Project Ireland: Das Mädchen mit dem Fagott/The Third Night of My Drinking


Am nächsten Morgen stellte ich fest, dass es katertechnisch keinen Unterschied zwischen Bier und Cider gibt. Meine Laune besserte sich aber, als ich hörte, dass Tom die Nacht im Esszimmer geschlafen hatte, unter den Tischen, was schon eine Leistung ist wenn man bedenkt, dass sie nur ca. 30 cm hoch sind. Mehr noch: Als er in seine Tasche griff, fand er eine seiner Locken. Jemand hatte sie abgeschnitten und eine hellblaue Schleife darum gebunden. Wohl ein Abschiedsgeschenk von Kevin. Tom war ziemlich durcheinander und konnte sich an nichts erinnern, nicht einmal daran, dass er Kylie am Vorabend nach einem Job gefragt hatte. Die hatte in weiser Voraussicht geantwortet: „Sprech mich morgen früh noch einmal darauf an“ und sich so des „Problems“ entledigt. Ohnehin war sie nicht zimperlich im Umgang mit Verkaterten. Wenn Gäste um elf noch nicht ausgecheckt haben, weil sie im Bett liegen und schlafen, schaltet sie den Feueralarm ein, was ein ohrenbetäubender Lärm ist, aber sehr effektiv. Sie ist auch ziemlich entspannt in dieser Sache (kein Vergleich zu Wayne), als ein Gast z.B. gefragt hat, ob er im Hostel Alkohol trinken dürfe, meinte sie nur: „Solange du in die Toilette kotzt...“

Ich half ein bisschen beim Putzen und Betten machen, bis Kylie mich bat, dabei zuzusehen, wie Sam ein Paar im anderen Haus in Princes St eincheckt. Das ersparte mir das Kloputzen. Anschließend durfte ich endlich selbst ran: Ich zeigte zwei Asiatinnen die wichtigsten Sehenswürdigkeiten auf dem Stadtplan und checkte meinen ersten Gast ein, Liao aus Taiwan. Ein bisschen Hilfe brauchte ich aber schon, wenn auch nur, weil ich nicht wusste wo die Universität ist und weil Liao eine Quittung haben wollte und ich keine Ahnung hatte, wo der Block ist. Sonst war Kylie aber zufrieden, sodass ich von da an ohne Aufsicht Gäste aufnehmen konnte.

Im Hostel herrschte eine ziemliche Aufregung, weil wir eine Band da hatten: Die Moulettes. Sie waren uns allen unbekannt, aber ihr Bassist (bzw. einer davon) ist auch der Bassist von Mumford & Sons. Die Aussicht, ihn vielleicht zu treffen, versetzte besonders die Damen in Verzückung, sodass ein Großteil der Gang von letzter Nacht den Aufenthalt erneut verlängerte. Nun stellte sich heraus, dass nur fünf der acht oder neun Mitglieder (plus ein Tontechniker) mit nach Derry gekommen waren, und darunter war nicht der Bassist von Mumford & Sons (Ted Dwane heißt er glaube ich). Tagsüber spielten sie in der Universität, aber abends hatten sie einen Auftritt im Culturlánn Uí Chanaín, einem Kulturzentrum, das praktisch gegenüber vom Hostel liegt.

Die anderen verloren das Interesse, als sie hörten, dass der Eintritt 10 Pfund kosten sollte, aber nachdem ich ihr neues Album gehört hatte (sie hatten vorab ein Presseexemplar geschickt), wollte ich sie mir unbedingt anhören. Kylie hatte immerhin erreicht, dass einer von uns sich das Konzert umsonst ansehen konnte. Sie schlug vor, dass Sam und ich uns den Preis für das zweite Ticket teilen, aber er war nicht überzeugt. Er meinte, er müsse sie nicht unbedingt sehen, außerdem könne er es sich nicht leisten. Na ja, angesichts der Tatsache, dass 5 Pfund anderthalb Pint entspricht, sage ich mal, dass er das Geld nicht ausgeben wollte. Er ging aber mit mir zum Kulturzentrum, um alles zu regeln, das fand ich sehr nett.

Offiziell sollte es um acht losgehen, aber als wir um neun ankamen, war noch nichts los. Wir trafen auf Tontechniker Lloyd und die Bandmitglieder Georgina und Ruth. In Gegenwart von Musikern bin ich immer ziemlich gehemmt, weil ich alles so toll finde, was sie machen. Für mich sind sie einfach was besonderes. Die drei waren echt supernett und sehr gut gelaunt. Sie schienen auch überhaupt nicht nervös zu sein, angesichts ihres Auftritts. Zunächst gab es einen Support, Balkan Alien Sound, die aus Derry stammen. Sie spielten überwiegend instrumentale Musik aus Osteuropa, bei einigen Songs wurden sie aber von einer (sehr guten) Sängerin unterstützt. Die Jungs hatten ein stellenweise atemberaubendes Tempos drauf, dass für eine prächtige Stimmung unter den wenigen Gästen sorgte. Die Band selbst schien auch ganz lustig zu sein, so nahmen sie nicht die englische Übersetzung der Lieder als Titel, sondern das, was ihnen phonetisch am nächsten kam, wie “Lionel Richie“ oder “nasty reader“. Insgesamt spielten sie 50 Minuten, es kam mir aber wesentlich kürzer vor.


