A Belgian Excursion: Watch Those Patterns Repeat

Nach dem Horror von Breendonk musste ich mich unbedingt mit etwas Schönem ablenken, also machte ich mich, nachdem ich wieder in Antwerpen war, auf zum Rubenshaus. Es war allerdings nicht nur das Interesse an der Kunst, das mich bewog, mir die ehemaligen Wirkungsstätte des großen Malers anzusehen, es waren auch persönliche Gründe. Dafür muss ich ein wenig ausholen.

Ich denke, ein Grund, warum Austerlitz so einen Nerv bei mir getroffen hat ist, dass ich mich zu diesem Zeitpunkt eh mit den Themen Erinnerung und Familie auseinandergesetzt habe. Eines Tages erreichten wir als Familie einen Punkt an dem uns klar wurde, dass wir nur sehr wenig über das Leben wissen, dass meine Großeltern väterlicherseits bis zu den 1950ern geführt haben. Leider bemerkt man so etwas immer erst, wenn es (fast) zu spät ist, aber dennoch waren wir fest entschlossen, so viel herauszufinden wie möglich. Das Ergebnis war jedoch relativ enttäuschend: Zu viel Zeit war vergangen, und zu viele Erinnerungen waren verloren. In einem Satz in Austerlitz wird dies sehr deutlich – für mich ist er vielleicht sogar der wichtigste Satz des ganzes Romans: „Was und wie viel ständig in Vergessenheit gerät, mit jedem ausgelöschten Leben, wie die Welt sich sozusagen von selber ausleert, in dem die Geschichten, die an unzähligen Orten und Gegenständen haften, welche selbst keine Fähigkeit zur Erinnerung haben, von niemandem je gehört, aufgezeichnet oder weitererzählt werden.“

Und deswegen fühlte ich mich Austerlitz verbunden, weil ich wie er, wenn auch in sehr viel kleinerem Rahmen, nach etwas suchte, das nicht mehr existiert. Das und die Tatsache, dass mein Vater als Kleinkind eine gewisse Ähnlichkeit mit dem jungen Jacques Austerlitz hatte (bzw. dem Jungen, der als Model herhalten musste): 

 

Wie heißt es doch bei Oscar & Lucinda (ungefähr): In order that I exist, two people must meet. Das braucht es natürlich immer, aber es braucht auch noch mehr: Es braucht einen Krieg, ein Schiff, einen Mann in Matrosenuniform und eine Frau mit einer Vorliebe für ebensolche. Manchmal erscheint es mir wie ein großer Zufall, dass ausgerechnet ein 20-jähriger Mann aus Westfalen und ein 17-jähriges Mädchen aus Mecklenburg aufeinander treffen und eine Familie gründen. Dass gerade dieser furchtbare Krieg die Vorbedingung für diese Begegnung war hat mir immer gestunken, aber ohne ihn hätte es kein Treffen am Strand der Ostsee gegeben; mein Vater wäre nicht geboren worden, und ich würde nicht existieren.

Mir lag vor allem etwas daran, mehr über meinen mir fremden Großvater herauszufinden. Viele Jahre wusste ich nichts über ihn außer dass er ziemlich streng und Wagnerianer gewesen war – Eigenschaften, die ich beide nicht teile. Aber dann fuhr ich nach Australien und einen Tag vor meiner Abreise erzählte mir meine Oma, dass mein Opa in den Fünfziger Jahren daran gedacht hatte, genau dorthin auszuwandern, was bis dato weder mein Vater noch meine Tante wussten. Dann belegte ich einen Italienischkurs an der Volkshochschule und meine Oma erzählte mir, dass mein Opa genau das gleiche getan hatte. Und schließlich fand ich noch ein Bild von ihm, wie er in der Eingangshalle des Baseler Kunstmuseums steht, wo ich im letzten Jahr gewesen war:

 

Mein Opa liebte offenbar das Reisen. Er hat sämtliche Ausflüge minutiös mit der Kamera dokumentiert. Selbst als er während des Krieges als Koch auf einem Schnellboot im Nordpolarmeer umherkreiste fotografierte er die Mitternachtssonne in der Bucht von Kirkenes als wäre er Tourist auf einer Urlaubsreise. Außerdem interessierte er sich für Fotografie und für vor allem für Kunst. Und er hatte meiner Oma Gedichte geschrieben (die jedoch nicht mehr erhalten sind). Für mich waren das ganz erstaunliche Erkenntnisse, denn in meiner Familie gibt es sonst niemanden, der sich für Kunst oder Fotografie oder das Schreiben interessiert. Ich habe mich immer gefragt, wieso ich als einzige über diese Interessen, über diese Bedürfnisse, verfüge und jetzt muss ich sehen, dass sie wahrscheinlich in meinen Genen liegen. Ist es möglich, dass sich selbst solche Dinge wie der Wunsch eine bestimmte Sprache zu erlernen vererben? Ich war immer eher ein Vertreter der "Erworben"-Fraktion und finde diese Parallelen merkwürdig, um nicht zu sagen unheimlich.

