Project Ireland: The Big Hike/A Tale of Two Marys

Sonntag war also der Tag der großen Wanderung. Ich hatte mir wie erwähnt vorgenommen vom Giant's Causeway zurück nach Ballintoy, oder genauer gesagt, zur Rope Bridge zu laufen. Als ich um halb neun aufstand, war John bereits abgereist, was mich ein bisschen traurig machte, denn ich hätte mich gerne noch von ihm verabschiedet. Aber so ist das Hostelleben. Das einzige, was mich an diesem Hostel störte war, dass es kein Frühstück gab. Na ja, stören ist vielleicht zu viel gesagt, aber es wäre ein nettes Extra, vor allem wenn man bedenkt, wie schlecht man dort an Lebensmittel kommt. So musste ich mich also auf einen Tee beschränken, was nicht annähernd so befriedigend war wie ein Kaffee. Dafür stimmte die Gesellschaft. Mary I war in der Küche und furchtbar aufgeregt, weil sie gerade in der Zeitung gelesen hatte, dass die olympische Fackel an diesem Tag zur Rope Bridge kommen sollte. Wie ihr euch denken könnt, interessiert mich Olympia nicht die Bohne, aber die Aussicht, unter Umständen die Fackel zu sehen, fand ich schon ganz cool. „Ach, ist das toll“, meinte Mary I, „unser ganzer Urlaub war so fantastisch und jetzt auch noch das! Uns fällt alles in den Schoß!“ Wann die Fackel allerdings genau an der Rope Bridge sein würde, konnte sie mir nicht sagen.

Es stieß dann noch ein älteres Ehepaar aus Neuseeland zu uns, das mit Tochter und Schwiegersohn unterwegs war. Die Tochter, Ally, war erst 25, aber trotzdem schon verheiratet und nach England ausgewandert. Ihre Eltern hatten zunächst die Vereinigten Arabischen Emiraten und Marokko besucht, sind dann weiter nach Holland, da eine Tochter in Rotterdam lebt, und schließlich auf die Britischen Inseln gefahren, um Ally und ihren Mann abzuholen. Insgesamt hatten sie vier Töchter. „Vier Töchter!“, rief Mary I erschrocken. „Ich wollte nie eine Tochter. Gott sei Dank habe ich vier Söhne.“ „Ach, wir sind ganz zufrieden“, meinte die Neuseeländerin und lächelte ihren Mann an, der zustimmend zurücklächelte. „Um Töchter hätte ich viel zu viel Angst“, erklärte Mary I. „Hätte ich eine Tochter gehabt, ich hätte sie in ein Kloster sperren müssen!“, rief sie, woraufhin wir alle in Lachen ausbrachen. Irgendwie konnte ich mir Mary I schlecht als Mutter vorstellen, weil sie so, na ja, flippig war. Sie erzählte auch, dass sie schon die USA und Australien bereist hat, immer mit Mary II, da ihr Mann nicht gerne vereiste, sie aber bereitwillig ziehen ließ.

Ich hätte ihnen noch länger zuhören können, aber ich musste meinen Bus erwischen. Von Ballintoy dauerte es ungefähr 15, 20 Minuten bis zum Giant's Causeway. Dort angekommen, genehmigte ich mir erstmal einen ordentlichen Kaffee. Ah, das ist doch schon viel besser! Ich hatte mich im Vorfeld über meine Planung geärgert, ausgerechnet an einem Sonntag herzukommen, und dann auch noch am Bank Holiday Wochenende, aber die Besucherzahl hielt sich noch in Grenzen, vielleicht auch, weil es „erst“ kurz nach zehn war.


Ah, der Giant's Causeway! Ich hatte natürlich Bilder en masse gesehen, aber selbst dort zu sein, das war schon was besonderes. Ich denke, man kann mit Fug und Recht behaupten, dass der Causeway eins der wundersamsten Dinge ist, die Mutter Natur hervorgebracht hat. Diese Ansammlung von Steinen, die so perfekt sechseckig geschliffen sind, dass es schwer fällt zu glauben, dass sie nicht von Menschenhand geschaffen wurden. Genau genommen handelt es sich nicht um Steine, sondern um Basaltsäulen, die durch das langsame Abkühlen von Lava entstehen, denn vor geschätzten 60 Millionen Jahren ist dort ein Vulkan ausgebrochen, der mittlerweile jedoch nicht mehr existiert. Der Legende hat der irische Riese Fionn mac Cumhaill alias Finn McCool einen Damm bis nach Schottland gebaut und seinen Widersacher Benandonner zum Kampf herausgefordert. Dann bekam Finn es jedoch mit der Angst zu tun und bat seine Frau, ihn als Baby zu verkleiden. Die List war erfolgreich: Beim Anblick des stattlichen Babys ergriff Benandonner die Flucht, da er annahm, dass der Vater noch um einiges größer sein musste. Dabei riss er der Damm nieder, nur der Giant's Causeway bliebt übrig.


