Project Ireland: The Church and the Lighthouse


Am nächsten Morgen musste ich mich schon recht früh auf den Weg machen, da mein Zug Richtung Norden um 9.10 Uhr ging. Zu dieser Stunde war das Hostel praktisch wie ausgestorben, nur Mark der Rezeptionist war schon wach (ob der Arme überhaupt jemals schläft?). In der Küche traf ich zudem auf einen jungen Mann namens Chopper oder Chowpa, ein Londoner, der gebürtig aus Hongkong stammt. Er war nach Belfast gekommen um dem Diamond Jubilee zu entfliehen, hatte aber zu seinem Ärgernis nicht bemerkt, dass die Briten genau wegen dieses Jubilees einen Extra-Feiertag am Dienstag, dem 5. Juni geschenkt bekommen hatten. So musste er schon am Montagabend zurück nach England fliegen.

Der Weg vom Hostel zur Great Victoria Station dauerte nicht so lange wie erwartet, sodass ich noch ein bisschen warten musste und ein bisschen von der Fernsehberichterstattung zum, ja genau, Diamond Jubilee sah. In Nordirland ist es, zumindest in den größeren Städten so, dass man erst zehn bis fünfzehn Minuten vor Abfahrt ans Gleis darf, vorher muss man in der Halle warten, bis der Zug aufgerufen wird, was in Belfast nicht nur die Lautsprecher, sondern auch die Ticketkontrolleure persönlich machen. Die Zugfahrt an sich war ganz gut, abgesehen davon, dass es im Zug dank Klimaanlage furchtbar kalt war. Das kannte ich schon aus anderen Urlauben: Dass man im bibbernd im Zug durch die Gegend fährt während die Leute am Strand draußen einem zuwinken. Recht unterhaltsam fand ich auch die verschiedenen Städtenamen wie Ballymena, Cullybackey oder Bellarena.

In Coleraine musste ich in einen Zug umsteigen. Mein Ziel war Ballintoy, ein kleines Dorf an der Causeway Coast, unweit von der berühmten Carrick-A-Rede Rope Bridge, auf die ich noch genauer zu sprechen komme. Von Belfast nach Coleraine hatte es 90 Minuten gedauert, von Coleraine sind es noch einmal 40 Minuten nach Ballintoy. Auf der Fahrt kamen wir auch durch Bushmills, wo die berühmte Whiskeybrennerei steht, das wie die meisten Orte in der Gegend demonstrativ loyalistisch ist. Netterweise hat der Fahrer die Stopps angesagt, sodass ich dann auch wusste, wo ich aussteigen musste. In Ballintoy angekommen war ich überwältigt und verstört zugleich: Überwältigt von der atemberaubend schönen Landschaft, verstört ob der Winzigkeit des Ortes. Gut, bei ungefähr 150 Einwohnern kann man nicht viel erwarten, aber das man die Menge der Häuser quasi an zwei Händen abzählen kann hat mich schon überrascht.


Praktischerweise lag das Hostel genau gegenüber der Bushaltestelle. Als ich dort ankam, musste ich jedoch feststellen, dass die Rezeption geschlossen war. Dafür liefen eine ganze Menge Kinder in dem Haus herum. Eine Gruppe Mädchen hatten sich in der Küche versammelt und sang aus vollem Leibe „Proud Mary“, während die das Spültuch schwangen, und das gar nicht mal schlecht. Ein bisschen erschreckte mich ja die Aussicht, das Hostel womöglich mit ein paar dutzend 11-jährigen(schätzungsweise) zu teilen, andererseits waren sie wirklich sehr höflich und hilfsbereit, auch wenn sie vermuteten, dass im Hostel kein Platz mehr für mich ist. Nachdem ich also eine Weile gewartet hatte, bemerkte ich, dass jemand zwischenzeitlich im Büro Platz genommen hatte. Ich fragte die Dame, Josephine, wie es denn mit der Reservierung aussähe und sie war auch sehr freundlich, meinte aber, dass mein Zimmer erst um halb zwei fertig sei. Ich ließ also meine Tasche bei ihr und machte einen Abstecher ins Dorf.


