Litauen III: Vilne

Am nächsten Tag habe ich mich aufgemacht, das jüdische Vilnius, Vilne auf Jiddisch, zu erkunden. Wie der Zufall es so will, war ich genau siebzig Jahre nach Beginn des Russlandfeldzuges und der Errichtung des Ghettos nach Vilnius gekommen. Nachdem der starke Regen am Morgen nachgelassen hatte, bin ich zunächst zum Rathaus gegangen, wo sie eine Karte mit Sehenswürdigkeiten des jüdischen Vilnius haben. Eine recht überschaubare Anzahl. Wie ich erwähnte, war Vilnius eine der wichtigsten Städte des aschkenasischen Judentums. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten 100.000 Juden in Vilnius und 240.000 in ganz Litauen. In Vilnius wurde auch das berühmte YIVO gegründet, Abkürzung für yidisher visnshaftlekher institut, das sich heute in New York City befindet.



Zuerst wollte ich in das jüdische Museum, das nach dem Vilner Gaon benannt wurde. Der Gaon von Wilna war einer der bedeutendsten Gelehrten des osteuropäischen Judentums, angeblich konnte er schon mit sechs Jahren den Talmud auswendig (was ich ja kaum glauben mag), und wurde insbesondere für seine Ablehnung des Chassidismus bekannt. Er ist auch so ziemlich der einzige litauische Jude, der auch unter Nichtjuden berühmt ist auf und auf den man dort stolz ist.



Das „staatliche jüdische Museum des Vilner Gaon“, so der offizielle Name, gliedert sich in zwei Hauptteile: das Toleranzzentrum und das Holocaustmuseum. Zuerst bin ich zum Toleranzzentrum in die Naugarduko gatvė gegangen. Vor dem Eingang stand ein älteres Paar, das wie sich herausstellte aus Kanada kam, und wir sind zusammen herein gegangen. Im Kellergeschoss gab es eine Garderobe, wo eine ältere Dame Tickets verkaufte. Das Paar fragte nach Seniorenrabatt, obwohl der Eintritt nur 5lt gekostet hat. Ich finde, bei so einem Preis kann man auf Rabatt verzichten, zumal es ja auch für einen guten Zweck ist. Aber sie haben zwei Karten zum Preis von einer bekommen. Schließlich sah die Kassiererin mich an: „And you?“ „I’ll have a, uhm, normal ticket?“, meinte ich achselzuckend. „I guess she doesn’t want to be a senior!“, spottete die Kanadierin.



Die Ausstellung begann im dritten Stock, sodass wir mit dem Aufzug hochgefahren sind, danach haben sich unsere Wege jedoch getrennt. Ich war sofort Feuer und Flamme als ich sah, dass es eine Ausstellung über Yung Vilne gab! Es hing dort ein Foto, das die ganze Truppe zeigte, u.a. Sutzkever in seinen frühen Zwanzigern sowie seine bekanntesten Mitstreiter Chaim Grade und Leyzer Volf. Es gab auch Bilder von Rochil Sutzkever zu sehen (nicht mit Abraham verwandt so weit ich weiß), die von den Nazis ermordet wurde. Der absolute Höhepunkt war jedoch der Abdruck einer Manuskriptseite von Abraham. Das hat mich sehr glücklich gemacht.



Auf der Etage gab es zudem noch Ritualgegenstände, die man aus dem Ghetto gerettet hat. Im Stockwerk darunter befanden sich Gemälde, u.a. von Marc Chagall, der Vilnius einmal besucht hat. Ein weiterer Höhepunkt waren für mich aber die Bilder Samuel Baks. Bak war ebenfalls im Ghetto gefangen, wo Sutzkever auf ihn aufmerksam wurde, da er bereits als Neunjähriger überein außerordentliches künstlerisches Talent verfügte. Sutzkever hat versucht, dem kleinen Samuel und seiner Mutter zu helfen, die letztendlich Unterschlupf in einem Kloster fanden, während der Rest von Baks Familie, u.a. sein Vater, ermordet wurde. Die beiden lebten zunächst in DP-Camps in Deutschland, bevor sie nach Israel auswanderten, wo Bak heute noch lebt. Leider gab es nur einige Bilder aus den Siebzigern, da seine Werke aus dem Ghetto verloren sind, aber es war trotzdem toll, etwas von ihm zu sehen, nachdem ich nur über ihn gelesen hatte.



