A Belgian Excursion: When Satan Came to Flanders

Für den zweiten Tag stand zunächst die Mission Breendonk auf dem Programm. Nachdem abends zuvor alle ausgegangen waren und das Wlan einigermaßen funktionierte und mir eingefallen war, dass man auf der Seite der Deutschen Bahn auch nach Auslandsverbindungen suchen kann, wusste ich endlich wie und wann ich nach Willebroek komme. Die Verbindung war sogar recht gut, mit einem nur sechsminütigen Aufenthalt in Mechelen, sodass es sich nicht lohnte, mit dem Bus von dort nach Willebroek zu fahren.

In weiser Voraussicht war ich schon eine halbe Stunde vor Abfahrt zur Centraal Station gekommen, denn vor den zwei Automaten und den drei offenen Schaltern hatten sich bereits lange Schlangen gebildet. Zunächst stellte ich mich bei den Automaten an, aber dieser wollte meine Karte nicht akzeptieren, sodass ich es doch auf die traditionelle Weise machen musste. Ich geriet schon ein bisschen in Panik, ob ich es noch rechtzeitig schaffen würde, angesichts der vielen Personen vor mir, und auch ein ältere Dame, die in meiner Reihe stand, schimpfte lautstark darüber, dass nicht mehr Schalter offen waren. Dabei sah sie mich immer wieder an, als ob sie Zustimmung erwarten würde, bis ich schließlich herausbrachte: "Ik spreek geen Vlaams." Kurz darauf kam ein Schaffner in den Raum, der ebenfalls Tickets verkaufte, woraufhin sich ein großer Teil auf ihn stürzte und ich bis zum Schalter vorgehen konnte, wo die Dame mir eine Hin- und Rückfahrkarte verkaufte.

 

Ich war schon ein wenig nervös, als ich in den Zug nach Mechelen einstieg. Mir war klar, dass das kein einfacher Ausflug werden würde (ich hatte ja keine Ahnung!), aber Breendonk spielt einfach eine wichtige Rolle in Austerlitz, es bildet gewissermaßen den Rahmen der Handlung: Der Erzähler fährt 1967 nach seiner ersten Begegnung mit Austerlitz in Antwerpen dorthin und dann viele Jahrzehnte später noch einmal, nachdem er seinem Freund zum möglicherweise letzten Mal begegnet ist.

Anders als vor 46 Jahren braucht der Zug für die etwa 25 Kilometer nach Mechelen nicht mehr eine gute halbe Stunde, aber noch 20 Minuten. Der Teil zwischen dem Zentralbahnhof und Antwerpen-Berchem verläuft gar komplett unterirdisch. Der Bahnhof in Mechelen liegt ein Stück von der Innenstadt entfernt, aber man kann vom Gleis aus den Turm der St.-Rombouts-Kathedrale sehen, der aus der Ferne ähnlich beeindruckt wirkte wie der Turm der Antwerpener Kathedrale. Während es sich bei dem Zug auf dem ersten Teil der Strecke um einen modernen Intercity handelte, war der Zug nach Willebroek ein ganzes Stück älter, mit türkisfarbenen Kunstledersitzen und gelben Vorhängen. Aber das machte mir nichts aus, im Gegenteil, denn ich so konnte ich mir ungefähr vorstellen, wie die Züge Ende der Sechziger Jahre ausgesehen haben müssen.

Zwölf Minuten später kam ich in Willebroek an. Ich hatte Bedenken gehabt, ob ich vom Bahnhof zum Fort finden würde, aber es war alles ausgeschildert. Der Ort selbst wirkte geradezu verschlafen; denn obwohl es bereits zehn Uhr war, war kaum eine Menschenseele zu sehen. Die Straßen wirkten ordentlich und sauber, fast ein bisschen wie eine Modellsiedlung mit den kleinen Backsteinhäusern und den passenden Parkflächen davor. Ich fragte mich, wie es wohl vor 70 Jahren gewesen sein muss, ob die Menschen wussten, welche Gräueltaten dort vor ihren Haustüren begangen wurden. Zu einem gewissen Maße wussten sie es bestimmt; in dem Ort, in dem ich aufgewachsen bin zumindest gab es auch ein Zwangsarbeiterlager und die Gefangenen wurden in regelmäßigen Abständen durch das Dorf getrieben. Da kann niemand sagen, er habe nichts gewusst.

