Project Ireland: The Big Hike/A Tale of Two Marys
Sonntag
war also der Tag der großen Wanderung. Ich hatte mir wie erwähnt
vorgenommen vom Giant's Causeway zurück nach Ballintoy, oder genauer
gesagt, zur Rope Bridge zu laufen. Als ich um halb neun aufstand, war
John bereits abgereist, was mich ein bisschen traurig machte, denn
ich hätte mich gerne noch von ihm verabschiedet. Aber so ist das
Hostelleben. Das einzige, was mich an diesem Hostel störte war, dass
es kein Frühstück gab. Na ja, stören ist vielleicht zu viel
gesagt, aber es wäre ein nettes Extra, vor allem wenn man bedenkt,
wie schlecht man dort an Lebensmittel kommt. So musste ich mich also
auf einen Tee beschränken, was nicht annähernd so befriedigend war
wie ein Kaffee. Dafür stimmte die Gesellschaft. Mary I war in der
Küche und furchtbar aufgeregt, weil sie gerade in der Zeitung
gelesen hatte, dass die olympische Fackel an diesem Tag zur Rope
Bridge kommen sollte. Wie ihr euch denken könnt, interessiert mich
Olympia nicht die Bohne, aber die Aussicht, unter Umständen die
Fackel zu sehen, fand ich schon ganz cool. „Ach, ist das toll“,
meinte Mary I, „unser ganzer Urlaub war so fantastisch und jetzt
auch noch das! Uns fällt alles in den Schoß!“ Wann die Fackel
allerdings genau an der Rope Bridge sein würde, konnte sie mir nicht
sagen.
Es
stieß dann noch ein älteres Ehepaar aus Neuseeland zu uns, das mit
Tochter und Schwiegersohn unterwegs war. Die Tochter, Ally, war erst
25, aber trotzdem schon verheiratet und nach England ausgewandert.
Ihre Eltern hatten zunächst die Vereinigten Arabischen Emiraten und
Marokko besucht, sind dann weiter nach Holland, da eine Tochter in
Rotterdam lebt, und schließlich auf die Britischen Inseln gefahren,
um Ally und ihren Mann abzuholen. Insgesamt hatten sie vier Töchter.
„Vier Töchter!“, rief Mary I erschrocken. „Ich wollte nie eine
Tochter. Gott
sei Dank habe
ich vier Söhne.“ „Ach, wir sind ganz zufrieden“, meinte die
Neuseeländerin und lächelte ihren Mann an, der zustimmend
zurücklächelte. „Um Töchter hätte ich viel zu viel Angst“,
erklärte Mary I. „Hätte ich eine Tochter gehabt, ich hätte sie
in ein Kloster sperren müssen!“, rief sie, woraufhin wir alle in
Lachen ausbrachen. Irgendwie konnte ich mir Mary I schlecht als
Mutter vorstellen, weil sie so, na ja, flippig war. Sie erzählte
auch, dass sie schon die USA und Australien bereist hat, immer mit
Mary II, da ihr Mann nicht gerne vereiste, sie aber bereitwillig
ziehen ließ.
Ich hätte ihnen noch
länger zuhören können, aber ich musste meinen Bus erwischen. Von
Ballintoy dauerte es ungefähr 15, 20 Minuten bis zum Giant's
Causeway. Dort angekommen, genehmigte ich mir erstmal einen
ordentlichen Kaffee. Ah, das ist doch schon viel besser! Ich hatte
mich im Vorfeld über meine Planung geärgert, ausgerechnet an einem
Sonntag herzukommen, und dann auch noch am Bank Holiday Wochenende,
aber die Besucherzahl hielt sich noch in Grenzen, vielleicht auch,
weil es „erst“ kurz nach zehn war.
Ah, der Giant's Causeway!
Ich hatte natürlich Bilder en masse gesehen, aber selbst dort zu
sein, das war schon was besonderes. Ich denke, man kann mit Fug und
Recht behaupten, dass der Causeway eins der wundersamsten Dinge ist,
die Mutter Natur hervorgebracht hat. Diese Ansammlung von Steinen,
die so perfekt sechseckig geschliffen sind, dass es schwer fällt zu
glauben, dass sie nicht von Menschenhand geschaffen wurden. Genau
genommen handelt es sich nicht um Steine, sondern um Basaltsäulen,
die durch das langsame Abkühlen von Lava entstehen, denn vor
geschätzten 60 Millionen Jahren ist dort ein Vulkan ausgebrochen,
der mittlerweile jedoch nicht mehr existiert. Der Legende hat der
irische Riese Fionn mac Cumhaill alias Finn McCool einen Damm bis
nach Schottland gebaut und seinen Widersacher Benandonner zum Kampf
herausgefordert. Dann bekam Finn es jedoch mit der Angst zu tun und
bat seine Frau, ihn als Baby zu verkleiden. Die List war erfolgreich:
Beim Anblick des stattlichen Babys ergriff Benandonner die Flucht, da
er annahm, dass der Vater noch um einiges größer sein musste. Dabei
riss er der Damm nieder, nur der Giant's Causeway bliebt übrig.