Im Erdgeschoss (bzw. im ersten Stock für Litauer) befand sich eine Chronologie der Geschichte der litauischen Juden vom Mittelalter bis heute auf Litauisch und Englisch. Es ging um die antisemitischen Gesetze der Zarenzeit und den Kampf für die litauische Unabhängigkeit, an dem auch viele Juden beteiligt waren, die von den Litauern jedoch nie als Litauer akzeptiert wurden. Es war ihnen auch nicht möglich, sich verbeamten zu lassen.



Und natürlich ging es auch um das Ghetto. Der Untergang des „Jerusalem des Nordens“ begann dabei schon 1940, während der sowjetischen Besetzung, die jüdische Organisationen und Zeitungen dicht machte. Die Nazis waren natürlich der endgültige Todesstoß. Im Gegensatz zu den polnischen wurden nur wenige litauische Juden in KZs deportiert; meist hat man sie direkt an Ort und Stelle erschossen. Was die Juden von Wilna betrifft, so wurden sie in die Wälder von Paneriai (jiddisch Ponar) gebracht und dort in Massen exekutiert, worauf ich später noch genauer eingehe. Insgesamt 94 Prozent der Vilner Juden fielen dem Naziterror zum Opfer.



Ghettos gab es auch in Kaunas, Šiauliai und Klaipėda. Dabei gab es so einige Litauer, die den Nazis bei ihren Gräueltaten zur Hand ging, auch wenn im Nachhinein niemand sagen konnte, warum er das getan hat. Einer berichtete, dass er pro Tag 500 Menschen erschossen hat. Er sei von den Nazis nicht gezwungen worden, sondern ist einfach hin und hat diese Menschen getötet. Und warum er das getan hat, wusste er nicht. Ähnlich war es auch bei den Litauern, die Juden geholfen haben, auch sie wussten nicht, warum. Bei ihnen lag es aber wohl eher daran, dass es für sie eine Selbstverständlichkeit war, Menschen in Not zu helfen. Wie sagte eine Frau sinngemäß: „Keine Diktatur der Welt kann Menschen davon abhalten, sich menschlich zu verhalten.“



Schließlich ging es noch um die Sowjetjahre. Die Sowjets haben die letzten Reste der jüdischen Kultur zerstört, z.B. haben sie die Große Synagoge platt gemacht, obwohl sie wieder hätte aufgebaut werden können. Ganz zu schweigen davon, dass sie jiddische Medien verboten und Menschen deportiert und ermordet haben.



Nebenan gab es noch einen Raum, der sich den jüdischen Kindern zuwandte. Einige von ihnen hatten das Glück, von Litauern gerettet zu werden. Manche haben z.B. jüdische Kinder als ihre eigenen ausgeben und/oder behauptet, sie wären nur von Juden adoptiert worden, seien aber in Wahrheit goyish. Das war sehr mutig von ihnen, denn so manche Litauer, die Juden versteckten, wurden dafür ermordet.



