Project Ireland: The Brandy Pad

Für meinen zweiten Tag in Newcastle hatte was Besonderes geplant: Ich wollte einen Wanderweg namens “The Brandy Pad“ abgehen. Dabei handelt es sich um einen 12 Kilometer langen Schleichweg, den die Schmuggler im 18. Jahrhundert genommen haben, um Alkohol und Zigaretten an den Zollbeamten in Newcastle vorbeizuschleusen. Coole Sache! Der Weg beginnt fünf Kilometer südlich von Newcastle an einer Brücke mit dem einladenden Namen Bloody Bridge. Eigentlich wollte ich mit dem Bus dorthin fahren, aber dummerweise hatte ich am Vortag vergessen nachzusehen, wann diese abfahren. Als ich also zum Busbahnhof kam musste ich feststellen, dass der nächste Bus erst in einer Dreiviertelstunde abfuhr. In der Zeit konnte ich fast dahin laufen, also bin ich zu Fuß gegangen.


Ich schlenderte die Promenade Richtung Süden entlang, bis mit einem Mal der Bürgersteig endete. Großartig! Irland ist manchmal wirklich nicht sehr fußgänger-freundlich. Es gab einen Streifen Gras am Straßenrand, aber die Strecke war kurvig und unübersichtlich, sodass mir schon ein bisschen mulmig zumute war. Zwischendurch musste man immer mal die Straßenseite wechseln, da die Vegetation abrupt endete. Für die Autofahrer gab es ein Schild mit dem Warnzeichen “Pedestrians Crossing“, das ist vermutlich günstiger als einen Fußgängerweg zu bauen. Ich fragte mich, ob die Bloody Bridge ihren Namen von den Wanderern hat, die sich verzweifelt gefragt haben, wann die verdammte Brücke denn endlich kommt.


Um elf Uhr, also nach ungefähr einer Stunde, erreichte ich einen Parkplatz, an dem sich die sehr unscheinbare Brücke befindet. Ihren Namen hat sie natürlich nicht von den enervierten Fußgängern; sie ist nach einem Massaker an Strafgefangenen benannt, dass dort 1641 stattgefunden hat. Gegenüber sah ich die Mourne Mountains, die erneut in Wolken gehüllt waren. Der Wanderweg führte an einem Fluss entlang die Berge hinauf. Eine Gruppe Jugendlicher sprang unter der Aufsicht von Erwachsenen in einer Art Klettermontur ins kühle Nass; vielleicht eine Ferienspaßaktion. Ansonsten traf ich aber auf keine Menschenseele, nur auf eine Reihe Schafe, die alle furchtbare Angst vor mir hatten und sich schnellst möglich vom Acker machten, sobald sie mich sahen.



Die Mourne Moutains sind kein Nationalpark und der Weg führt durch privates Farmland. Das hat den Nachteil, dass der Wanderweg überhaupt nicht ausgeschildert ist. Ich hatte zwar eine Karte dabei, aber da der Weg recht schmal war, sich schlangenförmig durch die Gegend zog und zudem noch über mehrere Abzweigungen verfügte, wäre zumindest eine farbige Markierung hier und da ganz nett gewesen. Hin und wieder gab es jedoch einen Stein, der in Richtung der Mourne Wall zeige und da ich diese einmal passieren musste, folgte ich ihnen einfach. Der Anstieg war nicht so steil wie beim Granite Trail, aber er zog sich ganz schön in die Länge, sodass ich nicht so schnell voran kam, wie ich gedacht hatte. Anstrengend war es auch, sodass ich schon froh war, dass ich nicht als Schmuggler im 18. Jahrhundert leben musste.



Nach einer Weile kam ich an einem ziemlich großen Steinbruch vorbei, wo sich noch einige zusammengefallen Hütten befanden, außerdem gab es einen Wasserfall. Noch schöner war jedoch der Blick zurück, über die grünen, farn- und heidebedeckten Wiesen, den Bergen links und rechts und dem Meer dahinter. Nach zwei Stunden kam ich am höchsten Punkt an und konnte endlich sehen, was sich dahinter verbirgt. Zu meiner großen Überraschung erblickte ich die Mourne Wall. Damit hatte ich überhaupt noch nicht gerechnet. Sollte ich etwa schneller voran gekommen sein als gedacht? Ich war begeistert. Auch wenn die Mourne Wall zugegebenermaßen nicht die chinesische Mauer ist, finde ich sie doch beeindruckend. Toll war auch, dass ich jetzt praktisch an den Wolken kratze. Links und rechts von mir erhoben sich zwei Berge, und sowohl die Mauer als auch die Gipfel verschwanden hinter den Nebenschwaden. Das war ein echt starker Anblick.


Von da an besserte sich meine Laune, zumal es jetzt nicht mehr weiter bergauf ging und ich auf der gleichen Höhe blieb. Mir kamen auch zum ersten Mal andere Wanderer entgegen. Wer es im Urlaub gern einsam liebt, für den sind die Mourne Mountains wie gemacht. Man kann dort wirklich stundenlang herumwandern ohne auf einen anderen Menschen zu treffen, und das mitten in der Hochsaison.

Meine gute Laune verpuffte allerdings, als ich nach 20 Minuten schon wieder auf die Mourne Wall traf. Was?! Eigentlich sollte ich doch nur einmal an ihr vorbeikommen. Ich war verwirrt. Meine Karte gab keinen Aufschluss, also überquerte ich die Mauer noch einmal, auch da dort noch eine Gruppe Jugendlicher herumstand und ich nicht verloren in der Gegend herumstehen wollte. So weit, so gut, doch als ich nach fünf Minuten ins Tal schauen konnte, sah ich hinunter auf Newcastle. Okay, hier war ich definitiv falsch. Wenigstens half mir das, mich zu orientieren. Der Berg neben mir war Slieve Donard und wenn ich den Weg weiter gehen würde, würde ich auf den Wanderweg stoßen, den ich am Vortag vom Steinbruch am Granite Trail genommen hatte, um wieder zurück in die Stadt zu kommen. Ich wollte aber noch nicht zurück nach Newcastle, sondern den Rest vom Brandy Pad gehen.