Nachdem ich unzählige
Fotos von dem Ort gemacht habe, begann ich endlich die Wanderung. Das
erste Stück hatte es gleich in sich, denn man musste ca. 160 Stufen,
die sogenannten Shepherd's Steps, zurücklegen, um oben auf die
Klippe zu kommen. Dafür wurde man mit einem spektakulären Blick
über die Steilküste belohnt. In der Klippen selbst befanden sich
teilweise weitere Säulen, eine Formation, die man auch „die Orgel“
nennt, denn die Steine sehen aus wie Orgelpfeifen. Der Blick nach
Süden war aber auch nicht zu verachten, denn dort erstreckten sich
grüne Felder und die gelben Blüte der Heide.
Nach vielleicht 30, 45
Minuten machte der Weg eine kleine Biegung. Unterhalb der Küste lag
ein Haus mit einem roten Dach, bei dem es sich um eine alte
Lachsfischerei handelte. Von dort aus konnte man auch zum ersten Man
die kleine weiße Kirche von Ballintoy sehen, wobei ich schon
erschrocken war, wie weit sie entfernt war, denn sie war nur ein
winziger weißen Punkt in der grünen Landschaft. Bald darauf kam ich
zum Dunseverick Castle, dass mittlerweile eine Ruine ist, aber früher
ein durchaus bedeutender Ort war und sogar von St. Patrick besucht
wurde.
Danach wurde es
kompliziert. In Dunseverick Harbour hing ein Schild am Zaun, dass der
Wanderweg bis nach Portbraddon gesperrt ist. Na großartig! Eine
alternative Route hatten sie nicht, sodass ich dumm dastand. Da der
Hafen von Dunseverick ein ganz Stück unterhalb der Schlossruine
liegt, hatte ich keine Lust, den Weg zurück zu laufen und die Straße
nach Portbraddon zu nehmen, zumal die eh schon recht eng war und es
keinen Fußweg gab. In Dunseverick Harbour gab es einen kleinen
Coffee Shop, der eher wie eine Imbissbude aussah, und mangels
Alternativen fragte ich dort nach. Der Angestellte war nett, aber er
fühlte sich sichtlich unwohl. Er meinte, ein Stück weit könnte ich
den Weg entlanglaufen, doch dann sollte ich den Hang hochklettern,
bis ich oben am Rand der Klippe bin. Von dort aus würde ich nach
einer Weile wieder auf den Wanderweg kommen. „Aber du musst immer
ganz nah am Zaun entlanggehen! Und halt den Kopf unten, damit die
Farmer dich nicht sehen! Und wenn jemand fragt: Von mir hast du das
nicht!“
Na, das kann ja heiter
weiter, dachte ich. Ich hatte schon gelesen, dass manche Farmer
höchst empfindlich reagieren, wenn Wanderer ihr Land betreten und
ich hatte keine Lust, über den Haufen geschossen zu werden. Ich
streifte durch das kniehohe Gras, den Wanderweg entlang, auf dem mir
glücklicherweise eine Familie folgte. Das Schild warnte vor
Steinschlag und mir war etwas unwohl, direkt an der Felswand entlang
zu gehen, doch wenn eine Familie mit kleinen Kindern das macht, wird
es wohl nicht so schlimm sein, dachte ich. Von wegen. Kurz darauf
hatte ich nämlich einen dicken Felsbrocken vor der Nase, der den
Wanderweg regelrecht zerstört hatte und jegliches Weiterkommen
unmöglich machte. Die Familie zuckte mit den Schultern und kehrte
kurzerhand um.