Zu Beginn der Ausstellung hatte man einen Stein mitnehmen können, um ihn auf das Denkmal für die Kinder zu legen, gemäß dem jüdischen Brauch, beim Besuch eines Grabes einen Stein auf das Mal zu legen. Das Mahnmal befand sich in einer kleinen, dunklen Nische. Ich legte den Stein nieder und plötzlich leuchtete der Raum auf und die verschiedenen Kinderfotos wurden Stück für Stück sichtbar. Das war sehr bewegend. Es hat mich ein bisschen an das Denkmal für die ermordeten Kinder in Yad Vashem erinnert. Dies befindet sich in dem dunkelsten Raum, den man sich vorstellen kann, so dunkel, dass man nicht in die Hand vor Augen sieht. Wenn man jedoch ein Stück weiter geht, tauchen plötzlich tausende kleine Lichter auf, ein Licht für jedes tote Kind. Sie sind überall, so dass man das Gefühl hat, im Weltraum zu schweben, von nichts anderem umgeben als von tausenden, kleinen Sternen.



Insgesamt verbrachte ich anderthalb Stunden in dem Museum. Es ist wirklich sehr sehenswert und ich würde es jedem empfehlen, der nach Litauen fährt. Danach bin ich in den Reformatų parkas gegangen, ein Park mit vielen Steinstufen, um mein Sandwich zu essen. An dem Tag habe ich ziemlich durchgehangen, trotz neun Stunden Schlaf plus einer Dreiviertelstunde dösen nach dem Frühstück war ich immer noch hundemüde und mein Kopf war kurz vorm Explodieren. Ich hatte nicht mal richtig Lust auf mein Sandwich, was aber nur teilweise an meiner Verfassung lag. Das Graubrot, das typische Osteuropagraubrot, war nicht besonders geschmackvoll, ebenso wie die fast weiße Butter und der pappige Käse. Wenigstens war die Gurke okay.



Während ich den kleinen Vögeln und ihrer Mutter beim Baden in der Pfütze zusah, überlegte ich ernsthaft, ob ich mir das Holocaustmuseum auch noch „antun“ sollte, denn das Toleranzzentrum war schon ein harter Brocken gewesen. Gleichzeitig kam mir das unglaublich dumm und beschämend vor. Diese Menschen haben so unvorstellbares Leid durchmachen müssen und ich ertrage es nicht mal, davon zu hören? Das kann’s doch auch nicht sein. Also machte ich mich auf in die Pamėnkalnio gatvė.



Fast wäre das ganze aber noch an meiner Orientierungslosigkeit gescheitert. Ich bin die Straße entlanggegangen, aber ich konnte das Museum nicht finden. An ihrem Ende hatte ich dann endlich mal die brillante Idee, in meiner Karte nachzusehen, welche Hausnummer das Ding eigentlich hat: 12. Als ich zurückgegangen bin, stand dort auch ein Hinweisschild: žydų muzieju, jüdisches Museum. Man musste eine Einfahrt hoch, an deren Ende sich ein grünes Holzhaus befindet.



Ich musste erstmal klingeln und eine Weile warten, bis ich hereingelassen wurde. Die Frau, die mir das Ticket verkaufte (ebenfalls 5lt) schien nicht übermäßig erfreut, dass ich aus Deutschland kam, aber kann ich es ihr verübeln? In den Ausstellungsräumen selbst befand sich ein Paar, das von einer weiteren Frau herumgeführt wurde. Ich schaute mir die Plakate an, die sich zunächst um berühmte litauische Juden drehten, wie den Vilner Gaon natürlich und S. Ansky. Ansky kam eigentlich aus Belarus, aber gründete in Vilnius eine ethnographische Gesellschaft. Berühmt wurde er für sein Theaterstück „Der Dibbuk“ (oder „Romeo und Julia im Shtetl“ wie ich es nenne), das äußerst lesenswert ist.



In erster Linie ging es aber natürlich um den Naziterror. Sie hatten einige Gesetze aufgelistet, z.B. dass arbeitende jüdische Männer sterilisiert werden sollten und Frauen erschossen, wenn sie schwanger waren. Sutzkevers Sohn, der im Ghetto geboren wurde, wurde übrigens gleich nach der Geburt ermordet, während seine Frau Freydke glücklicherweise überlebte. Dort waren auch zwei originale Davidsterne zu sehen, die die jüdische Bevölkerung tragen musste.