Die Festung liegt an der A12, durch deren Bau sie von der Gemeinde Breendonk abgeschnitten und in Willebroek eingegliedert wurde. Daneben befindet sich, passenderweise, ein Friedhof. Der Eingang befindet sich ein Stück neben der Hauptstraße. Dort steht immer noch folgendes einladendes Schild:

 

Der Eintritt kostete acht Euro und beinhaltete einen Audioguide. Die Umstände waren ganz ähnlich wie bei Sebalds erstem Besuch (ich sage bewusst Sebald, da ich mir sicher bin, dass er das so erlebt hat): Es war für die Jahreszeit ungewöhnlich heiß und ich hatte das Areal zunächst praktisch für mich allein; erst nach etwa einer Stunde sah ich eine Frau und drei junge Männer dort umhergehen. Ich war noch nie direkt in einem Konzentrationslager gewesen und wusste nur aus den Erzählungen, was mich dort erwartet; allerdings ist das Fort auch ein besonderer Fall, da es nicht von den Nazis errichtet wurde. Als die Festung Breendonk kurz vor dem Ersten Weltkrieg fertiggestellt wurde, war sie bereits hoffnungslos veraltet, sodass es nicht überrascht, dass die Nazis sie 1940 in ihre Gewalt brachten und dort ein Lager einrichteten, in dem insgesamt gut 3500 Menschen inhaftiert waren, die meisten von ihnen (mutmaßliche) Widerstandskämpfer. Nach der Befreiung im Spätsommer 1944 diente das Fort zunächst als Internierungslager für die andere Seite, bevor es 1947 bereits in eine Gedenkstätte umgewandelt wurde - mit dem Resultat, dass sich seitdem kaum etwas dort verändert hat.

Der Kontrast ist ganz erstaunlich. Ich hatte schon häufiger bemerkt, dass die Hölle in einer schönen Umgebung liegt. Auch das Fort ist von einem Kanal mit tiefblauem, fast schwarzem Wasser umgeben, sowie Schilf und grünem, teils hohem Gras, hinter dem noch die Wachttürme hervorragen. Die Festung wiederum ist, um es mit Sebald zu sagen, "eine einzige monolithische Ausgeburt der Hässlichkeit und der blinden Gewalt." Ohnehin kann es wohl niemand besser beschreiben als er: "Das was ich jetzt vor mir hatte, das war eine niedrige, an den Außenflanken überall abgerundete, auf eine grauenvolle Weise bucklig und verbacken wirkende Masse Beton, der breite Rücken, so dachte ich mir, eines Ungetüms, das sich hier, wie ein Walfisch aus den Wellen, herausgehoben hatte aus dem flandrischen Boden."




 

Vor dem Eingang war eine Luftaufnahme der Anlage zu sehen und auch bei diesem Anblick erging es mir ganz wie Sebald: Obwohl das Ungetüm durchaus nach geometrischen Formen entstanden war, konnte ich diese nicht sehen. Der ganze Betonklotz wirkte auf mich wie eher wie ein missgebildetes, mit Schaufelarmen ausgestattetes, menschenfressendes Ungeheuer. Sebald: "Auch als ich später den symmetrischen Grundriss des Forts studierte, mit den Auswüchsen seiner Glieder und Scheren, mit den an der Stirnseite des Haupttrakts gleich Augen hervortretenden halbrunden Bollwerken und dem Stummelfortsatz am Hinterleib, da konnte ich in ihm, trotz seiner nun offenbar rationalen Struktur, allenfalls das Schema irgendeines krebsartigen Wesens, nicht aber dasjenige eines vom menschlichen Verstand entworfenen Bauwerks erkennen."



