Litauen IV: The Morning I Got to Hell

Für den nächsten Tag hatte ich mir was ganz spezielles ausgedacht. Ich wollte tatsächlich nach Ponar fahren, oder besser Paneriai, wie es in Litauen heißt. Paneriai ist ein Vorort von Vilnius, den man bequem mit dem Zug erreichen kann. Ticketautomaten gab es keine, sodass ich den Fahrschein am Schalter kaufen musste, aber ich konnte mich verständlich machen. Die Fahrt selbst dauerte nur elf Minuten, wobei ich ganz froh war, dass ich das vorher nachgesehen hatte, da der Stopp nicht angekündigt wurde. Dort angekommen musste man erstmal über die Gleise klettern, das hat mich an Tschechien erinnert.

Obwohl Paneriai nur zehn Kilometer von Vilnius’ Innenstadt entfernt liegt, ist es fast eine andere Welt. Hier gibt es keine hübschen sanierten Barockgebäude, sondern nur Holzhütten mit kaputten Fenstern, die aussehen, als würden sie jeden Moment zusammenfallen, während die Autos noch aus Sowjetzeiten zu stammen scheinen. Im ersten Moment fühlte ich mich etwas verloren, da die Gedenkstätte, die sich dort befindet, nicht ausgeschildert war. Das hätte mich im Grunde nicht überraschen dürfen, denn auch in der Ukraine wurde so was ja ziemlich versteckt. Im Lonely Planet stand jedoch, dass man einen Kilometer nach Südwesten gehen muss, also praktisch direkt an der Bahnlinie entlang.

Nun, würde ich lügen wenn ich sagen würde, dass mir nicht mulmig zumute war. Ganz im Gegenteil. Es fing schon damit an, dass sich ob der relativ frühen Stunde einige Männer neben der Bahnstation versammelt hatten, die offensichtlich betrunken waren. In erster Linie hatte ich aber Angst davor, was in mich an der Gedenkstätte erwarten würde. So ging ich also ein bisschen zögerlich die Agrastų gatvė entlang (oder Grodner Chaussee wie sie früher hieß). Die Strecke ist umgeben von dichtem Kiefernwald, was den Ort für die Nazis natürlich besonders attraktiv gemacht hat, da sie so praktisch ungestört ihren Teufeleien nachgehen konnten.

Freilich war das nicht immer so. Napoleon fand Paneriai angeblich so schön, dass er es auf Händen zurück nach Frankreich tragen wolle. Als Sutzkever 1944 die Straße entlang ging fragte er sich auch: „Ist die Hölle schön?“ Nun, die Hölle ist oft von bezaubernder Schönheit. Ich dachte an Janovska in der Ukraine oder Port Arthur auf Tasmanien. Beides waren Orte, an denen Menschen unfassbares Leid widerfahren war und die trotzdem wunderschön sind. Wenn man dort steht, kann diese Diskrepanz schon überwältigend sein. Irgendwas in einem möchte sich an der schönen Landschaft erfreuen, aber so richtig kann man es sich nicht erlauben, wenn man weiß wie sehr der Anblick für so viele Menschen unauslöschlich mit Schmerz und Tod verbunden war, wenn man weiß für wie viele Menschen es das Letzte war, dass sie auf Erden gesehen haben.

Von daher war ich ganz froh, dass an diesem Tag schlechtes Wetter war, da dies die Schönheit des Ortes ein bisschen schmälerte. Ich dachte an das alte Lied: In the pines, in the pines, where the sun don’t ever shines, I shivered when the cold wind blows – Im Kiefernwald, im Kiefernwald, wo die Sonne niemals scheint, zitterte ich als der kalte Wind wehte. Im Wald selbst trieben sich ziemlich viele Leute herum, die Beeren pflückten um sie später zu verkaufen. Im Unterholz lagen auch mehrere Gruben versteckt, die aussahen wie kleinen Bunker und die bis oben hin zugemüllt waren. In der Ferne standen einige Häuser, oder eher Kasernen, die von Stacheldraht umgeben waren. So ähnlich muss es früher auch gewesen sein.