Ich ging ein paar Meter
zurück und kletterte wie empfohlen den Hügel hoch, bis ich in der
Gesellschaft einiger Schafe war. Ich fühlte mich höchst unwohl,
denn am Zaun prangte ein Schild mit der Aufschrift „Private Land –
No Trespassing“. In dem Moment war ich heilfroh, dass Sonntag war
und der Farmer nicht bei der Arbeit. Ich ging als mit leicht
gebeugtem Oberkörper am Zaun entlang, bis ich den Wanderweg
erblickte. Um auf ihn zurückzukehren, musste ich über den
Stacheldrahtzaun klettern, was einige Anstrengung und noch mehr Mut
erforderte, da dieser mit immerhin bis zur Brust ging, doch dann
kletterte ich auf die Pfahlstütze und schwang mich irgendwie auf die
andere Seite. Abgesehen von einer kleinen Schramme blieb ich
unversehrt.
Puh, das war schon fast
zuviel Abenteuer für meinen Geschmack. Im Anschluss kletterte ich
dann auch noch auf einen Felsen, weil ich meinte, dass der Wanderweg
dort entlangführte, doch ich hatte mich getäuscht. Wieder herunter
zu klettern war schon schwieriger und in mir wuchs die Einsicht, dass
ich vielleicht doch nicht schwindelfrei genug bin für die Rope
Bridge. Der richtige Weg führte durch eine Höhle, hinter auch
Portbraddon lag, das eigentlich nur aus fünf Häusern am Strand
besteht.
Portbraddon ist der
Auftakt zur White Park Bay, ein ungefähr drei Kilometer (gefühlt
eher zehn Kilometer) langer Strand. Das war schon beeindruckend und
erinnerte mich stark an Tasmanien, vielleicht weil das Klima dort
ebenso wenig zum Baden taugt. Leider war zu diesem Zeitpunkt wieder
jeder Schritt eine Qual, sodass mich nicht so richtig an der
Schönheit der Bucht erfreuen konnte. Der Sand wirkte er wie ein
Laufband, das in die entgegengesetzte Richtung läuft, sodass ich das
Gefühl hatte, nicht richtig voranzukommen. Ich weiß nicht, wie
lange ich gebraucht habe, um den Strand einmal komplett
entlangzugehen, aber es würde mich nicht verwundern, wenn es eine
Stunde gewesen wäre.
Wenigstens belohnte mich
der Wettergott für meine Mühe mit ein paar Sonnenstrahlen. In der
Gegend selbst waren übrigens recht viele Spaziergänger, aber ihrer
Kleidung und ihrem Schuhwerk nach zu urteilen, sind die alle mit dem
Auto zur Bucht gefahren und nicht gewandert. Ein bisschen bewunderte
ich sie ja, weil sie sich so mühelos bewegten. Es war eine kleine
Erleichterung, als ich in Ballintoy Harbour ankam, wenngleich die
Aussicht, wieder oben zur Küste hochlaufen zu müssen, meine Freude
etwas dämpfte. Als ich dann aber endlich oben ankam, an der kleinen
weißen Kirche vorbei, war ich schon ein bisschen stolz. Denn nun war
es die alte Lachsfischerei, die nur noch ein winziger roter Punkt in
der grüngrauen Felswand war.
Ein Teil von mir wäre am
liebsten gleich zurück zum Hostel gegangen, doch ein anderer Teil
bestand darauf, auch wirklich den kompletten Weg bis zum Parkplatz
von Carrick-A-Rede zu gehen. Auch wenn das Stück wirklich sehr schön
ist, war der Schmerz in Füßen und Rücken so übermächtig, dass
ich es nicht wirklich genießen konnte. Nach gut fünf Stunden kam
ich dann endlich an meinem Ziel an. Das machte zwar nur eine
Durchschnittsgeschwindigkeit von 3,4 km/h, doch da ich einige
Höhenunterschiede überwinden und auch ein bisschen über Stock und
Stein klettern musste, war ich ganz zufrieden mit meiner Leistung.
Blieb noch die Frage, ob
ich nun über die Brücke gehen soll. Es war nicht gerade meine
klügste Idee, ausgerechnet am selben Tag wie die olympische Fackel
dort aufzukreuzen, denn es war ganz gut was los, sodass die Wartezeit
auf beiden Seite der Brücke 25 Minuten betrug. Nee, dachte ich mir,
dann nicht. Ich hatte definitiv keine Lust, fast eine Stunde in der
Gegend rumstehen, um eine Brücke zu überqueren. Zumal das vom
Parkplatz zur Brücke zum Parkplatz zum Hostel noch einmal ca. vier
Kilometer Fußweg wären. Ich wollte nicht mehr. Ich wollte nur noch
mein Bett.