Sebald traute sich zunächst nicht, dass Innere der Festung zu betreten, sondern ging um sie herum, doch ich entschloss mich, ganz nach der Reihenfolge des Audioguides vorzugehen (den es damals freilich noch nicht gab). So kam ich bereits kurz nachdem ich den Schlund (so erschien mir der Gang) betreten hatte in das "Casino". Dies war ein mit einem Ofen und bunten Lampen ausgestatteter Raum, dessen Fenster gelb und blau bemalt waren. Er diente sowohl als eine Art Gericht, das unter anderem eine zwölfköpfige Widerstandsgruppe zum Tode "verurteilte" (die daraufhin noch am gleichen Tag exekutiert wurde) als auch als oben erwähntes "Casino", in dem die SS-Schergen an Wochenenden zusammenkamen, feierten und wetteten, wie viele Gefangene sie am nächsten Tag erschießen würden. Übelkeit stieg in mir hoch, als ich die Malerei an der Wand sah: den Reichsadler, das Hakenkreuz, den grinsenden (!) Totenkopf und den Spruch "Meine Ehre heißt Treue". Wie krank muss ein Gehirn sein, um sich so etwas auszudenken?



Die Antwort folgte auf dem Fuß: Ich kam in den Innenhof, in dem ein kleines Häuschen stand, in dem sich einst die Administration befand. Dort waren die Bilder und Biographien der SS-Leute zu sehen, die zu gleichen Teilen aus Deutschland und Flandern stammten. Die meisten von ihnen waren soziale Versager, die es nie zu etwas gebracht haben im Leben, und die sich nun wie die Allergrößten vorkamen, indem sie andere Menschen erniedrigten und folterten, wie der ehemalige Preisboxer Fernand Wyss, der neben seinen Kollegen Richard de Bodt und einem gewissen Brusselaer (oder so ähnlich) zu den schlimmsten Folterern von Breendonk gehörte. Auffällig war, dass es in der Regel die Flamen waren, die sich "die Hände schmutzig machen" mussten, während die Deutschen sich eher mit organisatorischen Dingen beschäftigten. Von den Flamen wurden nach dem Krieg auch (fast?) alle exekutiert, auch Wyss, der selbst während seines Prozesses noch die Opfer verhöhnte. Die einzige Person, die etwas aus der Reihe fällt, war ein belgischer Journalist, der vor dem Krieg kommunistisch angehauchte Artikel geschrieben hatte und wohl als eine Art Strafe Sekretärsdienst in Breendonk verrichten musste. Allerdings blieb es wohl nicht dabei und er schlug auch Inhaftierte, aber wenigstens war er der Einzige, der sich nach dem Krieg bei den Opfern entschuldigte. Er wurde dennoch zum Tode verurteilt.

Leiter des Lagers war ein gewisser Philipp Steffen, der übrigens auch die letzte Person war, die in Belgien hingerichtet wurde. Seine Frau Ilse lebte ebenfalls in Breendonk und hatte das perverse Hobby, Kuchen zu essen während sie dabei zusah, wie die Gefangenen gefoltert wurden. Steffen hatte einen Schäferhund namens Lump, den er mit Vorliebe auf die Insassen hetzte. Einer von ihnen wurde gar mit dem Tier zusammen eingesperrt und 17 Mal gebissen. Beschämend ist, dass es vielen deutschen Verantwortlichen gelang, nach dem Krieg abzutauchen, sodass sie einer Strafe entgingen, darunter auch die Frau des Lagerleiters.

Im Innenhof mussten die Gefangenen zum Appell antreten. Unter ihnen war auch der 19-jährige Moses Luft, der von der SS die Anweisung erhielt, ein Floß aus Stroh zu bauen, mit dem er auf dem Kanal fahren musste. Nachdem er dieser Aufgabe nachgekommen war und mit Mühe auf dem Wasser balancierte, schoss ihm einer der Wachmänner mitten durchs Herz. Die SS behauptete, dass Luft mit dem Floß habe fliehen wollen. Sie legten seine Leiche als Abschreckung mitten in den Hof, woraufhin einer der Gefangenen den Verstand verlor.