Die Strecke kam mir länger vor als einen Kilometer und ich fragte mich, ob ich vielleicht den Eingang verpasst hatte, doch dann endete die Straße in einem Parkplatz. Rechts war ein großes Denkmal zu sehen: Panerių memorialas. Da sind wir also. Gegenüber gab es noch ein kleineres Mahnmal mit Inschriften in Jiddisch, Hebräisch, Litauisch, Polnisch und Russisch. Zunächst hatte es nur ein russisches Mahnmal gegeben, die anderen Sprachen wurden dann nachträglich hinzugefügt. Do, in ponarer vald, fun yul 1941 biz yul 1944 hobn di hitleristishe okupantn un zeyere ortike mithelfer umgebrakht 100 toyzend mentshn, fun zey 70 toyzend yidn – mener, froyn, kinder. (Hier, im Ponarer Wald, von Juli 1941 bis Juli 1944, haben Hitlers Besatzer und ihre lokalen Mithelfer 100.000 Menschen umgebracht, davon 70.000 Juden – Männer, Frauen, Kinder).






Schließlich bin ich in den Wald hineingegangen, wo sich eine Reihe Denkmäler befinden. Die erste beiden erinnern an die sowjetischen Naziopfer, in erster Linie Soldaten. Lange waren das auch die einzigen Denkmäler, denn an die anderen Opfer sollte nicht erinnert werden. Es gibt auch ein kleines Museum dort, das aber geschlossen war. Gegenüber befindet sich das Denkmal für die jüdischen Opfer mit einer großen Menorah. Davor hatte jemand drei Kränze abgelegt, anscheinend israelische Besucher. Die Inschrift lautet: Tsum eybike ondenk di 70000 yidn fun vilne un umgegnt velkhe di natsi-rotskhim un zeyere mithelfer hobn dermordet un farbrent do, in ponar, in di yorn 1941-1944 (Zum ewigen Andenken an die 70.000 Juden aus Vilnius und Umgebung, welche die Nazimörder und ihre Mithelfer hier, in Ponar, ermordet und verbrannt haben, in den Jahren 1941-1944).


Von dort gibt es drei kleine Rundgänge, die tiefer in den Wald zu den Stätten der Verbrechen führen. Ich bin an einem einzelnen Grab vorbeigekommen, auf dem sich hebräische Buchstaben befanden, aber man konnte nicht mehr alles entziffern. Auch ein Gedenkstein für die letzten 1000 Opfer des fashistishn teror befindet sich dort, wobei die Inschrift auch schwer leserlich ist.



Schließlich kam ich zu den Gruben, erst zu einer kleineren, dann zu der großen. Das war schlimm. Sehr schlimm, sehr schwer anzusehen. Es handelt sich um eine große Grube, um die herum ein Weg geteert ist. Die Nazis haben die Opfer um die Grube herumgestellt und ihnen der Reihe nach in den Kopf geschossen, sodass sie in den Krater hineingefallen sind. Schicht um Schicht, bis die Grube voll war. Aus der großen hat man am Ende 24.000 Menschen ausgegraben.


Das war auch sehr schauerlich: Als abzusehen war, dass die Rote Armee Litauen zurückerobern würde, haben die Nazis versucht, alles zu vertuschen. Diese Feiglinge! Sie haben 80 Männer ausgewählt, die die Toten ausbuddeln, verbrennen und ihre Knochen pulverisieren mussten. Gleichzeitig haben sie penibel darüber Buch geführt, wie viele Menschen sie abgeschlachtet haben. Da die Leichen nicht immer „intakt“ waren, haben sie sogar eine Richtlinie erstellt, wie viele Körperteile als „ein Mensch“ gelten.