Nachdem ich unzählige Fotos von dem Ort gemacht habe, begann ich endlich die Wanderung. Das erste Stück hatte es gleich in sich, denn man musste ca. 160 Stufen, die sogenannten Shepherd's Steps, zurücklegen, um oben auf die Klippe zu kommen. Dafür wurde man mit einem spektakulären Blick über die Steilküste belohnt. In der Klippen selbst befanden sich teilweise weitere Säulen, eine Formation, die man auch „die Orgel“ nennt, denn die Steine sehen aus wie Orgelpfeifen. Der Blick nach Süden war aber auch nicht zu verachten, denn dort erstreckten sich grüne Felder und die gelben Blüte der Heide.


Nach vielleicht 30, 45 Minuten machte der Weg eine kleine Biegung. Unterhalb der Küste lag ein Haus mit einem roten Dach, bei dem es sich um eine alte Lachsfischerei handelte. Von dort aus konnte man auch zum ersten Man die kleine weiße Kirche von Ballintoy sehen, wobei ich schon erschrocken war, wie weit sie entfernt war, denn sie war nur ein winziger weißen Punkt in der grünen Landschaft. Bald darauf kam ich zum Dunseverick Castle, dass mittlerweile eine Ruine ist, aber früher ein durchaus bedeutender Ort war und sogar von St. Patrick besucht wurde.


Danach wurde es kompliziert. In Dunseverick Harbour hing ein Schild am Zaun, dass der Wanderweg bis nach Portbraddon gesperrt ist. Na großartig! Eine alternative Route hatten sie nicht, sodass ich dumm dastand. Da der Hafen von Dunseverick ein ganz Stück unterhalb der Schlossruine liegt, hatte ich keine Lust, den Weg zurück zu laufen und die Straße nach Portbraddon zu nehmen, zumal die eh schon recht eng war und es keinen Fußweg gab. In Dunseverick Harbour gab es einen kleinen Coffee Shop, der eher wie eine Imbissbude aussah, und mangels Alternativen fragte ich dort nach. Der Angestellte war nett, aber er fühlte sich sichtlich unwohl. Er meinte, ein Stück weit könnte ich den Weg entlanglaufen, doch dann sollte ich den Hang hochklettern, bis ich oben am Rand der Klippe bin. Von dort aus würde ich nach einer Weile wieder auf den Wanderweg kommen. „Aber du musst immer ganz nah am Zaun entlanggehen! Und halt den Kopf unten, damit die Farmer dich nicht sehen! Und wenn jemand fragt: Von mir hast du das nicht!“

Na, das kann ja heiter weiter, dachte ich. Ich hatte schon gelesen, dass manche Farmer höchst empfindlich reagieren, wenn Wanderer ihr Land betreten und ich hatte keine Lust, über den Haufen geschossen zu werden. Ich streifte durch das kniehohe Gras, den Wanderweg entlang, auf dem mir glücklicherweise eine Familie folgte. Das Schild warnte vor Steinschlag und mir war etwas unwohl, direkt an der Felswand entlang zu gehen, doch wenn eine Familie mit kleinen Kindern das macht, wird es wohl nicht so schlimm sein, dachte ich. Von wegen. Kurz darauf hatte ich nämlich einen dicken Felsbrocken vor der Nase, der den Wanderweg regelrecht zerstört hatte und jegliches Weiterkommen unmöglich machte. Die Familie zuckte mit den Schultern und kehrte kurzerhand um.