Die eine Frau zeigte dann zwei kurze Filme: Der erste handelte vom kleinen Yitskhak, der im Ghetto ein Tagebuch voller Optimismus führte, aber nach zwei Jahren des Versteckens in Ponar erschossen wurde. Der zweite Film handelte von einer Frau, die Ponar überlebte. Eine der ganz wenigen Ausnahmefälle, der normalerweise kam niemand lebend aus Ponar zurück.



Es gab auch ein Bild von Sutzkever, das daran erinnerte, wie er und einige andere versucht haben, jüdische Kulturgegenstände aus dem Ghetto zu schmuggeln. Dafür wurden sie di papirne brigad genannt, die Papierbrigade. Es ist ihnen tatsächlich gelungen, den einen oder anderen Schatz zu retten, denn wie ich sagte war den Nazis die Auslöschung der Kultur ebenso wichtig wie die Auslöschung der Menschen. Sutzkever beschreibt eine Szene, in der ein Nazi einen Tresor öffnet, in dem sich Originalmanuskripte von Sholem Aleykhem und Perets befinden. Er ist so wütend darüber, dass es kein Gold ist, dass er darauf herumtrampelt.



Das muss man sich mal vorstellen: Der Mann hat Manuskripte zwei der größten Schriftsteller der jiddischen Literaturgeschichte vor sich und weiß nicht, was er für einen Schatz in den Händen hält, etwas das viel mehr wert ist als Gold und Silber. Irgendwie tat er mir ein bisschen leid, da er so verblendet war von Hass, dass er nie Aleykhem oder Perets gelesen hat. Das erinnerte mich an eine Jiddischstunde, als uns die Dozentin einen Text von Sholem Aleykhem mitgebracht hat (ich glaube, es war Tevye, der milkhiker), anhand dessen wir vorlesen üben sollte. Nun war es aber so witzig, dass jeder, der mit Lesen dran war, nach spätestens einem Satz in Lachen ausgebrochen ist und nicht mehr weitermachen konnte. Das war ein schöner Moment (im Gegensatz zu später, als sie uns mit den Hebraismen in Motl Peysi traktiert hat).



Das Museum umfasst nur drei Räume und nach einer halben Stunde war ich durch. Es gab einen ganz guten Überblick, jedoch wusste ich das meiste schon. Wer aber nach Vilnius kommt, ohne den Sutzkever gelesen zu haben, für den ist es durchaus empfehlenswert.



Danach habe ich mich aufgemacht, mir das ehemalige Ghetto anzusehen. Es liegt heute mitten in der Altstadt und alles ist hübsch saniert. Wenn man nicht wüsste, dass es dort einmal ein Ghetto gegeben hat, dann würde man es nicht erkennen. Die Straßen wurden alle umbenannt, nur die Gaono und die Žydų gatvė erinnern an das jüdische Erbe der Stadt. Es gab ein kleines und ein großes Ghetto, in das die Menschen praktisch willkürlich hineingetrieben wurden. Das kleine Ghetto wurde bereits nach drei Monaten liquidiert, das große dann im September 1943.



Ich ging zuerst zur Gaono gatvė, einer pittoresken kleinen Kopfsteinpflastergasse. Das ehemalige Gebetshaus, das sich dort befunden hatte, ist inzwischen die österreichische Botschaft. Auf der gegenüberliegenden Seite befindet sich immerhin eine Tafel, die an das Ghetto erinnert. Glücklicherweise war die Inschrift nicht nur auf Litauisch, sondern auch auf Jiddisch. Sie lautet: Oyf dem ort hot geshtonen der toyer fun der kleyner vilner geto. Durkh im hot men fun 6-ten september 1941 bizn 29-ten oktober 1941 getribn tsum toyt mer vi 11.000 yidn (an diesem Ort hat das Tor des kleinen Vilner Ghettos gestanden, durch das man vom 6. September 1941 bis zum 29. Oktober 1941 mehr als 11000 Juden zum Tod getrieben hat).