Oft genug haben die Nazis die Menschen nicht einfach „bloß“ erschossen. Wer sich irgendwie wehrte, dem wurde gedroht, dass er vor seinem Tod gefoltert werden würde. So haben sie den Leuten beispielsweise bei lebendigem Leibe die Augen ausgestochen. Babys und Kleinkinder wurden hochgenommen und an den Bäumen zerschmettert und ihren kleinen Körper in Stücke gerissen. Manche waren auch noch nicht tot, als sie in die Grube fielen und sind erstickt. Ein anderes Mal, im Winter, mussten sich die Leute nackt in den Schnee legen, bis sie erfroren sind, während die Monster gefeiert haben. Einer der Befehlshaber, ein gewisser Kimmel, war erst Anfang zwanzig, als er in Ponar so viele Menschen getötet hat, jünger als ich.



Da fragt man sich schon, was mit diesen Leuten nicht stimmt, wie sie in der Lage sein konnten, so viele Menschen auf so bestialische Weise umzubringen. Man erwartet doch, dass bei jedem irgendwann so etwas wie Mitgefühl einsetzt, ein Gewissen, oder wie auch immer man es nennen will. Ich kann und ich werde wohl nie verstehen, wie diesen Monstern jegliche Menschlichkeit abhanden kommen konnte.



Ich kam mir irgendwie winzig vor, als ich unter den blaugrünen Kiefern stand. Es war so schwer zu erfassen, dass an diesem kleinen Ort im Wald so viele Menschen getötet worden waren, das dies wirklich das Letzte war, das sie im Leben gesehen haben. Ich fühlte einfach eine sehr große Trauer. Ich musste an Abrahams Gedicht Ver vet blaybn (Wer wird bleiben) denken. Er beginnt mit: Ver vet blaybn, voz vet blaybn? Blaybn vet a vint, blaybn vet di blindkeyt funem blindn voz farshvind (wer wird bleiben, was wird bleiben, bleiben wird ein Wind, bleiben wird die Blindheit von einem Blinden der verschwindet), und er schließt mit Ver vet blaybn, got vet blaybn, iz dir nit genug? Wer wird bleiben, Gott wird bleiben, reicht dir das nicht? Nayn, dos iz mir nit genug.



Anschließend kam ich zur „tiefen Grube“, die nicht mehr so tief ist. Ich war jedoch ganz erstaunt, dass noch einige der alten Pflastersteine dort waren, die die Grube umgeben hatten. Um die Grube herum hatte sich früher der Bunker befunden, in dem die letzten „Totengräber“ gefangen gehalten wurden, die 80 Männer, die die Nazis aus dem Ghetto geholt hatten. Sie hatten die Toten aus den Massengräbern wieder ausbuddeln müssen, immer mit Ketten an den Beinen, wobei nicht wenige von ihnen unter den Toten ihre Frauen, Kinder und Eltern wiederfanden.



In der Grube befand sich eine Nachbildung der Leiter, mit der die Leichen zu Pyramiden gestapelt wurden. Es wurde immer um die 3000 Menschen aufgetürmt, die verbrannt wurden. Der Scheiterhaufen brannte dann für eine bis anderthalb Wochen. Im Anschluss waren die Männer gezwungen, nicht verbrannte Knochen zu pulverisieren, damit wirklich nichts außer Asche übrig bleibt. Den Männern war klar, dass man ihnen kurzen Prozess machen würde, sobald sie ihre gruselige Aufgabe erledigt hatten, was sie nicht hinnehmen wollten. Also haben sie, teilweise mit Löffeln, teilweise mit bloßen Händen, einen Tunnel vom Bunker bis tiefer in den Wald hineingegraben. Eines Tages sind sie geflohen, aber als sie an der anderen Seite herauskamen, fiel den Nazis auf, was dort geschah und sie haben losgefeuert. Am Ende haben es nur elf der Männer zu den Partisanen geschafft.


