Project Ireland: Festival Club



Und ehe ich mich versah, brach auch schon meine letzte Woche in Derry an. Im Hostel „normalisierte“ sich alles wieder, d.h. Andrea ging zurück nach Edinburgh und Kylie kam zurück nach Derry. Was die Gäste betraf, so war es eine interessante Woche, sowohl im positiven wie auch im negativen Sinne. Eines Nachmittags tauchte plötzlich eine Vierergruppe ohne Reservierung auf, die überglücklich waren, dass ich noch Betten für sie übrig hatte. Es handelte sich um zwei Pärchen, Assistenzärzte, aus Jena, doch einer von ihnen stammten tatsächlich ursprünglich aus Hütte, genauer gesagt aus dem „Lehrerghetto“ (wie er es nannte) am Schulzentrum. Die Welt ist manchmal echt so klein. Es war wirklich lustig, als sie fragten wo ich denn genau herkomme und der „Hütter“ (er hieß Manuel)  mit „Nee, ey?“ antwortete.

Mein Lieblingsgast war ein Australier namens Sean. Das war wieder so ein Jang-Moment, denn an diesem Tage haben ein Shawn und ein Sean eingecheckt, und da das „Sean“ so klein geschrieben war, übersah ich es glatt, hielt Shawn für Sean und packte ihn in das falsche Zimmer. Glücklicherweise bemerkte ich meinen Fehler noch bevor er ausgepackt hatte und siedelte ihn um, weswegen er mir glücklicherweise nicht böse war. Später stellte sich übrigens heraus, dass der andere Shawn weiblich war. Zu der Zeit war immer noch Fußball-EM, sodass wir natürlich im Hostel immer die Spiele guckten. Sean und ich waren dabei die einzigen, die nebenbei lasen. Das fand ich interessant, da fast alle Aussies ja total sportbesessen sind, doch als ich ihn fragte, ob er nicht gerne Fußball sähe meinte er nur „I’ve got better things to do.“ Das fand ich sehr sympathisch.

Die mit Abstand merkwürdigsten Gäste, die ich in meiner gesamten „Tourismuskarriere“ hatte, war ein schwules französisches Pärchen in den Fünfzigern namens Mario und Pierre. Sie blieben für insgesamt drei Nächte; die erste verbrachten sie in einem 4-Bett-Zimmer, da wir sonst nichts mehr frei hatten, aber für die anderen Nächte bestanden sie auf einem Doppelzimmer. Das war mir ganz recht, denn dann liefen sie mir nicht ständig über den Weg. Sie hatten nämlich einige merkwürdige Angewohnheiten. Das ging schon los, als sie beim Bezahlen (sie zahlten in Euro) fragten, ob ich ihnen nicht zwei 10-Pfund-Noten reservieren könnte, da sie exotisches Geld sammeln würden. Exotisch! Als ich ihnen das Zimmer zeigte und fragte, ob ich noch was für sie tun könnte, kam Mario (Pierre sprach kein Englisch) auf mich zu uns flüsterte, ob ich ihm nicht was zu rauchen besorgen könnte. Es war eindeutig, dass er keine Zigaretten meinte. Im ersten Moment war ich total sprachlos, da mich wirklich noch nie jemand so etwas gefragt hatte. Ich meinte dann nur, dass ich keine Ahnung hätte, wo man so etwas herbekommt. Stimmt ja auch.

Anschließend fragte die beiden noch, wie es mit der Wäsche aussehen würde. Ich sagte ihnen, dass ich ihre Kleidung waschen würde, wenn sie sie mir geben würden, woraufhin sie wirklich auf der Stelle anfingen, sich die Klamotten vom Leib zu reißen. Als Pierre auch noch die Hose herunterließ, meinte ich, dass ich unten auf sie warten würde, denn ich wollte wirklich nicht riskieren, mir zwei nackte Franzosen ansehen zu müssen. Nach diesem traumatischen Erlebnis ging ich ihnen aus den Weg, es ließ sich dennoch nicht vermeiden, dass ich noch einmal auf Mario traf, der fragte, wie es denn nun mit *zwinkerzwinker* aussehen würde, er würde mir auch zehn Euro dafür geben. Zehn Euro dafür, dass ich vielleicht verhaftet und mit Geldstrafe, Knast oder, am schlimmsten, Abschiebung und Wiedereinreiseverbot bestraft werde (oder gleich erschossen, siehe unten). Ich lehnte ab. Danach ging ich endgültig vor ihm in Deckung aber die anderen sagten mir, dass er noch ein paar Mal nach mir fragte.