Eigentlich wollte ich an diesem Abend abstinent bleiben, aber hatte ich ziemlichen Durst, und da Bier das einzige Getränk ist, das in durststillenden Mengen daherkommt, habe ich mir dann doch ein Pint Harp gegönnt. Nach einer kurzen Pause kamen dann die Moulettes auf die Bühne. Mit dabei hatten sie eine ganze Reihe Instrumente: Geige, Cello, Fagott (!), Gitarre, Schlagzeug, Kontrabass, Mandoline, Banjo, Autoharp und Xylophon. Bei so vielen Lieblingsinstrumenten könnt ihr euch vielleicht vorstellen, dass ich ganz aus dem Häuschen war. Außerdem war das die erste Band, die ich sah, die eine Fagottspielerin (Ruth) hat. Georgina spielte Geige, Hannah überwiegend Cello, während die beiden Männer mindestens zwei oder drei Instrumente bedienten. Dabei war ihre Virtuosität echt beeindruckend, besonders Georginas Geigenspiel. Zudem verfügen die drei Damen noch über wunderbare Gesangsstimmen, vor allem wenn sie im Chor gesungen haben klangen sie wie Engel. Es ist schwer, die Musik der Moulettes genauer zu beschreiben, da sie so einzigartig ist. Stellenweise hat sie mich an Lost in the Trees oder Black Prairie erinnert, aber insgesamt ist sie ziemlich unvergleichlich. Die Band selbst nennt sich „Neo-baroque-prog-pop-folk-rockers“. Am besten macht ihr euch selbst ein Bild:


Mir gefielen besonders die orchestralen Arrangements, und dass die Songs keine Standard AABA-3-Minuten-Nummern sind, sondern richtige Entwicklungen durchmachen, fast wie kleine Symphonien. Viele Songs waren düster und traurig, andere hingegen so lebhaft, dass man gar nicht anders konnte als den Takt mitzuklopfen. Die Zuschauer hatte eine unglaublich gute Zeit, nur schade, dass es gerade mal 20 Leute oder so in Culturlánn geschafft haben. Die Moulettes wirkten auch auf der Bühne sehr sympathisch und lustig, etwa als Hannah meinte, dass ihr Mikrofon nach Radieschen riecht. Auch optisch war der Auftritt interessant: Georgina trug ein sehr kurzes Blümchenkleid und Cowboystiefel (ich hatte mich schon den ganzen Tag gefragt, ob sie nicht fürchterlich friert), Hannah ein knielanges Abendkleid und Ruth ein violettes Dirndl.


Ich habe dieses Jahr ja schon so einige hervorragende Konzerte gesehen, und die Moulettes können da locker mithalten. Ich bin so froh, dass sie im Hostel abgestiegen sind und ich mir das Konzert ansehen konnte. Ihre Musik gefällt mir richtig gut und ich kann das neue Album nur empfehlen. Als ich am nächsten Morgen beim Frühstück saß, kam Ruth die Treppe herunter und winkte mir zu. Ich winkte zurück und sie fragte, wie es mir gefallen hat. Ich brabbelte drauf los was für einen tollen Abend ich hatte und wie froh ich war, dass sie das Derry gekommen sind, oder so. „Danke. Und danke, dass du einer von den fünf Personen warst, die gekommen sind.“ Wir führten noch ein bisschen Smalltalk, doch dann musste sie weiter. Sie ist wirklich so was von nett und supercool. Leider haben die Moulettes keine Deutschlandtour geplant, aber wer weiß, vielleicht eines Tages.


Das waren also meine ersten Tagen in Derry. Ich könnte die Einträge auch „Dannie in Wonderland“ nennen, denn es kam mir alles geradezu märchenhaft vor. Die netten Leute, die schöne Umgebung und dann noch so tolle Zufälle wie das Konzert. Manchmal erscheint mir das Reisen wie eine andere Welt. Ich erlebe so viele aufregende Sachen und treffe auf Menschen, die genauso ticken wie ich. Menschen, denen es nicht um die Karriere geht, sondern die von dem überwältigenden Verlangen getrieben werden, die Welt zu sehen. Ich erlebe Dinge, die mir in Deutschland nie passieren würden und die ich dort nie machen würde. Wann zum Beispiel bin ich das letzte Mal dreimal hintereinander ausgegangen? Wahrscheinlich noch nie. Das heißt nicht, dass es nicht auch so etwas wie Alltag gäbe. Doch mehr dazu beim nächsten Mal.

Filme:
Classic Albums: The Band – The Band (****) [noch so ein glücklicher Zufall, dass ich das bei Lovefilm gefunden habe just nachdem ich Levon Helms Autobiographie gelesen habe]
Shark in Venice – ich hab nur die ersten fünf Minuten gesehen, aber nach diesen zu urteilen womöglich einer der schlechtesten Filme, die je gedreht wurden

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