Um den Bogen zurück zu Antwerpen zu schlagen: Im Zuge der Nachforschungen tauchten einige Kunst-Bildbände auf, die einst meinem Opa gehört hatten. Da sich sonst niemand dafür interessierte, bekam ich sie. Die meisten Bildbände zeigten Werke von einem Künstler: Rembrandt, Vermeer, Delacroix... you name it. Der einzige Künstler, von dem mein Opa zwei Bände hatte, war  - ihr könnt es euch denken - Rubens. Ich schloss daraus, dass er Rubens ganz besonders mochte und wahrscheinlich in sein Haus gegangen wäre, wenn er Antwerpen besucht hätte (was er wohl nicht getan hat). Neben meinem eigenen (geerbten?) Interesse für Rubens ging ich daher auch in das Haus, um ihm irgendwie nahe zu sein.

Auf dem Weg dorthin gönnte ich mir eine Waffel, da ich wenigstens ein belgisches Nationalgericht probieren wollte. Der Ruf der Belgier auf diesem Gebiet ist wirklich berechtigt, denn ich habe noch nie in meinem Leben so eine leckere Waffel gegessen. Die Waffel hatte überhaupt keinen Belag, nicht mal Puderzucker, trotzdem schmeckte sie einfach köstlich. Wer einmal nach Belgien kommt, sollte unbedingt eine essen.

Das Rubenshaus befindet sich in einer Nebenstraße der Meir. Der Ticketschalter ist jedoch in einem Glasgebäude in der Mitte der Straße. Die Dame dort fragte mich, ob ich unter 26 bin, da man dann eine Ermäßigung bekommt. "Nein", sagte ich. "Oh. Sie sehen noch so jung aus", erwiderte sie (sie sprach deutsch). Das fand ich schon erstaunlich, vor allem angesichts der monströsen Ringe unter meinen Augen. "Ja.. leider nicht."

 

Im Erdgeschoss befinden sich Möbel, wie sie zu Rubens' Zeiten gebräuchlich waren, jedoch nicht die originale Einrichtung. Für besonderes Erstaunen bei mir und den anderen zahlreichen Besuchern sorgte das ein sehr kurzes Bett. Damals schliefen die Leute im Sitzen, weil man meinte, dass dies gesünder wäre, was in Betten resultierte, in denen heute bestenfalls ein Kleinkind Platz finden würde:

 

In einem anderen Zimmer waren einige Werke ausgestellt, die aus Rubens' Sammlung stammten, denn er war nicht nur Maler, sondern auch begeisterte Kunstsammler. Zu den Stücken gehörten unter anderem eine Sonnenuhr aus dem 17. Jahrhundert, eine Skulptur von Herkules (Rubens interessierte sich sehr für die Antike) und die sogenannte "Büste des Seneca", die wahrscheinlich jedoch nicht den römischen Philosophen zeigt. Im ersten Stock befanden sich Gemälde, zum Beispiel ein Stillleben von Frans Snijders, und weitere Möbelstücke, darunter ein Schrank mit mehreren Schubladen, auf die Szenen aus Ovids Metamorphosen gemalt sind. Danach ging es zurück ins Erdgeschoss, wo weitere Gemälde von Rubens, seinen Schülern und seinen Mitarbeitern ausgestellt waren, unter anderem von Antony Van Dyck. Dort ist auch das berühmte Porträt zu sehen, das Van Dyck als Jungen zeigt. Lange Zeit wurde es Rubens zugeschrieben, aber mittlerweile geht die Forschung davon aus, dass Van Dyck es selbst gemalt hat:

 

Rubens' bekanntestes Werk, das dort zu sehen ist, ist wahrscheinlich "Christus am Kreuz":

 

Anschließend ging es hinaus in den Innenhof mit Garten. Das Haus hatte Rubens im Stil einen italienischen Palazzos errichten lassen und auch der Garten war von der Renaissance inspiriert. So standen dort mehrere Statuen von antiken Göttern, und auch die Häuserwand war damit verziert.