Ein letztes Museum wollte ich mir noch anschauen und zwar das Gasyard Heritage Centre. In der Touribroschüre wurde es als Museum über die IRA-Häftlinge angepriesen, in Wahrheit war es aber eher eine Arztpraxis/Beratungsstelle. Die ganze „Ausstellung“ bestand aus einem Schaukasten mit alten Zeitungsausschnitten über Bobby Sands. Nach zwei Minuten war ich wieder raus. Eine ziemliche Enttäuschung. Da das Centre in der Bogside war, kam ich an Free Derry Corner vorbei, über der eine schwarze Flagge gehisst war, wahrscheinlich weil Martin McGuinness (Deputy First Minister, Sinn Féin-Politiker und ehemaliger IRA-Führer) der Queen bei ihrem Nordirlandbesuch die Hand geschüttelt hatte. Viele Nationalisten empfanden das als Verrat, was mich doch erschrocken hat, schließlich handelt es sich um eine Geste der Versöhnung. 


Ohnehin ist Derry nicht ganz frei von Spinnern. Einige Republikaner haben sich einer Anti-Drogen-Gruppe angeschlossen, was ja nicht so schlimm wäre, wenn ihr Kampf gegen die Drogen nicht darin bestehen würde, die Dealer zu erschießen. Na ja, zunächst mal erhalten Leute, die des Drogendeals angeklagt werden, einen „Termin“, dass sie an einem bestimmten Datum an einem bestimmten Ort aufzutauchen haben, wo ihnen ins Bein geschossen wird. Kaum zu glauben, aber eine Mutter hat ihren Sohn tatsächlich zu so einem Termin gebracht, wo ihm dann ins Knie oder so geschossen wurde, in der Hoffnung, dass ihm das hilft, von den Drogen loszukommen. Gleichzeitig wird allen Opfern gedroht, dass sie getötet werden, sollten sie Derry nicht verlassen. Mindestens ein mutmaßlicher Dealer wurde von dieser ominösen Truppe tatsächlich erschossen, obwohl er bereits nach Donegal geflohen war. Ich war sehr schockiert, als ich den Bericht im Guardian las, denn diese Selbstjustiz hat mich stark an den Ku-Klux-Klan erinnert. Ich weiß wirklich nicht, was in diesen Leuten vorgeht. Man hat den Eindruck, dass sie nach der Auflösung der IRA nach einem neuen „Hobby“ suchen. Wahrscheinlich haben sie einfach Spaß an der Gewalt, anders kann ich mir das nicht erklären. Im Derry Journal las ich, dass ein Richter die Presse gebeten hatte, die Adressen zweier verurteilter Drogendealer nicht zu veröffentlichen, um es diesen „republikanischen Verbrechern“ nicht noch leichter zu machen. Dass Derry Journal veröffentlichte die Adressen trotzdem, da es keine „gesetzliche Anordnung“ war. Da war ich schon froh, dass so etwas in Deutschland nicht möglich wäre. Ich meine, für das Textverständnis ist es irrelevant, wo die Verurteilten wohnen, aber für sie geht es quasi um Leben und Tod. Ich hätte mich geweigert, so etwas zu veröffentlichen.

Noch ein Grund, nicht mit Drogen zu dealen war, dass es in der Stadt nur so vor Polizisten wimmelte, da in dieser Woche zwei Festivals stattfanden: die North Atlantic Fiddle Convention und die Clipper Yacht Race. Das hatte zur Folge, dass wir in einem Haus lauter Fiddler und in dem anderen lauter Segler und Ruderer hatten. Ich interessierte mich naturgemäß eher für die Fiddler. Das ist ein Grund, warum ich Derry so mag, es ist immer was los. Dank der Nafco gab es zig Konzerte, viele davon für lau. Im gälischen Kulturzentrum fand ein Festival Club statt, an dem man fünf Bands für zehn Pfund sehen konnte. Das ließ ich mir natürlich nicht entgehen.

