Project Ireland: Londonderry Air
Am nächsten Morgen bin ich schon recht früh aufgestanden, da mein Bus um neun Uhr abfuhr. Das Hostel war ich still und dunkel, während ich meine Sachen packte, doch kurz bevor ich mich auf den Weg machte, traf ich noch einmal auf Mary II. Sie wünschte mir erneut „the best of luck“ für meine Arbeit und meine Reise, gefolgt von einem „Und das meine ich wirklich so!“, als ob ich jemals daran gezweifelt hätte. Ich wünschte ihr, dass sie und Mary I an diesem Tag die olympische Fackel sehen, woraufhin sie nur rief „The van!“ und einen erneuten Lachflash bekam.
Der
Busfahrer hingegen war ziemlich brummig, aber das konnte auch nichts
an meinem Gefühl ändern, dass die Iren außergewöhnlich freundlich
sind. In Coleraine musste ich erneut umsteigen, was diesmal aber
nicht ganz so reibungslos funktionierte. Es ist mir ja fast zu
peinlich, darüber zu sprechen, aber vielleicht ist es ja halbwegs lehrreich. Um 9:45 kam ich in Coleraine an, um 10:38 sollte der
Zug nach Derry fahren. So weit, so gut. Ich kaufte das Ticket, trank
einen Kaffee, und kurz bevor es soweit war schaute ich auf die
Anzeige in der Halle, um zu sehen, von welchem Gleis der Zug abfuhr.
Doch was musste ich erkennen? Laut Anzeige fuhr der nächste Zug nach
Derry erst um 11:58. Was?! Ich schaute auf den Fahrplan und
tatsächlich, montags fuhr kein Zug um 10:38, sondern um 11:58. Ich
hatte die Fahrzeit im Internet nachgesehen, aber nun war ich mir
nicht mehr sicher, ob ich, nachdem ich die Hinfahrt gecheckt hatte,
das Datum für die Weiterfahrt auf den 4. Juni geändert habe.
Möglicherweise hatte ich das vergessen, sodass mir der
Samstagsfahrplan angezeigt worden war.
Geknickt
ging ich zurück in die Wartehalle. Das Warten war unendlich nervig,
aber vielmehr wurmte es mich, dass ich Kylie, meiner zukünftigen
Chefin, gesagt hatte, dass ich gegen 11:30 in Derry sein werde, was
mir nun unter keinen Umständen gelingen würde. Ich hatte zwar nicht
das Gefühl, dass sie besonders viel Wert darauf legte, aber dennoch.
Grrr, warum habe ich nicht um die Mittagszeit geschrieben, wie ich
erst vorhatte? Wäre ich bloß mit dem Bus gefahren, aber nein, ich
hatte ja Angst, dass mir schlecht wird. Gegen 10:45 fiel mir siedend
heiß ein, dass zwar Montag, aber Feiertag war. Was, wenn heute ein
anderer Fahrplan gilt? Meine Zweifel wurden aber zerstreut, als ich
die Dame von der Information sagen hörte, dass die Busse heute wie
gewöhnlich fahren. Um 11:50 machte ich mich schließlich auf dem Weg
zum Gleis, doch der Ticketkontrolleur sagte mir, dass ich viel zu
früh dran sei, der nächste Zug nach Derry führe erst um 12:38 Uhr.
„Wie bitte? Ich dachte, um 11:58.“ „Nein, nein, heute ist
Feiertag. Da fährt nach dem Samstagsplan. Tut mir leid.“ „Schon
gut. Danke.“ Oh, ich könnt euch gar nicht vorstellen, wie sehr ich
mich über mich selbst geärgert habe. Ich hätte den Zug um 10:38
Uhr nehmen können, aber ich habe mich von dieser blöden Anzeige
verwirren lassen, die mittlerweile ganz ausgefallen war. Warum habe
ich nicht das Personal gefragt? Warum, warum, warum? Selbst schuld.
Ihr dürft jetzt gerne mit dem Finger auf mich zeigen und mich
auslachen. Ein bisschen konfus ist es aber schon: Warum fahren die
Busse regulär, aber die Züge nicht? Und warum gibt es in Coleraine
keine Durchsage wie in Belfast?
Mit
zwei Stunden Verspätung saß ich schließlich im Zug nach Derry.
Wobei es in der Durchsage im Zug immer Derry~Londonderry heißt. Ihr
wisst bestimmt, dass die Stadt zwei Namen hat. Die Nationalisten
nennen sie Derry, die Unionisten Londonderry. Dementsprechend führen
die Schilder in der Republik nach Derry, die in Nordirland nach
Londonderry. Diese Kontroverse hat mir immer ein bisschen Angst
gemacht und noch vor ein paar Jahren hätte ich mich
(idiotischerweise) nicht getraut, hinzufahren, aus Angst, beschimpft
oder verprügelt zu werden, wenn ich den falschen Namen wähle.