Ich ging ein paar Meter zurück und kletterte wie empfohlen den Hügel hoch, bis ich in der Gesellschaft einiger Schafe war. Ich fühlte mich höchst unwohl, denn am Zaun prangte ein Schild mit der Aufschrift „Private Land – No Trespassing“. In dem Moment war ich heilfroh, dass Sonntag war und der Farmer nicht bei der Arbeit. Ich ging als mit leicht gebeugtem Oberkörper am Zaun entlang, bis ich den Wanderweg erblickte. Um auf ihn zurückzukehren, musste ich über den Stacheldrahtzaun klettern, was einige Anstrengung und noch mehr Mut erforderte, da dieser mit immerhin bis zur Brust ging, doch dann kletterte ich auf die Pfahlstütze und schwang mich irgendwie auf die andere Seite. Abgesehen von einer kleinen Schramme blieb ich unversehrt.


Puh, das war schon fast zuviel Abenteuer für meinen Geschmack. Im Anschluss kletterte ich dann auch noch auf einen Felsen, weil ich meinte, dass der Wanderweg dort entlangführte, doch ich hatte mich getäuscht. Wieder herunter zu klettern war schon schwieriger und in mir wuchs die Einsicht, dass ich vielleicht doch nicht schwindelfrei genug bin für die Rope Bridge. Der richtige Weg führte durch eine Höhle, hinter auch Portbraddon lag, das eigentlich nur aus fünf Häusern am Strand besteht.


Portbraddon ist der Auftakt zur White Park Bay, ein ungefähr drei Kilometer (gefühlt eher zehn Kilometer) langer Strand. Das war schon beeindruckend und erinnerte mich stark an Tasmanien, vielleicht weil das Klima dort ebenso wenig zum Baden taugt. Leider war zu diesem Zeitpunkt wieder jeder Schritt eine Qual, sodass mich nicht so richtig an der Schönheit der Bucht erfreuen konnte. Der Sand wirkte er wie ein Laufband, das in die entgegengesetzte Richtung läuft, sodass ich das Gefühl hatte, nicht richtig voranzukommen. Ich weiß nicht, wie lange ich gebraucht habe, um den Strand einmal komplett entlangzugehen, aber es würde mich nicht verwundern, wenn es eine Stunde gewesen wäre.


Wenigstens belohnte mich der Wettergott für meine Mühe mit ein paar Sonnenstrahlen. In der Gegend selbst waren übrigens recht viele Spaziergänger, aber ihrer Kleidung und ihrem Schuhwerk nach zu urteilen, sind die alle mit dem Auto zur Bucht gefahren und nicht gewandert. Ein bisschen bewunderte ich sie ja, weil sie sich so mühelos bewegten. Es war eine kleine Erleichterung, als ich in Ballintoy Harbour ankam, wenngleich die Aussicht, wieder oben zur Küste hochlaufen zu müssen, meine Freude etwas dämpfte. Als ich dann aber endlich oben ankam, an der kleinen weißen Kirche vorbei, war ich schon ein bisschen stolz. Denn nun war es die alte Lachsfischerei, die nur noch ein winziger roter Punkt in der grüngrauen Felswand war.


Ein Teil von mir wäre am liebsten gleich zurück zum Hostel gegangen, doch ein anderer Teil bestand darauf, auch wirklich den kompletten Weg bis zum Parkplatz von Carrick-A-Rede zu gehen. Auch wenn das Stück wirklich sehr schön ist, war der Schmerz in Füßen und Rücken so übermächtig, dass ich es nicht wirklich genießen konnte. Nach gut fünf Stunden kam ich dann endlich an meinem Ziel an. Das machte zwar nur eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 3,4 km/h, doch da ich einige Höhenunterschiede überwinden und auch ein bisschen über Stock und Stein klettern musste, war ich ganz zufrieden mit meiner Leistung.


Blieb noch die Frage, ob ich nun über die Brücke gehen soll. Es war nicht gerade meine klügste Idee, ausgerechnet am selben Tag wie die olympische Fackel dort aufzukreuzen, denn es war ganz gut was los, sodass die Wartezeit auf beiden Seite der Brücke 25 Minuten betrug. Nee, dachte ich mir, dann nicht. Ich hatte definitiv keine Lust, fast eine Stunde in der Gegend rumstehen, um eine Brücke zu überqueren. Zumal das vom Parkplatz zur Brücke zum Parkplatz zum Hostel noch einmal ca. vier Kilometer Fußweg wären. Ich wollte nicht mehr. Ich wollte nur noch mein Bett.