Laut Programm sollte es um zehn Uhr losgehen, aber als ich dort ankam, waren sie immer noch beim Soundcheck. Typisch Iren, hätte ich mir ja denken können. Ich bestellte also erstmal ein Guinness und wartete darauf, dass es losging. Um elf Uhr war es endlich soweit. Gastgeber war eine Band namens Four Men and a Dog, deren Bodhrán-Spieler, Gino, durch den Abend führte. Den Auftakt machten Caomhín O Raghallaigh (sprich kweeveen [Kevin] O'Reilly), der wohl einer der bekanntesten Fiddler Irlands zu sein scheint, und Nic Gareiss, ein Tänzer. Das war eine interessante Kombination und sehr spannend anzusehen, denn ich hatte noch nie traditionellen irischen Tanz erlebt. Von ihrem Auftritt gibt es sogar ein Video auf YouTube:


Weiter ging es mit einem Duo, einem Fiddle- und Banjospieler, deren Name ich leider nicht verstand. Anfangs hatten sie etwas Probleme mit dem Sound, doch als die gelöst wurden, war es wirklich wunderbar. Die beiden spielten sogar einen Song von den Stanley Brothers, die ich ja sehr verehre. Der nächste war Paul Anderson, ein Schotte, der zunächst allein auftrat, aber dann von einem jungen Amerikaner namens Colin, ebenfalls Fiddler, begleitet wurde. Höhepunkt waren Four Men and a Dog selbst, die Gitarre, Banjo, Fiddle, Akkordeon und Bodhrán spielten. Die Herren sind richtig abgegangen und alle hatten einen Mordsspaß. Besonders habe ich mich gefreut, dass sie "The Shape I'm In" von The Band gespielt haben. Wie ich später erfuhr, haben sie sogar ein Album in Levon Helms Studio in Woodstock aufgenommen, auf dem auch Garth Hudson spielt, und Rick Danko ging mit ihnen auf Tour. Krasses Pferd! Hier ein Video:


Zu guter Letzt betraten noch More Strings Attached die Bühne. Dabei handelte es sich um einen älteren Herrn und eine Horde junger Leute aus England, Schottland, Irland und Dänemark, die zusammen Volkslieder ihres jeweiligen Landes eingestudiert haben. Obwohl sie sich erst ein paar Tage kannten, machten sie ihre Sache wirklich gut. Das einzige was nervte, war eine Gruppe Teenager, die neben mir saß und ständig laut johlte. Eine von ihnen hatte zu allem Überfluss auch noch so eine furchtbare Mickey-Mouse-Stimme. Ich hatte schon fast das Gefühl, dass sie gar keine Fans waren sondern sich einen Spaß daraus machten, so zu tun. Wahrscheinlich waren sie einfach nur furchtbar betrunken. Um halb drei bin ich schließlich gegangen. Ich musste durch den Notausgang raus, denn da die Sperrstunde schon lange vorbei war, hatten sie den Haupteingang verschlossen und eine riesige Pappwand davor gestellt, damit auch ja niemand mitbekommt, was drinnen los ist. Ach ja, die Iren. Man muss sie einfach lieben. Ich hatte auf jeden Fall einen großartigen Abend.



Nächstes Mal dann das große Derry-Finale.


Filme:

The Englishman Who Went Up a Hill But Came Down a Mountain (****1/2) - ein paar Leute werden jetzt aufstöhnen, aber der Film ist wirklich so was von lustig, vor allem im Original. Und wenn man schon einmal in Wales war.

Julie and Julia (****) - zunächst war ich etwas skeptisch, weil's ums Kochen geht, aber der Film war wirklich gut und das nicht nur, weil Meryl Street da mitspielt. Es hat nur einen etwas traurigen Nachgeschmack, da ich ihn an genau dem Tag sah, an dem Nora Ephron, die Regisseurin, gestorben ist.

Kick-Ass (****) - auch wirklich gut, besonders Chloe Grace Moretz, die so ziemlich alle an die Wand spielt. Nur etwas viel Gewalt für meinen Geschmack.

Kommentare