Im Hostel traf ich sogar
Josephine an der Rezeption an, sodass ich endlich die
Übernachtungskosten bezahlen konnte. Mary II saß draußen auf der
Bank und rauchte. „Hello“, sagte ich zu ihr. „Hello“, brummte
sie zurück. Endlich wieder im Zimmer ließ ich mich erstmal aufs
Bett fallen und pennte zwei Stunden lang wie ein Stein. Ich nahm ein
Dusche und verwertete meine Essensreste. Schließlich kamen auch Mark
und Andrew wieder, die in Ballycastle gewesen und dort tatsächlich
die olympische Fackel gesehen hatten, obwohl sie das eigentlich gar
nicht interessierte. Sie zeigten Mary I und mir Fotos und ein Video
von dem Ereignis, aber ich war nicht begeistert. Ich glaube, das
Feuer war nicht mal echt. Mary I hingegen war völlig aus dem
Häuschen. Sie erzählte, dass die Fackel es nicht mehr zur Rope
Bridge geschafft hatte, aber dafür am nächsten Morgen am Giant's
Causeway sein würde, was sie und Mary II sich dann ansehen würden.
Mary I hatte Mark und
Andrew ebenfalls sehr gern, vielleicht weil sie ebenfalls aus Irland
stammte, aus Cork. Sie erzählte uns die Geschichte, wie sie tags
zuvor eine Dame getroffen hat, die aus derselben Gegend stammt wie
sie und ebenfalls eine geborene Mary O'Connor ist. Außerdem
berichtete sie, wie sie einmal auf einer Stadtrundfahrt in Boston
einen Kollegen ihres Mannes getroffen hatte. „It's a small world!“
Irgendwie kam ich dann auch dazu, ihr von dem Job in Derry zu
erzählen, weil die Jungs danach fragten und sie wünschte mir alles
Gute. Die Jungs hatten es noch etwas besser, denn sie bekamen die
Reste ihres Chili.
Ich blieb noch etwas in
der Küche, da Andrew mir Tee gemacht hatte. Auf einmal kam Mary II
herein, direkt auf mich zu. „Ich habe gehört, dass du morgen eine
neue Arbeit beginnst! Das ist ja großartig! Ich wünsche dir alles
Glück der Welt! Wie fühlst du dich denn damit?“ „Eh... ich
fühle mich gut.“ „Tatsächlich?“ „Ja...“ Ich war völlig
von der Rolle. Mary II war immer so brummig, so eine plötzliche,
herzliche, gar mütterliche Anteilnahme kam völlig unerwartet. Ich
musste ihr erstmal etwas über den Job erzählen und klarstellen,
dass das nur begrenzt ist und ich nicht nach Derry auswandern werde,
was sie wohl ursprünglich gedacht hatte. Dennoch wünschte sie mir
alles erdenklich Gute. Sie wollte mir noch Chili abgeben und eine
heiße Schokolade machen, aber ich lehnte dankend ab, da ich schon
gegessen hatte und die Jungs mir wie gesagt Tee gemacht hatten.
Schließlich wandte sie
sich Mark und Andrew zu. „Ich gebe euch gerne was von dem Chili,
unter einer Bedingung: Ihr hinterlasst die Küche blitzsauber, sonst trete ich euch in den Arsch, ist das klar?“ Da fiel nicht nur mir
die Kinnlade herunter, auch die Jungs wirkten ziemlich
eingeschüchtert. „Ernsthaft: Ihr habt die Wahl. Entweder den
Belfast Kiss oder den Belfast Kick. Belfast Kiss ist ein Kopfstoß,
Belfast Kick ist ein Tritt in die Eier. Ich weiß wovon ich rede! Ich
komme aus Belfast! Ich wohne zwar seit 40 Jahren in England, aber den
Belfast Kick kann ich noch!“ Keiner von uns dreien sagte ein Wort.
Ich weiß nicht, was ich erstaunlicher fand, dass sich ihr Ton
innerhalb von einer Minute von zuckersüße Oma auf Gangmitglied
änderte, oder dass eine 65-jährige Frau zwei 28-jährigen Männern
androhte, ihnen wahlweise in den Arsch oder die Eier zu treten.