Im Hostel traf ich sogar Josephine an der Rezeption an, sodass ich endlich die Übernachtungskosten bezahlen konnte. Mary II saß draußen auf der Bank und rauchte. „Hello“, sagte ich zu ihr. „Hello“, brummte sie zurück. Endlich wieder im Zimmer ließ ich mich erstmal aufs Bett fallen und pennte zwei Stunden lang wie ein Stein. Ich nahm ein Dusche und verwertete meine Essensreste. Schließlich kamen auch Mark und Andrew wieder, die in Ballycastle gewesen und dort tatsächlich die olympische Fackel gesehen hatten, obwohl sie das eigentlich gar nicht interessierte. Sie zeigten Mary I und mir Fotos und ein Video von dem Ereignis, aber ich war nicht begeistert. Ich glaube, das Feuer war nicht mal echt. Mary I hingegen war völlig aus dem Häuschen. Sie erzählte, dass die Fackel es nicht mehr zur Rope Bridge geschafft hatte, aber dafür am nächsten Morgen am Giant's Causeway sein würde, was sie und Mary II sich dann ansehen würden.

Mary I hatte Mark und Andrew ebenfalls sehr gern, vielleicht weil sie ebenfalls aus Irland stammte, aus Cork. Sie erzählte uns die Geschichte, wie sie tags zuvor eine Dame getroffen hat, die aus derselben Gegend stammt wie sie und ebenfalls eine geborene Mary O'Connor ist. Außerdem berichtete sie, wie sie einmal auf einer Stadtrundfahrt in Boston einen Kollegen ihres Mannes getroffen hatte. „It's a small world!“ Irgendwie kam ich dann auch dazu, ihr von dem Job in Derry zu erzählen, weil die Jungs danach fragten und sie wünschte mir alles Gute. Die Jungs hatten es noch etwas besser, denn sie bekamen die Reste ihres Chili.

Ich blieb noch etwas in der Küche, da Andrew mir Tee gemacht hatte. Auf einmal kam Mary II herein, direkt auf mich zu. „Ich habe gehört, dass du morgen eine neue Arbeit beginnst! Das ist ja großartig! Ich wünsche dir alles Glück der Welt! Wie fühlst du dich denn damit?“ „Eh... ich fühle mich gut.“ „Tatsächlich?“ „Ja...“ Ich war völlig von der Rolle. Mary II war immer so brummig, so eine plötzliche, herzliche, gar mütterliche Anteilnahme kam völlig unerwartet. Ich musste ihr erstmal etwas über den Job erzählen und klarstellen, dass das nur begrenzt ist und ich nicht nach Derry auswandern werde, was sie wohl ursprünglich gedacht hatte. Dennoch wünschte sie mir alles erdenklich Gute. Sie wollte mir noch Chili abgeben und eine heiße Schokolade machen, aber ich lehnte dankend ab, da ich schon gegessen hatte und die Jungs mir wie gesagt Tee gemacht hatten.

Schließlich wandte sie sich Mark und Andrew zu. „Ich gebe euch gerne was von dem Chili, unter einer Bedingung: Ihr hinterlasst die Küche blitzsauber, sonst trete ich euch in den Arsch, ist das klar?“ Da fiel nicht nur mir die Kinnlade herunter, auch die Jungs wirkten ziemlich eingeschüchtert. „Ernsthaft: Ihr habt die Wahl. Entweder den Belfast Kiss oder den Belfast Kick. Belfast Kiss ist ein Kopfstoß, Belfast Kick ist ein Tritt in die Eier. Ich weiß wovon ich rede! Ich komme aus Belfast! Ich wohne zwar seit 40 Jahren in England, aber den Belfast Kick kann ich noch!“ Keiner von uns dreien sagte ein Wort. Ich weiß nicht, was ich erstaunlicher fand, dass sich ihr Ton innerhalb von einer Minute von zuckersüße Oma auf Gangmitglied änderte, oder dass eine 65-jährige Frau zwei 28-jährigen Männern androhte, ihnen wahlweise in den Arsch oder die Eier zu treten.

