächlich wegen des ersten, weniger wegen des zweiten Punkts), reise ich letztendlich oft in Länder, die mir schon durch die Literatur mehr oder weniger vertraut sind, die so mein Interesse geweckt haben.

Dieses Jahr habe ich mich also für Vilnius entschieden. Natürlich hatte ich durch das Judaistikstudium schon oft vom „Jerusalem des Nordens“ gehört, aber so richtig auf der Liste hatte ich die Stadt erst, nachdem ich Abraham Sutzkevers Gedichte kennen gelernt habe. Sutzkever wurde am 15. Juli 1913 in Smorgon bei Vilnius geboren, floh aber wenige Jahre später mit seiner Familie nach Omsk in Sibirien, nachdem die deutsche Armee Smorgon während des ersten Weltkriegs niedergebrannt und die jüdische Bevölkerung vertrieben hatte. In Omsk starb 1920 Sutzkevers Vater, ein Rabbiner ohne Ordination, sodass seine Mutter 1922 mit ihm nach Vilnius zurückkehrte. Er besuchte dort ein hebräisch-jiddisches Gymnasium und wurde einer der führenden Autoren der Dichtergruppe Yung Vilne (junges Vilnius), eine der wichtigsten Gruppen moderner, jiddischer Lyrik.

Seine Gedichte lösten definitiv etwas in mir aus, auch wenn ich gar nicht so viele von ihm gelesen habe. Leider Gottes gibt es meines Wissens nur einen deutschen Band mit seinen Werken und ich hasse es, Gedichte in Übersetzungen zu lesen. Ich verstehe nicht, warum es keine zweisprachige Ausgabe gibt, meinetwegen auch in Transkription. Über Reyzl Zhykhlinksi (bzw. Rajzel Zychlinksi wie ihr Name oft fälschlicherweise transkribiert wird) gibt es zwei sehr schöne zweisprachige Anthologien, warum also nicht auch über Sutzkever? Auf jeden Fall gibt es ein Gedicht von ihm, das mich besonders berührt hat und das ich unbedingt hier zitieren muss, weil es der Auslöser von allem war:


Der Fremde

Was jag ich dir hinterher ohne Sinnen wie jene Nacht,
als du dich eingehüllt in die Sterne und mich angelacht?
Jetzt: wo bist du und auf meinen Lippen dein Atem heiß –
Ich beneid das Skelett, das ich warm zu deinen Füßen weiß.
Mit Nimmerlippen saugt es statt meiner deinen roten Mohn,
mit toten Augen schmilzt es dir die Brust, mein Medaillon,
und all die unterlassne Zärtlichkeit, sie wird durch ihn erfühlt,
ein Maler, ungesättigt von der Farb in seinem Bild.
Du bist beleidigt, weil ich deinen Weg nicht mitgegangen bin,
hast dich gerächt – auf ewig gabst du dich dem Fremden hin.
Trennt mich von dir auch nur die Rasenschicht,
bin ich dir fern wie eines Sterns erloschen Licht.
Den Schatten aber, raschelnd wie dein Seidenkleid,
hast du mir hergeschickt, da ist er mir zur Freud.
Er fließt, ein lebender Schatten, durch meinen Sinn,
ich schwimm in ihm zum Lächeln in deiner Stimme hin,
nur dich berühren kann ich nicht. Du tust es mir zur Straf –
der Fremde wie ein beinern Schwert bewachet deinen Schlaf,
dein Schweigen nun nach all so vielem stürmischen Geschweb…
und ich muss weiter sehnen ohne Sinn. Und sehne mich.
Und leb –
(aus: Witt, Hubert (Hrsg.). Der Fiedler vom Ghetto: Jiddische Gedichte aus Polen. Leipzig: Reclam Verlag, 1993.)

So viel Trauer und Verzweiflung verpackt in so wunderschöner Sprache, wer wäre da nicht ergriffen? Es sind aber nicht nur die Gedichte, sondern auch das Buch: „Wilner Getto 1941-1944“, in dem er seine Zeit im Wilner Ghetto beschreibt. Auch wenn es in der ersten Person geschrieben ist, ist es erstaunlich unpersönlich: Sutzkever erzählt kaum von sich selbst, sondern präsentiert in nüchterner, sachlicher Sprache die nackten grausamen Fakten. Bei so einer Brutalität ist einfach kein Platz für rhetorische Stilmittel, trotzdem ist es so eindringlich wie ein Buch nur sein kann. Das einzige Buch, dass ich bisher gelesen habe und noch grauenhafter ist, sind die Zeugenaussagen ehemaliger KZ-Häftlinge; ein Buch, dass ich nach spätestens fünf Seiten erstmal wieder für eine Weile aus der Hand legen musste, da ich mehr Gräuel nicht ertragen konnte.

Sutzkevers Buch ist anders, da ich es wirklich nur schwer bei Seite legen konnte, aber es ist schon sehr, sehr starker Tobak. Wenn man nur ein Buch über die Shoah lesen will, dann entweder „Maus“ von Art Spiegelman oder „Wilner Getto“. Wie ihr euch gedacht habt, war Sutzkever selbst im Ghetto gefangen, gehörte aber zu den ganz wenigen, die es geschafft haben, in die Wälder zu fliehen und sich den Partisanen anzuschließen. Seine Gedichte wurden in Russland bekannt (sie wurden sogar von Boris Pasternak übersetzt), sodass man ihn und seine Frau 1944 nach Moskau ausgeflogen hat. Später sagte er bei den Nürnberger Prozessen als Zeuge aus und emigrierte nach Palästina. Glück für ihn, denn wäre er in Russland geblieben, wäre er wohl 1952 zusammen mit den anderen jiddischen Dichtern ermordet worden. Im Land gründete er die Literaturzeitschrift Di goldene keyt (Die goldene Kette), das wichtigste Medium für moderne, jiddische Lyrik (bedauerlicherweise wurde sie in den Neunzigern eingestellt).

Am 19. Januar 2010 starb Sutzkever in Tel Aviv, im Alter von 96 Jahren. Obwohl es bei seiner Biographie schon fast an ein Wunder grenzt, dass er überhaupt so alt geworden ist, war ich sehr traurig und weinte nicht nur um ihn, sondern auch ein bisschen um das Jiddische. Mit Abraham starb der letzte große jiddische Dichter, und mit ihm auch ein weiteres Stück dieser wunderschönen Sprache. Und es ist eine traurige Ironie, dass Sutzkever, weil er in Jiddisch dichtete, in Israel noch unbekannter ist als Europa, denn Jiddisch ist dort immer noch weitgehend verpönt, „Zhargon“ etc. Sogar in Litauen sind sie im Parlament aufgestanden und haben eine Schweigeminute für ihn eingelegt. Ich denke, die Gedichte von Sutzkever, Zhykhlinski und anderen waren einer der Hauptgründe, warum ich Judaistik studiert habe, weil ich ihre Sprache verstehen wollte.

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