Tatsache ist, dass im allgemeinen Sprachgebrauch alle nur „Derry“
sagen, es sei denn, sie sind arg loyalistisch. Der offizielle Name
ist zwar immer noch Londonderry (allerdings Derry City Council), in
den Medien und Touristenbroschüren heißt es aber immer
„Derry~Londonderry“ (was sich ein bisschen doof anhört).
Ansonsten hat die Stadt noch eine Reihe anderer Namen. Der irische
lautet „Doire“, der Spitzname „The Maiden City“, da die
Stadtmauern nie eingenommen wurden. Mein persönlicher Favorit ist
jedoch „LegenDerry“, ha ha.
Ich
war sehr gespannt auf die Stadt. In den letzten Jahrzehnten war sie
in erster Linie als eins der Hauptzentren der Troubles bekannt, aber
seit dem Good Friday Agreement hat sich einiges getan. Im nächsten
Jahr ist Derry sogar UK City of Culture, als erste britische Stadt
überhaupt. Das wird sicher ein großes Fest. Auch in demographischer
Hinsicht in Derry interessant, denn im Gegensatz zu Belfast ist die
Mehrheit der Bevölkerung katholisch. Das hat dazu geführt, dass die
Stadt fast komplett segregiert ist: Auf der westlichen Seite des
River Foyle leben die Katholiken, auf der östlichen Seite die
Protestanten. Auch architektonisch ist Derry spannend, denn es ist
die einzige Stadt in Irland, deren Stadtmauern noch intakt sind. Sie
gehören zu den am besten erhaltenen Schutzwällen in ganz Europa.
Der
Bahnhof liegt in der Waterside, dem protestantischen Viertel, also
ein gutes Stück von der Innenstadt entfernt. Glücklicherweise gab
es aber einen Shuttlebus zum Busbahnhof im Zentrum. Das Hostel selbst
war von nur ein paar Minuten vom Busbahnhof entfernt, aber ich kam
nicht ganz so schnell voran wie erwartet, da in der Stadt die Hölle
los war. An vielen Bürgersteigen hatte man Zäune aufgestellt,
sodass man nur durch wenige Schlupflöcher die Straßenseite wechseln
konnte. Außerdem wimmelte es nur so von Polizisten, die zum durch
die Stadt marschierten und in kleinen kastenförmigen Wagen
umherfuhren, die eine panzerartige Verkleidung hatten. Ich nahm an,
dass das Großaufgebot mit dem Feiertag zusammenhing, dass es
vielleicht eine besondere Veranstaltung gibt, aber ein bisschen
verstörend war das schon. Zudem Zeitpunkt wusste ich noch nicht,
dass jemand (wahrscheinlich ein Sympathisant der Real IRA) nur zwei
Tage zuvor eine Bombe auf ein Polizeiauto geworfen hatte, wobei
glücklicherweise niemand verletzt wurde, deshalb waren sie nun wohl
besonders vorsichtig.
Ich
merkte schnell, dass Derry eine hügelige Stadt ist, denn ich musste
auf dem Weg zum Hostel eine kleine Steigung überwinden. Die Häuser
sahen alle sehr ähnlich aus, doch dann sah ich eins, dass eine Figur
von Tim und Struppi vor der Tür stehen hatte. Das musste es sein.
Ich war ein bisschen nervös, als ich den Türklopfer benutzte, und
kurz darauf die Klingel, nachdem ich sie endlich gefunden hatte. Ein
kleine Frau mit langen, blonden Haaren und einem langen, wallenden
Rock öffnete die Tür. Ich schleppte meine Tasche in den Flur. „Can
I help you?“, fragte sie. „Ehm, I am Dannie, the Helpxer.“ „Oh,
you're Dannie, nice to meet you. Sorry I didn't recognize you. I'm
Kylie.“ Sie gab mir ihre Hand und musterte mich für einen kurzen
Moment: „Oh my god, you're tall.“ „Well... yes.“ Sie führte
mich in den Gemeinschaftsraum und bot mir einen Kaffee an, den ich
dankend annahm.