Das Wort „Eier“ schien bei Mary II irgendwas auszulösen, denn in den folgenden Minuten ließ sie sich lautstark darüber aus, dass die Eier und das Gehirn eines Mannes ja praktisch dasselbe seien. „Erzählt mir nicht, dass das Gehirn eines Mann unabhängig von seinen Eiern funktioniert! Brain and bollocks – es gibt einen Grund, warum beides mit B anfängt!“ Schließlich stellte sie sich neben mich und zeigte mit dem Finger auf die Jungs. „Ich warne euch: Das hier ist ein liebes polnisches Mädchen und wenn ihr euch nicht wie Gentlemen aufführt – I'm gonna kick you in the bollocks!“ „Aber wir sind Gentlemen!“, protestierte Andrew schwach. Ich war in erster Linie wegen dem „polnisch“ verwirrt (und auch wegen dem „lieben Mädchen“). Wahrscheinlich hatte Mary da was durcheinander gebracht, da sie vorher von den gutaussehenden, polnischen Männern geschwärmt hatte. „Aber sehen wir denn nicht gut aus?“, fragte mich Andrew. „Natürlich seht ihr gut aus.“, erwiderte ich. „Na, das klang ja sehr überzeugend!“, beschwerte sich Mark. Hässlich waren die Jungs wirklich nicht, aber auch keine Supermodels. Mark sah aus wie ein typischer Ire mit seinem feuerroten Haar und Vollbart, Andrews Haare hingegen waren schwarz. Er hatte schon eine ziemlich hohe Stirn und sie sich vielleicht deswegen fast abrasiert, zumindest waren sie nicht wesentlich länger als sein Drei-Tage-Bart.

Auch das Diamond Jubliee versetzte Mary II in Rage. „Was hältst du von der Queen?“, fragte sie mich. Auch das noch, dachte ich, ein ganz heißes Eisen. Und dann kommt sie auch noch aus Belfast. Das heißt sie liebt oder hasst die Queen. Was sage ich da nur? Ich entschied mich für die Wahrheit: „Eigentlich ist die Queen mir ziemlich egal“. Das war exakt die richtige Antwort. „Genau!“, rief Mary II. „Mir ist die Queen auch egal. Scheißegal! Die Queen und ihre ganze Sippe von geistig instabilen Bastarden!!! Das sind sie nämlich: Bastarde! Und geistig instabil!“ Okay, sie hasst die Queen. „Das habt ihr Deutschen uns eingebrockt! Von euch stammt die ab! Aus dem schlimmsten Teil von Europa sind die zu uns gekommen. Aus.. Aus... Wenn man an den Alpen links abbiegt... genau da kommen sie her!“ Oh je. Ich glaube, für die Queen hat die Deutschen noch niemand verantwortlich gemacht. Aber wenigstens erinnerte sie sich nun an meine Nationalität. „Mehr werde ich aber nicht sagen! Das wäre kulturell beleidigend“, meinte sie schließlich, obwohl es ihr schwerfiel, das Thema ruhen zu lassen. Es hätte mich auch nicht gestört, wenn sie weiter geredet hätte, im Gegenteil.

Irgendwie kamen wir dann auf die olympische Fackel zu sprechen, die Mary II ebenso sehr interessierte wie Mary I. Mark erzählte, dass die Fackel gar nicht von Läufern von Ort zu Ort getragen wird, sondern in einem Van transportiert wird. Das fand ich persönlich extrem enttäuschend. Der Fackellauf ist meiner Meinung nach das einzig coole an Olympia und jetzt musste ich feststellen, dass er gar nicht existiert. Mary II hingegen machte Witze über das Wort „Van“ à la „mad in the van with the lad“, was in einem Lachflash ihrerseits endete. Schließlich riss sie sich zusammen und verabschiedete sich von uns, nicht ohne mir noch mal alles erdenklich Gute für meinen Job und meine Reise zu wünschen.