Anschließend kam ich den zweiten, schier endlosen Gang, in dem die Gefangenen untergebracht waren. Die SS hatte sie in verschiedene Gruppen, "Zug" genannt, eingeteilt. Einer von ihnen wurde zum Zugführer entnannt, was dazu führte, dass einige der Kollaborateure so brutal wurden wie die SS selbst. Einer von ihnen war Walter Obeler, der jüdisch, aber als Zugführer so grausam wie die Nazis war. Das führte dazu, dass Obeler später in Buchenwald von einigen ehemaligen Mitgefangenen aus Breendonk zu Tode geprügelt wurde, da halfen auch seine Hilferufe nach der SS nichts.

Die Gefangenen mussten in Holzbaracken schlafen, auf Strohsäcken. Diese hatten sie jeden Morgen perfekt zusammen zu falten, was äußerst schwierig war. Wem das nicht gelang, der wurde verprügelt. Sie mussten morgens um 5:30 Uhr aufstehen und abends bis 20 Uhr mit Schaufeln und anderen primitiven Geräten tonnenweise Erde und Geröll abtragen. Wer nicht schnell genug war, wurde geschlagen. Sie bekamen nichts zu essen außer ein wenig Suppe und Brot, was dazu führte, dass sie in ihrer Verzweiflung Kartoffelschalen, Gras und sogar eine Schafplazenta aßen. Nachts holte die SS manchmal jemanden aus seinem Bett und folterte ihn, sodass seine Schreie durch den Gang hallten. Ein zynischer Nazispruch ist als Neonleuchtband noch zu lesen: "Die Unterbringung der Lagerinsassen in den Kasematten des Forts ist eng, aber erträglich."

  

In dem Gang befanden sich auch die Einzelzellen, in denen die Häftlinge den ganzen Tag stehen mussten, wobei sie sich nicht bewegen durften. Man kann sich überhaupt nicht vorstellen, wie das möglich gewesen sein soll. Besonders kräftige Personen wurden zudem auch schon einmal angekettet. In einem anderen Raum ging es um die medizinischer Versorgung im Lager, oder eher Nicht-Versorgung. Ein jüdischer Arzt versuchte zwar, den Insassen zu helfen, aber die Nazis erkannten es nur selten an, wenn er jemanden krankschrieb. Ein deutscher Arzt kam regelmäßig in das Lager, um die Totenscheine zu fälschen. Es gab als Todesursache "Herzversagen" oder "Lungenentzündung" an, obwohl die Menschen doch an Entkräftung, Hunger und Folter gestorben waren.

Ich konnte es kaum erwarten, den Gang zu verlassen, weil er so gruselig war. Es war wirklich nicht leicht, dadurch zu gehen. Es war dunkel und gammelig und die Luft war schwer und stickig, und vor allem war es sehr kalt. Ich wusste aber, dass es nichts bringen würde, mir eine Jacke überzuziehen, da die Kälte in erster Linie von innen kam. Während ich durch die Festung ging, hatte ich große Angst, ja sogar mehr noch - ich empfand regelrechten Terror. Bei dem kleinsten Geräusch zuckte ich  zusammen. Ich lief gar nicht richtig, sondern schlich eher auf Zehensspitzen umher, wobei ich nur sehr vorsichtig meinen Kopf vorstreckte, um in die einzelnen Räumen zu blicken, aus Angst davor, welche Grausamkeit sich nun jetzt wieder in ihnen verbirgt. Am Schlimmsten waren vielleicht die Schreie. In einem Film hatten sie die Folterszenen nachgestellt und ganz wie damals hallten die Schreie über den Gang.