Der Anblick war so gigantisch, dass ich gar nicht wusste, was ich mir zu erst ansehen sollte: Tiefgrüne Felder, die sich im Wind wiegten und von Schafen und ihren Lämmern bewohnt wurden, und dahinter die Steilküste mit dem tiefblauen Ozean. Auf der anderen Seite die Hügel mit der blühenden Heide und ab und zu ein schneeweißes Haus. Mein liebstes Gebäude war eine kleine weiße Kirche, die sich unweit der Klippe befand. Zunächst ging ich aber durch den „Ort“, wenn man so will. Ich war nämlich ein bisschen unschlüssig, was die Nahrungsbeschaffung anging. Einen Supermarkt, so viel war klar, gab es nämlich nicht. Alles was ich entdecke konnte, war ein Laden mit Kunsthandwerk. Von da an war die Landschaft nur noch nebensächlich, denn die Aussicht, das Wochenende mit 4 Scheiben Käse, 8 Scheiben Toast und 4 Müsliriegeln (das hatte ich noch bei mir) verbringen zu müssen, erschreckte mich doch sehr. Der nächste Supermarkt war in Ballycastle (wo ich ursprünglich hatte bleiben wollen, doch das Hostel war bereits im März ausgebucht gewesen), doch da am Wochenende nur zwei Busse am Tag fuhren, musste ich einen Weg zu Fuß zurücklegen. Nun waren es nach Ballycastle immerhin sieben Kilometer über die Hügel. Lust zu laufen hatte ich keine, zumal meine Füße immer noch von der 15km-Wanderung vom Vortag schmerzten.


Nichtsdestotrotz ging ich erst einmal in Richtung Ballycastle; dass es keinen richtigen Bürgersteig oder Wanderweg gab entmutigte mich nur noch mehr. Ich machte daher einen Abstecher zur Rope Bridge. Dabei handelt es sich um eine Hängebrücke, die das Festland mit der Insel Carrick-a-Rede verbindet. Darunter befindet sich eine dreißig Meter tiefe Schlucht. Gerade weil die Überquerung ein bisschen Mut erfordert, ist die Rope Bridge immens populär bei Touristen. Auch an diesem Tag drängten sich die Besucher an der Kasse. Ich war überrascht festzustellen, dass die Tickets für die Überquerung der Brücke an einem Kiosk verkauft werden, der von der Brücke einen Kilometer entfernt ist, an einem Standpunkt, von dem aus man die Brücke gar nicht sehen kann. Ich habe das dumpfe Gefühl, dass das Absicht ist. Wenn die Leute an der Brücke ankommen und sich dann doch nicht trauen, haben sie immerhin schon bezahlt. Clever, clever.


Ich war mir noch nicht sicher, ob ich die Rope Bridge wirklich überqueren sollte, zumal mir ein Preis von 5.40 Pfund doch ein bisschen überzogen erschien. Ich beschloss, die Entscheidung auf den folgenden Tag zu verschieben, an dem ich vom Giant's Causeway zurück nach Ballintoy zur Rope Bridge wandern wollte, der berühmteste Abschnitt des Causeway Coast Walks. An diesem Tag ging ich erstmal in die andere Richtung, zurück nach Downtown Ballintoy, als ich plötzlich von einem der Parkplatzwächter angesprochen wurde. „Where are you going? Giant's Causeway?“ „Oh no, only to the little white church.“ „Ah, the house where God lives.“ Ich zuckte die Achseln. Er fragte mich wo ich herkomme und fing im Anschluss zu meiner Überraschung an, Deutsch zu reden. So empfahl er mir, nicht nur die Kirche, sondern auch den Hafen zu besuchen. Ich bedankte mich und machte mich auf den Weg.


Nach anderthalb, zwei Kilometern kam ich schließlich bei der kleinen, weißen Kirche und dem umliegenden Friedhof an. Das Tor war geschlossen, sodass man leider nicht hinein konnte. Erstaunlicherweise gibt es aber an jedem Sonntag einen Gottesdienst, am ersten Sonntag des Monats dazu die Kommunion. Fast noch erstaunlicher fand ich die Tatsache, dass es neben dieser Kirche (Church of Ireland) noch eine presbyterianische und eine „Gospel Hall“ (was auch immer das ist) in Ballintoy gibt. In gewisser Weise ist Ballintoy genau so, wie man sich ein irisches Dorf vorstellt: Drei Kirchen, drei Pubs, zwei Tea Rooms aber keinen Supermarkt (und keinen Handyempfang).


Den Harbour schaute ich mir nur von oben an, da ich da auf meiner Wanderung noch vorbeikommen würde. Aber auch so gefiel er mir sehr mit den blühenden Felsen und dem kleinen Café. Danach machte ich mich auf den Weg zurück ins Hostel, um meine Sachen in mein Zimmer zu bringen und das Essensproblem zu lösen. Ich kam extra schon zwanzig Minuten später aber trotzdem musste ich noch einmal eine Viertelstunde auf Josephine warten. Sie meinte, sie könnte mir jetzt mein Zimmer zeigen, aber sie müsste noch saugen. Oh, um Himmels Willen! Ich fragte mich, warum das alles so lange dauerte. Was muss man in einem Hostel schon groß machen, außer die Betten? Als ich das Zimmer sah, war ich allerdings schon überrascht, wie porentief rein es war. Es war ein 6-Bett-Zimmer mit Badezimmer, mit dunklem Holzfußboden und passenden Betten. Ich fand es nicht nötig zu saugen, aber ich wollte Josephine auch nicht im Weg sein, also lud ich meine Tasche auf dem Stuhl ab und machte mich wieder auf. Vorher fragte ich sie jedoch, ob es im Dorf irgendwelche Geschäfte gibt. „Och, es gibt einen Shop, der Süßigkeiten und ein paar Kleinigkeiten hat“, sagte sie lächelnd.