Die
erste Unterhaltung war denkbar angenehm. Kylie sagte nichts wegen
meiner Verspätung, überhaupt ist sie der entspannteste Mensch den
ich je getroffen habe. Sie kommt aus Neuseeland, aus Wellington,
vielleicht deshalb. Wir führten ein bisschen Small Talk, dann zeigte
sie mir das Hostel. Neben dem Gemeinschaftsraum befindet sich das
„Esszimmer“, in dem lauter Tischen von der Größe ein Fußbank
stehen, die Kylie und ihr Mann Steve (der meist auf Reisen oder in
seinem Hostel in Edinburgh ist) aus Asien mitgebracht haben, sowie
eine Schüssel Wasser mit Kaulquappen. Dort befindet sich auch die
„Rezeption“. Eigentlich kann man es nicht als Rezeption
bezeichnen, denn alles ist sehr improvisiert. Es gibt ein Buch mit
den Reservierungen, außerdem eine Ablage mit einer Box für
Schlüssel (ja, die werden alle unsortiert dort aufbewahrt) und einer
Box für Kreditkartenabrechnungen (ja, die werden da einfach
unsortiert reingestopft) und Schubladen mit Stadtplänen und einer
kleinen Tasche für Wechselgeld (mittlerweile hat jeder von uns
seinen eigenen „Change bag“).
Kylie
gab mir einen Stadtplan und vermerkte die wichtigsten Orte. Am besten
gefiel es mir, dass die das Hostel umkreiste und „home“ daneben
schrieb. Anschließend zeigte sie mir die für Hostelverhältnisse
sehr gut ausgestattete Küche und mein Zimmer für zwei Nächte, ein
8-Bett-Zimmer. Dann ging es noch in das zweite Haus, in dem sich die
„private rooms“, die Doppel-, Twin- und kleineren Mehrbettzimmer
befinden. Das „house around the corner“, oder offiziell „Dolce
Vita“ ist eher schick, zwar mit kleinen Zimmern, aber einer sehr
schönen Küche. Als wir zurück ins Hostel gingen, trafen ich auch
meine beiden Kollegen: Sam und Kevin. Sam war zwei Wochen vor mir
angekommen. Er ist Australier (aus Newcastle), 23 Jahre alt, extrem
schlank und hat dunkelbraune Locken und einen wilden Vollbart. Er ist
schon über ein Jahr auf Reisen, bleibt jetzt aber sechs Monate als
Vollzeitkraft im Hostel. Kevin ist gebürtiger New Yorker, lebt aber
seit seinem Schulabschluss in Irland. Er hatte zwei Monate als
Helpxer im Hostel gearbeitet und ist zwei Tage nach meiner Ankunft
nach Polen weiter, wo er während der EM Pub Crawls organisiert.
Ich
hatte ja eigentlich erwartet, an diesem Tag noch drei Stunden
arbeiten zu müssen, doch Kylie gab mir den Auftrag, mir die Stadt
anzusehen, damit ich auch die Fragen der Gäste beantworten kann. Da
tat ich natürlich wie mir geheißen. Zuerst ging ich natürlich zur
berühmten Free Derry Corner, dem Wahrzeichen von Derry. Ihr habt
bestimmt schon mal die Wand mit der berühmten Aufschrift „You are
now entering Free Derry“ gesehen. Das dazugehörige Haus gibt es
nicht mehr, aber die Wand hat man erhalten. Sie steht in der Bogside,
Derrys nationalistischem Viertel, der Keimzelle der Troubles wenn man
so will. Katholiken wurden wie erwähnt systematisch diskriminiert
und Ende der 60er explodierte die Stimmung und es kam zu
Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Katholiken. Die
Bewohner der Bogside errichteten Barrikaden, um die RUC (Royal Ulster
Constabluary) draußen zu lassen und nannten ihr Viertel Free Derry.
Es wurden drei Jahre später vom britischen Militär geräumt.
In
der Bogside befinden sich eine Reihe sehr beeindruckender Murals,
auch bekannt von als „ The People's Gallery“, die von drei
lokalen Künstlern, den Bogside Artists, geschaffen wurden. Sie
zeigen zentrale Ereignisse der Troubles, wie die Battle of the
Bogside, Bloody Sunday oder den Hungerstreik von 1981. Nicht alle
zeigen Kampfszene, eins zum Beispiel beinhaltet eine weiße Taube als
Hoffnung auf Frieden. Im Gegensatz zu den „herkömmlichen“ Murals
sind diese künstlerisch sehr hochwertig und wie ich finde besonders
beeindruckend. Am meisten gefiel mir „The Death of Innocence“,
das die 14-jährige Annette McGavigan im Kreuzfeuer zwischen
britischem Militär und IRA zeigt. Sie ist das hundertste Opfer der
Troubles und steht symbolisch für alle Kinder, die dem Konflikt zum
Opfer gefallen sind. Auch eins der Bloody-Sunday-Murals war sehr
eindrücklich, da es zeigte, wie ein Pfarrer ein weißes, blutbeflecktes Taschentuch
schwingt, während unter britischem Feuer ein Verletzter davon
getragen wird.
