Litauen V: Die Künstlerrepublik


Also bin ich nach Užupis gegangen. Užupis ist schon ein interessantes Fleckchen insofern, als dass es nicht „bloß“ ein Künstlerviertel ist wie in anderen Städten, sondern dass die Bewohner dort ihre eigenen Republik ausgerufen haben. Sie haben sogar einen eigenen Präsidenten (einen ehemaligen Journalisten), eine Flagge und eine Hymne. Am ersten April zelebrieren sie ihren Nationalfeiertag in bunten Kostümen und jeder Besucher bekommt einen Stempel in seinen Reisepass. Schade, dass ich nicht an diesem Tag dort war!

Um dorthin zu gelangen, bin ich zunächst außerhalb der alten Stadtmauern entlanggegangen. Das hat mich ganz bemerkenswert an die Ukraine erinnert. Es gab natürlich noch mehr Kirchen, bunte Häuser und einen ganz akzeptablen Park. Užupis ist ziemlich klein; es liegt praktisch in einem Bogen der Vilnia (auch Vilnele genannt), sodass man das Flüsslein überqueren muss, wenn man von Westen kommt. Es gab eine kleine Brücke, an der sich lauter Schlösser befanden, die von Frischverheirateten dort angebracht wurde in der Hoffnung, dass ihre Bindung ewig halten möge. Das finde ich eine schöne Idee.


Mittlerweile schien auch die Sonne, was das ganze noch schöner machte. Die Paupio gatvė sah zunächst ein wenig heruntergekommen aus, aber dann kam ich schon zu der Hauptattraktion: Neben einigen Bildern hatte man nämlich auch sehr viele Spiegel an einer Mauer angebracht, auf denen in je einer Sprache die Verfassung von Užupis abgedruckt war. Die Gesetze sind schon interessant, aber wer hätte auch was andere erwartet? Ein paar Beispiele:
  1. Jeder hat das Recht, am Fluss Vilnele zu wohnen und die Vilnele hat das Recht, an jedem vorbeizufließen.
  2. Jeder hat das Recht auf heißes Wasser, eine Heizung im Winter und ein Ziegeldach.
  3. Jeder Mensch hat das Recht zu sterben, ist jedoch hierzu nicht verpflichtet. 
  4. Jeder Mensch hat das Recht, zu faulenzen oder nichts zu tun. 
  5. Ein Hund hat das Recht, ein Hund zu sein. 
  6. Eine Katze ist nicht verpflichtet, ihren Hausherrn zu lieben, doch in schweren Zeiten muss sie ihm beistehen. 
  7. Jeder Mensch hat das Recht glücklich zu sein. 
  8. Jeder Mensch hat das Recht, unglücklich zu sein. 
  9. Jeder Mensch hat das Recht, zu weinen.

Usw., usw. Die Verfassung schließt mit: „Besiege nicht! Wehre dich nicht! Gib nicht auf!“ Insgesamt gibt es sie sicher in einem Dutzend Sprachen, neben Deutsch auch Jiddisch, konstitutsiye.


Die beiden Straßen von Užupis kreuzen sich in einem Platz, an dem auch das Wahrzeichen der Stadt zu finden ist: Der Engel von Užupis. Der Engel steht auf einer Säule mit Goldkugel und bläst in ein Horn. Nicht schlecht. Ich bin die Užupio gatvė hochgelaufen, bis sie sich gegabelt hat. Es waren ziemlich viele Menschen dort unterwegs, Touristen hauptsächlich, aber auch Einwohner, die gerade aus der Kirche kamen.


Schließlich bin ich in eine kleine Seitengasse abgebogen. Dort gab es einiges an Graffiti, außerdem hatte jemand einige Stücke Autoreifen an der Wand angebracht und bunt gefärbt, das fand ich ganz cool. Ging man die Treppe hinunter, kam man direkt zur Vilnia. Auch dort ist an den Wänden Street Art zu sehen. Schließlich bin ich über die zweite „große“ Brücke gegangen, an der sich noch mehr Schlösser befanden. Unterhalb der Brücke in einer Nische sitzt die Statue einer Meerjungfrau, das „Fräulein von Užupis“. Angeblich lockt sie mit ihren Gesang Mensch aus aller Welt an und wer diesem nicht widerstehen kann, bleibt für alle Zeit in Užupis.