Die Gaono gatvė führt zu einer kleinen Kreuzung, von der die noch kleinere Žydų gatvė abgeht. Sie ist schon nicht mehr ganz so gut in Schuss, aber trotzdem ist es schwer sich vorzustellen, wie das Ghetto einmal ausgesehen haben muss. Die Häuser sind jedoch alle aneinander gebaut, so konnte ich dann verstehen, wie es den Leuten möglich war, von Ort zu Ort zu kommen, wenn sie nicht auf der Straße gehen wollten oder durften.



Am Ende der Žydų gatvė ist eine Büste vom Vilner Gaon. Just in dem Moment, als ich dort ankam, kam auch eine israelische Reisegruppe, deren Mitglieder alle schon älter waren. Wahrscheinlich waren sie auf einer Heritage Tour im Land ihrer Vorfahren. Neben dem Gaon gab es noch eine Gedenktafel und sie haben versucht, die jiddische Inschrift zu entziffern, was ganz lustig war. Für Europäer, und Deutsche im Besonderen, ist Jiddisch erheblich einfacher zu lesen als Hebräisch, aber wenn man nur Hebräisch spricht, muss es ziemlich ungewohnt sein, nach dem Motto „wo kommen all die Vokale her?“, denn die werden im Hebräischen praktisch nicht mitgeschrieben.






Die Inschrift lautete schlicht: Der vilner gaon elijahu (1720-1797) hot gelebt in hoyz, voz iz do geshtonen (der Vilner Gaon Elijahu hat in dem Haus gelebt, das hier gestanden hat). Das Haus selbst existiert nicht mehr. Gleich nebenan standen die Große Synagoge und die Straschun-Bibliothek, die natürlich auch nicht mehr existieren. Heute ist dort ein Park- und ein Spielplatz, und ein Plakat, das zumindest an die ehemaligen Gebäude dort erinnert.

Das Ghetto… „Und die Blutströme liefen die Straße entlang, als wäre ein roter Regen herabgekommen.“ So beschrieb Sutzkever es bei den Nürnberger Prozessen. Die Liste der Grausamkeiten, die sich dort zugetragen haben, ist beinahe endlos. Zunächst haben die Nazis Männer eingesammelt und ermorden lassen, später dann auch den Rest der Bevölkerung. Die Juden versuchten, sich in so genannten „Malinen“ zu verstecken, meist winzigkleine Hohlräume, die sich irgendwo befanden. Viele haben sich auch in der Kanalisation versteckt. Die Konditionen in den Malinen waren grausam: nicht wenige Menschen sind erstickt, und jeder, der einen Mucks machte, lief Gefahr, von den anderem im Versteck ermordet zu werden. Mitunter wurden Eltern sogar gezwungen, ihre Kinder zu töten, wenn diese weinten. Man darf sich gar nicht vorstellen, zu welchen Barbareien die Menschen gezwungen waren, wollten sie am Leben bleiben. Später, als die Nazis vor der Roten Armee flohen, haben sie das Ghetto angezündet, da sie wussten, dass sich noch viele Juden irgendwo verstecken und viele von ihnen verbrannten bei lebendigem Leib.

Dazu gab es die so genannten „Provokationen“, das waren Aktionen, die damit endeten, dass reihenweise Juden in das Lukischker Gefängnis und nach Ponar gebracht, also ermordet, wurden. Auch Sutzkevers Mutter war darunter. Die einzig vermeintliche Sicherheit bot eine Arbeit, zumindest dachten, oder eher hofften, viele Juden, dass man sie verschonen möge, solange sie Arbeit hatten. Alle versuchten daher, an einen Arbeitsschein zu kommen. Das machten die Nazis sich zunutze und erließen immer wieder aberwitzige Bestimmungen, welchen Schein man nun gerade zu besitzen haben, weiße, gelbe, rosafarbene, blaue, grüne. Manchmal wurde ein bestimmter Schein gefordert, den natürlich alle versuchten zu ergattern und genau die Besitzer dieses Scheins hat man dann nach Ponar gebracht.