Ich ging also die einzige Straße, die Main Street entlang, und fand tatsächlich einen „Village Shop“. Der Lonely Planet hatte von so einem Geschäft gesprochen, aber als ich den Laden betrat, musste ich feststellen, dass dies ein unglaublicher Euphemismus war. Dort gab es nichts außer Süßigkeiten, Eiscreme und ein paar Getränke in 0,5-Liter-Flaschen. So kaufte ich bloß zwei Flaschen Wasser. Der Verkäufer war dafür sehr nett und stellte mir ein paar Fragen über meinen Urlaub.

Auf dem Weg zurück wurde ich doch etwas unruhig. Käsetoast hing mir schon jetzt zum Hals raus, und eine warme Mahlzeit am Tag sollte es schon sein, finde ich. Theoretisch gäbe es noch die Möglichkeit im Pub zu essen, doch die Ausgabe hatte ich nicht mit eingerechnet. Dementsprechend hatte ich nicht genug Bargeld dabei und einen Geldautomaten gab es selbstverständlich auch nicht. Okay, im Notfall konnte ich sicher in Coleraine Geld abheben, um ein Ticket nach Derry zu kaufen, aber das wollte ich nicht unbedingt. Als ich im Hostel meine Reste aus Belfast in den Kühlschrank packen wollte, stellte ich immerhin zu meiner Freude fest, dass ich noch zwei Beutel Reis hatte, darauf konnte man aufbauen, auch wenn es auf dem Free Food Shelf leider keine Soße gab. Leider gab es auch keine Milch, sodass ich Tee statt Instantkaffee trinken musste. Da die Anzahl der Teebeutel begrenzt war, bunkerte ich gleich ein paar, um morgens was warmes zu Trinken zu haben.

Zu dem Zeitpunkt war ich die einzige im Hostel, das eine große Küche und ein großes Wohnzimmer hatte. Überhaupt wirkte es eher wie ein Wohnhaus als wie ein Hostel. Während ich mich so umschaute, fiel mein Blick plötzlich auf einen Flyer vom Wee Shop, der an der Wand hing. Dieser verkündete ein neues Management und dass man jetzt auch Produkte wie Milch und Brot verkaufen würde. Milch! Brot! Sollte es tatsächlich möglich sein, in Ballintoy Lebensmittel zu kaufen? Der Wee Shop war besagter Laden mit Kunsthandwerk und ich machte mich augenblicklich auf den Weg, ihn genauer zu inspizieren. In der Tat hatten sie eine kleine Auswahl an Lebensmitteln. In gewisser Weise war es der merkwürdigste Laden in dem ich jemals war, denn die meisten Produkte waren Einzelstücke. Dementsprechend war auch der Preis. Am Ende entschied ich mich für eine 2-Liter-Flasche Wasser, 6 Eier und eine 200g-Packung Cheddar, wofür ich knapp fünf Pfund bezahlte.

Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie erleichtert ich war. Jetzt musste ich nicht hungern, im Pub essen oder nach Ballycastle laufen. Und auch wenn Reis, Rührei und Käse auf den ersten Blick eine etwas merkwürdige Kombination zu sein scheint, schmeckte es ganz hervorragend. Mittlerweile war ich übrigens nicht mehr der einzige Gast: Zwei Damen, die ungefähr Mitte Sechzig waren, waren ebenfalls in der Küche. Sie hießen beide Mary: Mary I war freundlich und liebte es, Geschichten zu erzählen. Sie hatte tiefschwarzes Haar (mittlerweile wohl gefärbt) und trug meist Jogginghose und einen Leopardenmantel. Mary II hatte blondes Haar und trug schwarze Kleidung. Sie saß meist draußen und rauchte, meinen Gruß erwiderte sie immer mit einem grummeligen „Hello“. Die beiden waren im Auto unterwegs und hatten sich intelligenterweise schon vorher mit reichlich Nahrungsmitteln eingedeckt. Zu meiner großen Überraschung bestanden sie darauf, meinen Abwasch zu machen. „Das müsst ihr wirklich nicht machen!“, protestierte ich. „Doch, doch!“ Ich fragte mich, ob das irgendeine kulturelle Eigenart ist, für andere Leute den Abwasch zu machen und ob dafür irgendeine Gegenleistung verlangt wird. Seltsam.