Ich bin anschließend die Maironio gatvė entlanggegangen, an der sich einige sehr ansehnliche Kirchen befinden, z.B. die „Orthodoxe Kirche der jungfräulichen Mutter Gottes“, ein großes, weißes Gotteshaus mit roten Dächern. In der Nähe steht die Kirche der hl. Anna (laut Prospekt ein „Meisterwerk der Spätgotik“), die größtenteils aus roten Ziegeln besteht. Auch diese fand Napoleon angeblich so schön, dass er sie „auf Händen nach Paris tragen wolle“. Da hatte er echt ganz schön viel zu schleppen. Seiner Frau hatte er auch geschrieben, dass Vilnius eine „sehr schöne Stadt“ sei.

 
Orthodoxe Kirche der jungfräulichen Mutter Gottes

Kirche der hl. Anna




Daneben steht übrigens eine Statue von Adam Mickiewicz (oder Adomas Mickievicius wie er auf Litauisch heißt), dem polnischen Nationaldichter, der in Vilnius studiert hat. Er schrieb das polnische Nationalepos „Pan Tadeusz“ (nach der Bibel das am häufigsten gelesene Buch in Polen), das interessanterweise mit den Worten „Litauen, mein Vaterland…“ beginnt. Aber Litauen, und Vilnius insbesondere, gehörte ja auch lange zu Polen und für Mickiewicz gab es keine separate nationale polnische oder litauische Identität. All the same to him.


Von dort ging es weiter in den Sereikiškių parkas. Von allen Parks, die ich in Vilnius gesehen habe, war das vielleicht der schönste. Er liegt direkt an der Vilnele, ziemlich idyllisch. An diesem Tag waren sehr viele Familien da, deren Kinder auf kleinen Elektroautos gefahren sind, die man mieten konnte. Mein eigentliches Ziel war jedoch der Dreikreuzberg, der hinter dem Park lag. Den Aufstieg kann man kaum so bezeichnen, es war zwar recht steil und es gab einige Stufen, aber der Berg war nicht besonders hoch.



Die Kreuze auf dem Berg sollen an drei Mönche erinnern, die dort gekreuzigt wurden. Die Sowjets haben die Originalkreuze nach dem Krieg mit dem Bulldozer platt gewalzt, aber die Litauer haben sie später wieder aufgebaut. Die Überreste der ersten Kreuze sind aber noch zu sehen. Die neuen weißen sind auch recht imposant, wie sie so über der Stadt thronen. Okay, vielleicht nicht so wie der Jesus in Rio, aber doch ganz ansehnlich. Von dort hat man noch einen besseren Blick auf die Stadt als vom Gediminashügel. Was würde Mickiewicz wohl dazu sagen? Litauen! In deiner ganzen Schönheit prangst du heut vor mir, so will ich von dir singen – denn mir verlangt nach dir!


Anschließend wollte ich mich noch kurz in den Park legen, aber bald zog sich der Himmel zu und es fing an zu regnen, außerdem kam noch jemand auf mich zu, der wollte, dass ich eine Petition unterzeichne. Es hatte irgendwas mit Polen zu tun, aber mehr habe ich nicht verstanden und ich wollte auch nichts unterzeichnen ohne zu wissen, warum es sich handelt. Stattdessen ging ich über die überfüllte Pilies gatvė zurück ins Hostel, kurz bevor es wieder einen Wolkenbruch gab.



Am Abend war es dann endgültig vorbei mit der Ruhe, denn das Zimmer war voll belegt. Unter anderem waren zwei Polen da sowie eine Französin und eine Amerikanerin, die beide in einer Schokoladenfabrik in Šiauliai arbeiteten. Der eine Pole ist total auf die Französin abgefahren, bei dem Akzent scheinen echt alle Typen schwach zu werden. Das erinnerte mich an die französischsprachige Schweizerin, die ich in Alice traf und die irritiert war, weil alle deutschen Männer sie immer baten zu sagen „eine Flasche von die Bier die so schön ’at gepriekelt in mein Bauch-na-belle“.



Jedenfalls fragte er sie ob es sie stören würde, wenn er nachts schnarcht. Auch das noch. Offensichtlich hatte ich mich immer noch nicht von dem monatelangen Mangel an Privatsphäre erholt. Wenigstens musste ich nicht auf eine Kochplatte warten, aber auf eine Dusche. Wobei der Pole zunächst nicht checkte, dass das Bad nur für Damen war. Aber vielleicht war es auch Absicht? Wenigstens hat er nicht die ganze Nacht geschnarcht, aber wenn, dann so laut, dass da auch keine Ohrstöpsel halfen.

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