Das Problem war, dass es einfach keine Ruhe gab. Ich konnte mir nicht einreden, dass das alles schon siebzig Jahre her war, wo es doch in anderen Teilen der Welt immer noch solche Lager gibt, selbst am Rand von Europa. Ich erinnere an den Brief, den Nadeschda Tolokonnikawa aus der russischen Lagerhaft geschrieben hat. Auch wenn sich der Wahrheitsgehalt nicht überprüfen lässt, bin ich mir doch sicher, dass er keine Erfindung ist, dazu wirkt er einfach zu realistisch. Und wenn ich dann die gehässigen Kommentare unter dem Artikel lese, dann verstehe ich auch, warum die Nazis keine Probleme hatten, irgendwelche Mitläufer zu finden, da es anscheinend immer Leute gibt, die sich von starken Führungspersönlichkeiten blenden lassen und jubeln, wenn Menschen, die nicht ihrer Meinung sind, die Rechte entzogen und sie gequält und getöten werden. Und deswegen gibt es keine Ruhe. Weil es immer noch Menschen wie Fernand Wyss und Ilse Birkholz gibt, überall auf der Welt und auch mitten unter uns. Und das heißt, dass Breendonk immer möglich ist, auch heute noch, und auch in Europa. Dort in der Festung sah ich in die hässliche Fratze des Bösen, das nicht aus der Welt zu tilgen ist.

Ich war erleichtert, als ich am Ende des Gangs um die Ecke bog, und die frische, warme Luft spürte, doch dann fiel mein Blick auf eine Nische in der Wand. Ich dachte zunächst, es wäre eben nur eine Nische, doch warum sollte sie dort in der Wand sein? Ich trat hinein, und sah links von mir eine Wand in vielleicht zwei Metern Entfernung. Ich begriff, dass ich mich in einem Zick-Zack-Gang befand,  und ich begriff auch, wohin dieser Gang führte. Obwohl sich alles in mir sträubte, ging ich ihn entlang, bis ich schließlich in der Folterkammer landete. Sie wirkte völlig unberührt. Die Instrumente lagen noch da, einschließlich des berüchtigten Fleischerhakens. Ich hatte schon bei Sebald gelesen, wie es dort ablief. Sie banden den Gefangenen, darunter auch der Schriftsteller Jean Améry, die Hände auf dem Rücken zusammen und zogen sie an dem Fleischerhaken in die Höhe, bis ihre Gelenke mit einem Krachen heraussprangen. Sie peitschen sie aus, sie drückten ihre Zigaretten auf ihnen aus, sie zerquetschten ihnen die Finger.


Draußen musste ich erst einmal tief Luft holen. Entgegen meiner Hoffnung war die Ausstellung jedoch noch lange nicht zu Ende. Ein Raum folgte auf den nächsten. Manchmal erschien Breendonk mir wie ein Labyrinth, aus dem es kein Entrinnen gab. Man sah die Werkzeuge, mit denen sie arbeiten mussten, die Ställe, in denen die Tiere gehaust haben, und die Sanitäranlage. Die Gefangenen wurden in Schichten in die Duschen gejagt, wo sie eine Minute lang Zeit hatten, sich zu säubern. In der Zeit mussten die anderen nackt draußen stehen, oftmals in klirrender Kälte. Es gab auch keine Toiletten, sondern nur Latrinen, die vielleicht einen halben Meter hoch waren. Privatsphäre war nicht existent.

 

Der Weg führte anschließend außen an der Festung vorbei. Aber auch hier gab es keine Pause von den Schrecklichkeiten. Der Guide in meinem Ohr erzählte, wie Gefangene im Winter in den Kanal geworfen wurden, und wie die SS mit Schaufeln auf sie einprügelte, wenn sie versuchten, aus dem Wasser zu steigen. Einer von ihnen war der 17-jährige Albert. Nachdem die SS genug davon hatte, ihn zu schlagen, gruben sie ihn ein, bis nur noch sein Kopf herausschaute. Sie befahlen den umstehenden Gefangenen auf seinen Kopf zu steigen und bewarfen Albert mit Erde, während er im Todeskampf nach seiner Mutter rief.