Das Wort „Eier“
schien bei Mary II irgendwas auszulösen, denn in den folgenden
Minuten ließ sie sich lautstark darüber aus, dass die Eier und das
Gehirn eines Mannes ja praktisch dasselbe seien. „Erzählt mir
nicht, dass das Gehirn eines Mann unabhängig von seinen Eiern
funktioniert! Brain and bollocks – es gibt einen Grund, warum
beides mit B anfängt!“ Schließlich stellte sie sich neben mich
und zeigte mit dem Finger auf die Jungs. „Ich warne euch: Das hier
ist ein liebes polnisches Mädchen und wenn ihr euch nicht wie
Gentlemen aufführt – I'm gonna kick you in the bollocks!“
„Aber wir sind Gentlemen!“, protestierte Andrew schwach. Ich war
in erster Linie wegen dem „polnisch“ verwirrt (und auch wegen dem
„lieben Mädchen“). Wahrscheinlich hatte Mary da was
durcheinander gebracht, da sie vorher von den gutaussehenden,
polnischen Männern geschwärmt hatte. „Aber sehen wir denn nicht
gut aus?“, fragte mich Andrew. „Natürlich seht ihr gut aus.“,
erwiderte ich. „Na, das klang ja sehr überzeugend!“, beschwerte
sich Mark. Hässlich waren die Jungs wirklich nicht, aber auch keine
Supermodels. Mark sah aus wie ein typischer Ire mit seinem feuerroten
Haar und Vollbart, Andrews Haare hingegen waren schwarz. Er hatte
schon eine ziemlich hohe Stirn und sie sich vielleicht deswegen fast
abrasiert, zumindest waren sie nicht wesentlich länger als sein
Drei-Tage-Bart.
Auch das Diamond Jubliee
versetzte Mary II in Rage. „Was hältst du von der Queen?“,
fragte sie mich. Auch das noch, dachte ich, ein ganz heißes Eisen.
Und dann kommt sie auch noch aus Belfast. Das heißt sie liebt oder
hasst die Queen. Was sage ich da nur? Ich entschied mich für die
Wahrheit: „Eigentlich ist die Queen mir ziemlich egal“. Das war
exakt die richtige Antwort. „Genau!“, rief Mary II. „Mir ist
die Queen auch egal. Scheißegal! Die Queen und ihre ganze Sippe von
geistig instabilen Bastarden!!! Das sind sie nämlich: Bastarde! Und
geistig instabil!“ Okay, sie hasst die Queen. „Das habt ihr
Deutschen uns eingebrockt! Von euch stammt die ab! Aus dem
schlimmsten Teil von Europa sind die zu uns gekommen. Aus.. Aus...
Wenn man an den Alpen links abbiegt... genau da kommen sie her!“ Oh
je. Ich glaube, für die Queen hat die Deutschen noch niemand
verantwortlich gemacht. Aber wenigstens erinnerte sie sich nun an
meine Nationalität. „Mehr werde ich aber nicht sagen! Das wäre
kulturell beleidigend“, meinte sie schließlich, obwohl es ihr
schwerfiel, das Thema ruhen zu lassen. Es hätte mich auch nicht
gestört, wenn sie weiter geredet hätte, im Gegenteil.
Irgendwie kamen wir dann
auf die olympische Fackel zu sprechen, die Mary II ebenso sehr
interessierte wie Mary I. Mark erzählte, dass die Fackel gar nicht
von Läufern von Ort zu Ort getragen wird, sondern in einem Van
transportiert wird. Das fand ich persönlich extrem enttäuschend.
Der Fackellauf ist meiner Meinung nach das einzig coole an Olympia
und jetzt musste ich feststellen, dass er gar nicht existiert. Mary
II hingegen machte Witze über das Wort „Van“ à la „mad in the van
with the lad“, was in einem Lachflash ihrerseits endete.
Schließlich riss sie sich zusammen und verabschiedete sich von uns,
nicht ohne mir noch mal alles erdenklich Gute für meinen Job und
meine Reise zu wünschen.
Mark, Andrew und ich
waren auf unseren Stühlen zusammengesackt und mussten erstmal tief
durchatmen. Mein Gesicht war tränenüberströmt vor Lachen, während
die Jungs sichtlich schockiert waren. Ihr Gesichtsausdruck war
wirklich unbezahlbar. „Ich glaube, es herrscht eine
männerfeindliche Stimmung im Raum“, meinte Andrew. „Wo kam das
denn her?“, fragte Mark perplex. „Wieso ist sie denn so
ausgeflippt?“ „Wegen deinen Eiern, Mann“, erwiderte Andrew.