Mark, Andrew und ich waren auf unseren Stühlen zusammengesackt und mussten erstmal tief durchatmen. Mein Gesicht war tränenüberströmt vor Lachen, während die Jungs sichtlich schockiert waren. Ihr Gesichtsausdruck war wirklich unbezahlbar. „Ich glaube, es herrscht eine männerfeindliche Stimmung im Raum“, meinte Andrew. „Wo kam das denn her?“, fragte Mark perplex. „Wieso ist sie denn so ausgeflippt?“ „Wegen deinen Eiern, Mann“, erwiderte Andrew. Mark wollte das Chili gar nicht mehr anfassen, aus Angst, dass dies Marys Tiraden ausgelöst haben konnte. „Hast du ihr irgendwas erzählt?“, fragte Andrew mich. „Ach was, ich hab nur ein paar mal Hallo zu ihr gesagt! Das kam total überraschend!“, antwortete ich. In der Tat, hätte ich nicht so vor Lachen geweint, hätte ich es wohl vor Rührung getan. Ich habe es noch nie erlebt, dass ein Fremder mir gegenüber so herzlich ist. Vor allem so plötzlich. Und das waren ja nicht nur netten Floskeln, das war ein richtiger Freundlichkeitserguss. Ich hatte kein Zweifel daran, dass Mary II das nicht nur aus lauter Höflichkeit gesagt hatte (sie hätte ja auch nicht extra zu mir kommen müssen), sondern dass es von Herzen kam. Dennoch frage ich mich ernsthaft, was ich getan habe, dass sie so furchtbar nett zu mir war. Ich glaube, in Deutschland wird mir so etwas nie passieren. Ich werde auch nie wieder das Wort „Olympia“ oder „Fackel“ hören können, ohne an Mary II und ihre Bollocks-Rede zu denken.

Später saß ich im Wohnzimmer auf dem Sofa, als ich plötzlich sah, dass einige Gäste die Einfahrt herunterliefen, unter anderem auch Mary I in ihrem Leopardenmantel. Ich fragte mich noch, was das zu bedeuten hatte, als Josephine hereinkam. Sie erzählte mir, dass man draußen einen ganz schönen Sonnenuntergang beobachten konnte und ich doch meine Kamera mitnehmen solle. Ich tat, wir mir geheißen. Als ich unten an der Straße ankam, traute ich jedoch meinen Augen kaum. Die dicke, glutrote Sonne, ging genau neben der kleinen weißen Kirche unter. Es war gigantisch. Es war ein Postkartenmotiv. Es war der schönste Sonnenuntergang, den ich je in meinem Leben gesehen habe. „Ich habe ihn fotografiert, ich habe ihn fotografiert“, jubelte Mary I, und meinte zu mir: „Schnell, schnell, Liebes, mach ein Foto, bevor es zu spät ist!“ Ich fing mich wieder, eilte zur Bushaltestelle und machte ein paar Fotos. Inzwischen hatten sich auch ein paar deutsche Frauen dazugesellt, von denen die eine in breitem Schwäbisch meinte: „Das ist ja Hammer! Und dann auch noch mit der Kirche!“ Auch wenn ich die Wortwahl nicht mag, sie hatte Recht. Leider musste ich feststellen, dass meine Kamera die Schönheit dieses Ereignisses nicht mal ansatzweise einfangen konnte.


Ich eilte zurück aufs Zimmer und berichtete Andrew davon: „Ich habe gerade den schönsten Sonnenuntergang aller Zeiten gesehen!“ „Dann muss ich ihn mir wohl anschauen.“ „Ja!!!“ Er verplemperte jedoch ein paar Minuten, da seine Schuhe im Badezimmer standen und Mark gerade duschte. Schließlich bat er mich, auf die andere Seite des Zimmers zu gehen, während er sie herausholte. Nach ein paar Minuten kehrte er zurück. „Und?“, fragte ich. „Lovely.“ Lovely. Was für eine Untertreibung.

Mary I bekam ich noch einmal zu hören, und zwar, als sie uns fragte, ob wir nicht die Lüftung in unserem Badezimmer abschalten könnten, da sie so laut sei. Die Jungs bejahten dies. Sie starrten stirnrunzelnd an die Decke, wo sich der Schalter befand, und sahen dann mich an. „Ich glaube, dafür brauchen wir jemand, der groß ist“, sagte Mark. Die beiden waren ungefähr einen Kopf kleiner als ich. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, weil ich mich so freute, dass sie auf meine Hilfe angewiesen waren. „Jetzt fang bloß nicht an zu lachen!“ Ich schaltete die Lüftung aus, als ob ich den ganzen Tag nichts anderes machen würde. Die Jungs seufzten. Sie gingen anschließend, natürlich, noch ins Pub, ich war jedoch zu erledigt. Nach diesem in jeder Hinsicht absolut bemerkenswerten fiel ich einfach nur ins Bett und schlief glücklich ein.

Fotos von der Causeway Coast gibt es hier.

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