Zuletzt ging ich noch in die Rūdninkų gatvė. Dort sollte es Gedenktafeln geben, die an den Judenrat und das große Ghetto erinnern. Ich bin die Straße entlang und auch in einen der Innenhöfe gegangen, aber ich konnte die Tafeln nicht finden. Ein junger Mann kam auf mich zu und fragte mich auf Englisch, ob er mir helfen könne, wohl weil ich so verzweifelt meine Karte studiert habe, aber ich erwiderte, dass alles in Ordnung sei. Schließlich gab ich entnervt auf, da mir alles weh tat und ich nur noch zurück ins Hostel wollte. Und ich war so wütend! So sollte es nicht sein, es sollte nicht bloß ein paar schnöde Gedenktafeln geben. Ich hatte ja nicht viel erwartet, aber dass nach über 600 Jahren jüdischer Geschichte rein gar nichts mehr übrig ist, das hat mich sehr traurig gemacht.

Gar nichts, bis auf eine Ausnahme: In der Pylimo gatvė steht die einzig erhaltene Synagoge von ehemals über 100 Gebetshäusern. Sie überlebte nur, weil die Nazis sie als Sanitätshaus benutzten. Immerhin ist sie in gutem Zustand, da sie 1995 restauriert wurde. Heute leben in Vilnius übrigens noch ca. 4000 Juden (5000 in ganz Litauen). Fairerweise muss ich noch hinzufügen, dass ich nicht am neuen jüdischen Friedhof war, weil der zu weit außerhalb liegt, aber ich bezweifle, dass es dort etwas Außergewöhnliches zu sehen gibt. Der alte Friedhof wurde, wie überall in Osteuropa, platt gemacht und die Grabstein verbaut. Wenigstens muss man in Vilnius nicht mehr drüberlaufen. Wie betitelte I.J. Singer seine Erinnerungen so treffend: „Fun a velt voz iz nishto mer“ – Von einer Welt, die nicht mehr ist.




Abends fand ich heraus, warum ich tagsüber so durchgehangen hatte. Als ich mir einen Nescafé machte, las ich das Etikett und erfuhr, dass der Kaffee koffeinfrei war. Nein!!! Koffeinfreier Instantkaffee?! Wie pervers ist das denn? Da war ich wohl voll auf Entzug. Ich wünschte, ich hätte mir das früher angesehen, dann hätte ich mir Kaffee kaufen können, aber wer rechnet denn mit so was? Zumal das Hostel extra mit „free tea and coffee“ geworben hatte. Okay, es gibt auch Filterkaffee, aber keine Filter, sodass der ziemlich nutzlos ist. Und wer weiß, ob der nicht auch koffeinfrei ist. Echt, sogar im UK kommt man einfacher an guten Kaffee als in Osteuropa.

Abends war es auch leider vorbei mit dem Alleinsein. Um halb elf kam ein Italiener ins Zimmer, Alessandro, ein ziemlich redseliger Typ. Ich war ein bisschen neidisch, da er von Vilnius bis nach Helsinki gefahren ist, während er überhaupt nicht verstehen konnte, dass ich nur in Vilnius bin, bis ich im von Australien erzählt habe. Er hat leider auch erzählt, dass Zug fahren in Italien echt teuer ist, das hat mich deprimiert, denn ich möchte unbedingt mal durch Italien reisen. Schließlich hat er noch gefragt, ob ich noch mit ihm rausgehen wollte. Hm, meine Haare sind nass und ich habe meinen Pyjama an? Ähm, nein danke. Draußen wurde die Sommersonnenwende gefeiert (um elf ist tatsächlich noch ziemlich hell), aber ich war echt platt.

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