Mark wollte das Chili gar nicht mehr anfassen, aus Angst, dass dies
Marys Tiraden ausgelöst haben konnte. „Hast du ihr irgendwas
erzählt?“, fragte Andrew mich. „Ach was, ich hab nur ein paar
mal Hallo zu ihr gesagt! Das kam total überraschend!“, antwortete
ich. In der Tat, hätte ich nicht so vor Lachen geweint, hätte ich
es wohl vor Rührung getan. Ich habe es noch nie erlebt, dass ein
Fremder mir gegenüber so herzlich ist. Vor allem so plötzlich. Und
das waren ja nicht nur netten Floskeln, das war ein richtiger
Freundlichkeitserguss. Ich hatte kein Zweifel daran, dass Mary II das
nicht nur aus lauter Höflichkeit gesagt hatte (sie hätte ja auch
nicht extra zu mir kommen müssen), sondern dass es von Herzen kam.
Dennoch frage ich mich ernsthaft, was ich getan habe, dass sie so
furchtbar nett zu mir war. Ich glaube, in Deutschland wird mir so
etwas nie passieren. Ich werde auch nie wieder das Wort „Olympia“
oder „Fackel“ hören können, ohne an Mary II und ihre
Bollocks-Rede zu denken.
Später saß ich im
Wohnzimmer auf dem Sofa, als ich plötzlich sah, dass einige Gäste
die Einfahrt herunterliefen, unter anderem auch Mary I in ihrem
Leopardenmantel. Ich fragte mich noch, was das zu bedeuten hatte, als
Josephine hereinkam. Sie erzählte mir, dass man draußen einen ganz
schönen Sonnenuntergang beobachten konnte und ich doch meine Kamera
mitnehmen solle. Ich tat, wir mir geheißen. Als ich unten an der
Straße ankam, traute ich jedoch meinen Augen kaum. Die dicke,
glutrote Sonne, ging genau neben der kleinen weißen Kirche unter. Es
war gigantisch. Es war ein Postkartenmotiv. Es war der schönste
Sonnenuntergang, den ich je in meinem Leben gesehen habe. „Ich habe
ihn fotografiert, ich habe ihn fotografiert“, jubelte Mary I, und
meinte zu mir: „Schnell, schnell, Liebes, mach ein Foto, bevor es
zu spät ist!“ Ich fing mich wieder, eilte zur Bushaltestelle und
machte ein paar Fotos. Inzwischen hatten sich auch ein paar deutsche
Frauen dazugesellt, von denen die eine in breitem Schwäbisch meinte:
„Das ist ja Hammer! Und dann auch noch mit der Kirche!“ Auch wenn
ich die Wortwahl nicht mag, sie hatte Recht. Leider musste ich
feststellen, dass meine Kamera die Schönheit dieses Ereignisses
nicht mal ansatzweise einfangen konnte.
Ich eilte zurück aufs
Zimmer und berichtete Andrew davon: „Ich habe gerade den schönsten
Sonnenuntergang aller Zeiten gesehen!“ „Dann muss ich ihn mir
wohl anschauen.“ „Ja!!!“ Er verplemperte jedoch ein paar
Minuten, da seine Schuhe im Badezimmer standen und Mark gerade
duschte. Schließlich bat er mich, auf die andere Seite des Zimmers
zu gehen, während er sie herausholte. Nach ein paar Minuten kehrte
er zurück. „Und?“, fragte ich. „Lovely.“ Lovely. Was für
eine Untertreibung.
Mary I bekam ich noch
einmal zu hören, und zwar, als sie uns fragte, ob wir nicht die
Lüftung in unserem Badezimmer abschalten könnten, da sie so laut
sei. Die Jungs bejahten dies. Sie starrten stirnrunzelnd an die
Decke, wo sich der Schalter befand, und sahen dann mich an. „Ich
glaube, dafür brauchen wir jemand, der groß ist“, sagte Mark. Die
beiden waren ungefähr einen Kopf kleiner als ich. Ich konnte mir ein
Grinsen nicht verkneifen, weil ich mich so freute, dass sie auf meine
Hilfe angewiesen waren. „Jetzt fang bloß nicht an zu lachen!“
Ich schaltete die Lüftung aus, als ob ich den ganzen Tag nichts
anderes machen würde. Die Jungs seufzten. Sie gingen anschließend,
natürlich, noch ins Pub, ich war jedoch zu erledigt. Nach diesem in
jeder Hinsicht absolut bemerkenswerten fiel ich einfach nur ins Bett
und schlief glücklich ein.
Fotos von der Causeway Coast gibt es hier.
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