Auch im Zimmer war ich nicht mehr allein. Ein junger Mann kam aus der Dusche, der sich als John vorstellte. Er war Ire, fing aber, kaum zu glauben, plötzlich an, Deutsch mit mir zu sprechen. Er erzählte mir, dass er seit September Deutschunterricht nimmt, bei einer Deutschengländerin aus Saarbrücken. Dafür, dass er erst seit seit neun Monaten lernt, konnte er es erstaunlich gut. Außerdem befanden sich noch zwei andere Iren im Zimmer: Mark, der mittlerweile in Bristol lebt, und Andrew aus Dublin. Die beiden wollten von Portstewart nach Ballycastle wandern und sind bereits nach unglaublichen anderthalb Tagen in Ballintoy angekommen, obwohl das zu Fuß vielleicht 35, 40 Kilometer sind.

Ich liebte die drei Iren. Ich hätte ihnen stundenlang zuhören können, weil sie so witzig und interessant waren. Und als ob ich noch nicht genug Überraschungen an dem Tag gehabt hätte, stellte sich heraus, dass Andrew Dozent am berühmten Trinity College in Dublin war (er konnte sehr gut reden und erklären, von daher hätte es mich nicht überraschen sollen) und dass John als Banker in der Londoner City arbeitete, bei einer Schweizer Bank (daher der Deutschunterricht). Ich muss zugeben, dass das mein Weltbild einigermaßen erschüttert hat. Ich hätte nie gedacht, dass Uni-Dozenten und vor allem Banker in Hostels schlafen, noch dazu in Dorms. Banker hatte ich mir immer als gefühlskalt und langweilig, als gierige Kapitalisten vorgestellt, doch John war überhaupt nicht so. Er war freundlich, intelligent, witzig und bescheiden. Okay, ich habe nur ein paar Stunden mit ihm verbracht, aber ich fand ihn unheimlich sympathisch. Wenn er noch länger geblieben wäre, hätte ich mich womöglich gar in ihn verknallt. Das ist das Großartige am Reisen, dass es die eigenen Klischees und Vorurteile aufgeweicht.

Insbesondere ihre irische Sicht der Dinge interessierte mich. Alle drei waren zutiefst überrascht von der Freundlichkeit der Nordiren. Andrew war immerhin in Donegal an der Grenze aufgewachsen, doch John war noch nie Nordirland gewesen. Zu meinem Erstaunen trauten sie sich in den loyalistischen Städten und Dörfern kaum den Mund aufzumachen, aus Angst, dass man ihnen anhören könnte, dass sie aus der Republik kommen. John hatte sich sogar schon etwas zu seiner Verteidigung überlegt: „Ich wohne in London. Ich bezahle meine Steuern in England. Verdammt, ich bezahle sogar eure Queen!“ Für mich war das ganz amüsant denn ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass man ihnen die südirische Herkunft so genau anhört, oder das irgendwer im Norden ihnen dafür den Schädel einschlagen würde. Auch interessant: Alle beklagten sich, dass der Irisch-Unterricht an den Schulen so furchtbar ist und dass sie nichts behalten haben außer „Darf ich bitte auf die Toilette gehen?“, da die Lehrer ihnen dies nur erlaubten, wenn sie den Satz auf Gälisch sagten.

Wie es sich für echte Iren gehört, gingen Mark und Andrew noch ins Pub, doch John und ich waren zu müde. Ich dachte, dass es auf dem Land einfacher wäre zu schlafen, so ohne Verkehrslärm, doch da hatte ich mich getäuscht, denn es stürmte wie verrückt. Außerdem fiel alle paar Minuten ein Lichtstrahl ins Zimmer. Zu meiner Freude entpuppte sich dieser als das Signal des Leuchtturms auf Rathlin Island. Ich hatte schon viele Leuchttürme gesehen, aber noch nie einen Aktiven bei Nacht. Das fand ich unglaublich cool.

Das nächste Mal kommen wir dann zu meiner bisher anspruchsvollsten Wanderung, außerdem gibt es mehr interessante Einsichten über die Iren.

Kommentare

  1. Hi Danica, also bei uns in Mömbris gibt es zwei Ortsteile (Molkenberg und Angelberg), die nur jeweils 60 und 80 Einwohner haben - da reicht bald eine Hand um die Häuser zu zählen. Ja und der Banker im Hostel - Danica, der hat bestimmt keinen Bonus bekommen - ne Witz beiseite, wie Du schon sagst, niemals alle über einen Kamm scheren. Liebe Grüße! Rudi

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