 

Ich muss gestehen, dass ich ein klein wenig enttäuscht war von der Ausstellung. Es war schon interessant, einen Einblick in Rubens' Werkstätte zu gewinnen, aber irgendwie hatte ich gehofft, dass es mehr zu sehen gibt, vor allem mehr Bilder. Wer sich für Kunst interessiert, sollte aber ruhig vorbeischauen.

Es fiel mir schwer zu glauben, dass mein zweiter Tag in Antwerpen bereits mein letzter war und dass kaum noch Zeit übrig blieb, sich irgendetwas anzuschauen. Da mir meine untere Körperhälfte ziemlich weh tat, schaute ich mir daher nur noch einige Orte zwischen Innenstadt und Hauptbahnhof an. Als erstes kam ich zum Theater, das ein ziemlich hässlicher Bau war. Schön war jedoch der wilde Garten, den jemand auf dem Vorplatz gepflanzt hatte.

 

Anschließend ging ich in den Stadtpark und legte mich dort eine Weile ins Gras. Der Park war ganz hübsch mit seinem See in der Mitte, allerdings nicht außergewöhnlich schön. Als ich mich nach etwa einer Stunde und einem kleinen Nickerchen erhob, fielen mir eine Reihe orthodoxer Juden auf, die am See entlang spazierten. Ich war schon verwundert, so viele von ihnen an einem Donnerstag-nachmittag dort zu sehen, bis mir einfiel, dass Rosch Haschana (Neujahr) war und sie wahrscheinlich Tashlikh machten, also ihre Kleider und Taschen an einem Gewässer ausschüttelten um sich symbolisch ihrer Sünden zu entledigen, wie es an diesem Tag üblich ist.


Direkt hinter dem Park liegt das berühmte Diamantenviertel, das jedoch sehr grau und unscheinbar ist. Obwohl dort natürlich nicht nur Juden leben und arbeiten, waren so gut wie alle Geschäfte wegen der Feiertage geschlossen. Das Viertel wirkte nahezu ausgestorben, mit Ausnahme einiger jüdischer Kinder, die ausgelassen auf der Straße spielten. Was ich ganz interessant fand war, dass die Familien, an denen ich vorbeikam, alle Französisch sprachen.

In einem Supermarkt am Astridplein kaufte ich eine Dose Ravioli als Abendessen und Schokolade als Mitbringsel für die Familie, bevor ich mich auf den Weg ins Hostel machte. Wäre ich nicht so erledigt gewesen, hätte ich gleich wieder auf dem Absatz kehrt gemacht. Der Australier hatte mit einer der Schweizerinnen angebandelt und wollte sie unbedingt ins Bett kriegen, da er am nächsten Tag nach Paris weiterreiste. Sie fuhr mächtig auf ihn ab, fühlte sich jedoch überrumpelt, was er nur zum Lachen fand. Immer diese Hosteldramen. Die Schweizerinnen fragten, ob ich mit ihnen und dem Aussie ausgehen wollte, aber ich hatte keine Lust. Ich war zu müde und auch zu aufgewühlt wegen Breendonk. Auch zwei Deutsche um die 20 fragten, ob ich mit ihnen weggehen wollte. Ich hatte sie in der Küche getroffen. Der eine war ein Klugscheißer vor dem Herrn und gab die ganze Zeit mit seinen Kochkünsten an, während sein Reisepartner sichtlich genervt auf taub schaltete. Da verreise lieber allein, anstatt mich mit meiner Begleitung die ganze Zeit anzugiften. Der "Superkoch" erzählte mir, dass er aus Karlsruhe kommt. "Sagt dir das was?" "Ja?!", entgegnete ich verwundert. "Das bist du die einzige", meinte er. Das konnte ich ihm nicht abnehmen. Hallo?! Karlsruhe?! Selbst wenn man noch nie da war, sollte man die Stadt doch zumindest wegen dem Bundesgerichtshof und dem Bundesverfassungsgericht kennen. Außerdem konnte er überhaupt nicht verstehen, dass ich mir nur Antwerpen und nicht Brügge ansah, denn im Vergleich zu Brügge sei Antwerpen ein richtiges "Drecksloch". Und das von jemanden, der nicht einmal das Rubenshaus gefunden hat. Warum kann ich nicht einfach das tun, was ich tun möchte? Warum immer diese "Verbesserungsvorschläge" wie ich meine Reise zu gestalten habe? Warum kann ich nicht allein fahren? Warum kann ich mir nicht tagsüber die Stadt ansehen und abends früh schlafen gehen? Das nervt wirklich.

Ich war froh, als alle endlich ausgegangen waren und ich mich in Ruhe ins Bett kuscheln konnte. Trotzdem konnte ich lange nicht einschlafen.

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