Bloody
Sunday ist Derrys großes Trauma. Es gibt einen sehr guten Film von
2001 zum Thema, den ich nur wärmstens empfehlen kann. An diesem Tag
im Januar 1972 fand in Derry ein Bürgerrechtsmarsch stand, der nicht genehmigt war,
aber friedlich verlief. Nichtsdestotrotz fühlte die britische Armee
sich irgendwie bedroht und eröffnete das Feuer auf die unbewaffneten
Zivilisten. 14 Menschen wurden dabei getötet. Einigen, die fliehen
wollten, haben sie sogar in den Rücken geschossen und einem
17-jährigen Jungen wurden aller Wahrscheinlichkeit nach Nagelbomben
untergeschoben. Die Armee hat versucht alles zu vertuschen, erst 2010
kam ein Report zu dem Schluss, dass das Verhalten der Soldaten völlig
unangemessen war. In der Bogside erinnert ein Denkmal an die Opfer.
Ich
empfand das ganze Viertel als sehr grau und trostlos, nur die
Vielzahl von Irlandflaggen sorgt für Farbtupfer. Die Leute laufen
ebenso schlampig herum wie in West Belfast. An einigen Wänden steht
das Wort RIRA (Real IRA). Ich habe mich daher auf den Weg in die
Innenstadt gemacht. Die Stadtmauern (die auch nicht frei von
politischen Graffiti sind) sind wirklich in sehr gutem Zustand, aber
das wirklich coole ist, dass man auf ihnen laufen kann. So hat man
einen wunderbaren Blick auf die Stadt. Was sofort ins Auge springt,
sind die vielen Kirchen. Besonders zwei Gotteshäuser überragen die
Stadt: Die St. Columb's Cathedral (Church of Ireland) und die St.
Eugene's Cathedral (katholisch), was geradezu symbolisch für die
religiöse Teilung der Stadt steht. In mitten der katholischen
Cityside gibt es übrigens eine protestantische Enklave namens West
Bank, bzw. The Fountain, die ihre eigenen Murals haben, unter anderem
eins mit der Aufschrift „Londonderry: West Bank still under siege.
No surrender!“
An
diesem Tag patrouillierten Polizisten auf den Walls, was, wie ich
mittlerweile erfahren hatte, daran liegt, dass die olympische Fackel
nach Derry kam. Die schon wieder! Dreisterweise musste man aber dafür
bezahlen, sie zu sehen, und das war es mir wirklich nicht wert. Derry
Architektur ist ohnehin viel reizvoller. Neben den bereits erwähnten
Kirchen gefallen mir vor allem die Guildhall, der Tower, St.
Augustine's Church (of Ireland, die möglicherweise an der Stelle
steht, an der St. Columba/Columcille vor 1500 Jahren sein Kloster
errichtet hat) und The Diamond, ein Platz mit Kriegsdenkmal im
Zentrum der alten Stadt. Mein absolutes Highlight ist aber die Peace
Bridge, eine Fußgängerbrücke, die erst letztes Jahr eröffnet
wurde und die beiden Stadtteile wieder näher zusammenrücken lassen
soll. Das finde ich eine sehr schöne Idee. An der Brücke gab es an
diesem Tag auch eine große Parade, der in erster Linie Schulkinder
angehörten, die selbstgebastelten Kopfschmuck in Form einer Fackel
trugen. Das Diamond Jubilee spielte erwartungsgemäß keine Rolle,
ein Pub hatte sogar ein Bild aufgehängt, dass die Queen auf dem Klo
zeigt, mit der Aufschrift „We celebrate 60 years on the throne“.
Insgesamt
ist Derry eher klein, die Stadtmauern abzulaufen dauert etwa eine
halbe Stunde. Überhaupt sind die wichtigsten Sehenswürdigkeiten in
zehn Minuten zu erreichen. Trotz des beinahe dörflichen Charakters
habe ich mich aber sofort in Derry verliebt. Wie auch in Belfast
reizen mich vor allem die Kontraste: Die Murals der letzten
Jahrzehnte im Gegensatz zu den jahrhundertealten Stadtmauern, die
graue Bogside im Gegensatz zum grünen Umgebung und dem glitzernden
Wasser des River Foyle. Nach meinem ersten Tag war ich mir sicher,
dass es die richtige Entscheidung war, herzukommen.
Sag mal Danica, ist der Ehemann der Kylie Schotte??? Vielleicht aus Edinburgh - dann frag ihn mal ob HIBS or HEARTS?? Liebe, neugierige Grüße!! Rudi
AntwortenLöschenNope, er ist kein Schotte. Im Moment ist er auch nicht in Derry, also kann ich ihn nicht fragen, sorry.
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