 
An diesem Tag war ich die einzige Besucherin dort gewesen, ich traf nur einmal auf zwei Beerensammler, die mich etwas merkwürdig ansahen, wohl auch, weil ich meine Tränen nicht hatte zurückhalten können. Ich traf noch auf ein weiteres Sowjetdenkmal, zwei kleine Gruben und ein Denkmal für die polnischen Opfer, die sich auf ca. 20.000 belaufen. Außerdem gab es noch ein kleines Denkmal direkt an der Bahnstrecke, jedoch konnte ich nicht entziffern, an wen dies erinnert.



Danach setzte ich mich erstmal kurz auf den Parkplatz und atmete tief durch. Es war sehr schockierend, das alles zu sehen und es kam mir wirklich so vor, als ob mir das Blut in den Adern gefroren war. Trotzdem fand ich, dass es gut war, dass ich das getan hatte. Irgendwie hatte ich das Gefühl, es den Opfern schuldig zu sein. Nicht, dass ich mich schuldig fühle, aber ich finde es wichtig, darüber Bescheid zu wissen, damit man alles tun kann, dass so etwas niemals wieder geschieht.



Danach musste ich mich wieder praktischeren Dingen zuwenden. Die Bahnstation in Paneriai war geschlossen, sodass ich dort kein Ticket kaufen konnte. Es gab auch nirgendwo einen Fahrplan, und wenn nicht schon ein paar Leute dort gestanden hätten, hätte ich nicht gewusst, von welchem Gleis der Zug abfuhr. Das war aber nicht alles. Kurz nachdem ich mich hingesetzt hatte, kam der Schaffner zu mir. Ich fragte „i Vilnių?“ und hielt 2lt hoch, aber anstatt die Fahrkarte zu drucken, sagte er irgendwas zu mir. Ich verstand natürlich gar nichts und zuckte hilflos mit den Schultern. Der Zug war fast leer, aber einige Reihen weiter vorne saß ein Passagier, dessen Ticket er hochhielt. Oh nein, anscheinend kann man keine Tickets im Zug kaufen. Er sagte noch mal was, aber ich zuckte wieder mit den Schultern. Ich wollte ihm sagen, dass die Station geschlossen war und daher keins kaufen konnte, aber ich wusste nicht wie. Mir fiel nicht mal mehr ein, was „Ich spreche kein Litauisch“ heißt (aš nekalbu lietuviškai). Er zückte einen Block und spitzte seinen Stift und ich machte mich darauf gefasst, ein Bußgeld zahlen zu müssen, doch dann winkte er plötzlich ab und ging weg.



Noch mal Glück gehabt, dennoch hatte ich ein schlechtes Gewissen. Ich hatte ja wirklich nicht die Absicht gehabt, mich vor dem Fahrgeld zu drücken, zumal es umgerechnet ja nur 58 Cent gekostet hat. Und ich fragte mich, wo ich das Ticket hätte herbekommen sollen, ohne Schalter und ohne Automaten. Der Junge vor mir war auch in Paneriai eingestiegen, wie hatte er das gemacht? Ich weiß es nicht.



Wieder in der Stadt angekommen, machte ich mich auf Nahrungssuche. Der 24. Juni ist ein Feiertag in Litauen, und aus unerfindlichen Grünen dachte ich die ganze Zeit, dass dies am Samstag sei, bis mir am Donnerstagabend eingefallen war, dass der 24. ja schon Freitag war. Und ich hatte nichts mehr außer Pappbrot und Weetabix. Und keinen Kaffee. Glücklicherweise hatte der Iki aber trotz des Feiertages geöffnet. Der Instantkaffee war überraschen teuer, sodass ich sechs kleine Einzelportionen für je 60 Centas kaufte, Importe aus Deutschland.



Da Feiertag war, hatte ich meine Planung für den Rest des Tages umwerfen müssen. Eigentlich hatte ich vorgehabt, ins Museum der Genozidopfer zu gehen, aka das KGB-Museum, aber das hatte an diesem Tag geschlossen. Im Nachhinein war das auch ganz gut so, denn nach dem Horror von Paneriai musste ich mich erstmal ablenken, bevor ich mich wieder auf etwas ähnlich Schreckliches einlassen konnte.

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