Das war's. Die Vorstellung von dem armen Jungen, der bis zum Hals im flandrischen Boden steckt und nach seiner Mutter ruft, das war einfach zuviel für mich. Um es mit Bob Dylan zu sagen: "The human mind can only stand so much." Alles, was danach kam, konnte mein Verstand nicht mehr erfassen. Die Grenze war erreicht. Ich sah die Holzpfähle und die Galgen neben mir, aber ich verstand nicht, was ich sah. Erst als ich die Namensliste entdeckte begriff ich, dass dies der Exekutionsplatz war, auf dem die Nazis wahllos Menschen im Alter von 18 bis 62 Jahren getötet hatten.

 

Anschließend ging es noch einmal in die Festung hinein, aber dem Audioguide konnte ich nicht mehr zuhören. Ich sah die Biographien der tapferen Widerstandskämpfer, aber ich konnte sie nicht lesen, ich sah den Gedenkraum mit den Namen der vielen Vernichtungslager, in die die Gefangenen nach Breendonk geschickt wurden, ich sah die Kleiderkammer, in der Mitläufer alte Uniformen und Schuhe ausgegeben hatten.

Endlich fand ich zurück ins Freie und zum Ausgang. Ich lief über die Brücke zurück zur Kasse, denn ich wollte einfach nur weg, weg, weg von diesem schrecklichen Ort. Ich habe mich schon ein bisschen geschämt, schließlich habe ich mir die Festung nur angesehen, während andere dort Monate, wenn nicht gar Jahre eingesperrt waren, aber ich habe es einfach nicht mehr dort ausgehalten. Außerdem hatte ich einen Zug zu erwischen.

Ich war wirklich hin- und hergerissen. Einerseits wünschte ich, ich hätte das alles nie gesehen, andererseits fand ich es auch wichtig, dass ich es getan hatte, und nicht nur wegen Austerlitz. Ich hatte einfach das Gefühl, dass ich das den Insassen schuldig war. Ich hatte das Gefühl, dass es meine Pflicht war, mir ihre Geschichten anzuhören und weiterzuerzählen. Obwohl dies wahrscheinlich der schrecklichste Ort war, den ich je gesehen habe (wobei Paneriai und das Genozidmuseum auch sehr schrecklich waren), überwiegt im Nachhinein doch das Gefühl, dass es die richtige Entscheidung war, dorthin zu fahren. Jeder sollte sich einmal einen Ort wie Breendonk ansehen um zu verstehen, zu was der Mensch alles fähig ist, auch wenn man es eigentlich nicht verstehen kann.

Ich muss auch der Gedenkstätte ein Lob aussprechen, denn die Ausstellung ist wirklich ausgezeichnet. Durch die vielen Augenzeugenberichte (vor allem von dem Künstler Jacques Ochs) schaffen sie es, den Menschen ein Gesicht zu geben und sie vor dem Vergessen zu bewahren. Sie haben sich viel Mühe gegeben, alle Facetten dieses Grauens darzustellen, auch wenn man es kaum ertragen kann. Ich habe zwei Stunden dort verbracht, aber ich hätte mindestens noch eine halbe Stunde dranhängen müssen, wenn ich mir alles hätte anhören wollen.

Ich kann Sebald verstehen, dass er erst so viele Jahre später dorthin zurückgekehrt ist. Falls ich mir die Festung noch einmal ansehen sollte, dann sicher erst in ferner Zukunft. Seit ich dort war, ist kein Tag vergangen, an dem ich nicht an sie gedacht habe, dennoch ist es mir sehr schwer gefallen, das hier aufzuschreiben und die Fotos auszusuchen. Es ist einfach unmöglich, so einen Ort zu besuchen und nicht tief ergriffen zu sein. Never again can I be the same person.

In der flirrenden Spätsommerhitze ging ich zurück durch das immer noch leere und verschlafene Willebroek. Am Bahnhof nahm ich den Zug nach Mechelen (einen modernen diesmal) und 40 Minuten später war ich zurück in Antwerpen.

Kommentare

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