Ich studierte noch einmal genau meine Karte und siehe da, der Brandy Pad führte tatsächlich zwei Mal an der Mourne Wall vorbei. Das erste Mal war die Mauer jedoch nur mit einem schwarzen Strich statt mit einem schwarz gepunkteten Strich vermerkt, sodass ich sie irgendwie übersehen hatte. Ich war aber auch zu blöd, ich hatte vergessen, dass die Stelle Hare’s Gap hieß und es hatte sich gar keine Lücke in der Mauer befunden. Außerdem hatte ich auch anscheinend eine Abzweigung nach links verpasst und war geradeaus in Richtung Newcastle gelaufen. Also drehte ich um, bis ich wieder auf den Brandy Pad stieß. Es nicht manchmal aber auch nicht ganz leicht, da der Weg teilweise sehr schmal ist und man ihn zwischen dem dichten, hohen Gras leicht übersehen kann.

Ich ärgerte mich ziemlich über mich selbst, da ich durch meine eigene Inkompetenz ungefähr eine Dreiviertelstunde verloren hatte. Das wäre nicht so schlimm, wenn ich nicht auf den Bus angewiesen wäre, um zurück nach Newcastle zu kommen. Der fuhr nur ungefähr alle 90 Minuten (und auch nur im Juli und August), sodass ich den um 15:39 erwischen wollte, da ich andernfalls bis 17:10 warten musste. Eigentlich sollte man 12 Kilometer ja problemlos in 4:40 Stunden laufen können, aber der Aufstieg hatte schon einiges an Zeit gekostet und wusste nicht, wie der Weg weiter verlief. Wenigstens hatte ich fast Slieve Donard erklommen, denn von der zweiten Begegnung mit der Mourne Wall war es nur noch ein kurzes Stück bis zum Gipfel. Kurz darauf kam zudem für eine kleine Weile die Sonne heraus, was wirklich schön war. Auch die Aussicht war wunderbar. Links von mir befanden sich eine Reihe Berggipfel, von denen einer so aussah wie die Hörner eines Teufels und dazwischen lag ein ruhiger, dunkler Stausee. Rechts von mir befanden sich kleine Türme aus Steinen, die “The Castles“ genant werden.






Um halb drei, später als erwartet, erreichte ich endlich Hare’s Gap. Das war eine Lücke, die den Namen verdiente. Da die Berghänge ziemlich steil abfallen, sind die Mauerstücke nur mit einem Seil verbunden. In der Mitte der befindet sich dann tatsächlich ein Loch in Mauer, so weit ich weiß das einzige in der ganzen Mourne Wall. Das war schon beeindruckend, aber ich war jetzt ziemlich unter Zeitdruck, da ich nur noch eine gute Stunde hatte, um zur Trassey Bridge am Ende des Brandy Pad zu kommen.




Von Hare’s Gap ging es nun bergab ins Tal. Das war kein gut ausgebauter Wanderweg, sondern eine sehr felsige Strecke, die einiges Klettern erforderte, was natürlich wieder Zeit kostete. Nach einer Weile wurde es besser, doch die Steine waren ziemlich rutschig, sodass ich mich auf die Klappe legte und mir blaue Knie holte. Der Rest der Strecke war nicht ganz so schön; ich musste durch einen Kiefernwald, der ziemlich kaputt war. Nach meinem Powerwalk kam ich schließlich um 15: 28 Uhr am Ende des Brandy Pad an.


Doch das war erst der Anfang meiner Probleme, denn es war nirgendwo eine Bushaltestelle in Sicht. Ich fand zwar einen Parkplatz, doch das war nicht der Parkplatz, von dem der Bus abfuhr. Dort stand nur ein Schild, dass sich ein weiterer Parkplatz in einer halben Meile Entfernung befindet. Ich schaute auf die Uhr: Es war halb vier. 800 Meter in acht Minuten, dazu noch bergauf? Ich versuchte es und ging so schnell wie möglich, wobei ich einige Farmen mit wütend kläffenden Hunden passieren musste. Um 15:36 Uhr erreichte in den Parkplatz, der sich als der der Meelman Lodge herausstellte, einem Hostel mit Café. Im Lonely Planet stand, dass man den Bus von dort nehmen konnte, aber ich sah auch hier keine Haltestellte. Da fiel mir ein, dass ich noch ein Prospekt vom Mourne Rambler, dem Bus, im Rucksack hat, welches ich konsultierte. Zu meiner großen Enttäuschung musste ich aber feststellen, dass der Bus in dieser Saison nicht von der Meelman Lodge abfuhr, sondern von einem dritten Parkplatz, der 1.3 Meilen von der Lodge entfernt lag. Ausgeschlossen, den noch zu erreichen.

Da war ich schon echt sauer. Ich hatte mich so beeilt, und wofür? Ist es denn so schwer, die Haltestelle für Wanderer auszuschildern? Die Karte im Mourne-Rambler-Prospekt war schließlich so grob, dass sie völlig nutzlos war. So was Blödes. Da ich jetzt 90 Minuten totzuschlagen hatte, setzte ich mich in das Café und trank einen Kaffee. Ich hätte natürlich auch nach Newcastle zurück laufen können, aber das waren acht Kilometer. Da hatte ich wirklich keine Lust mehr zu, ich war ja schließlich schon etwa 20 Kilometer gelaufen. Ich war müde, verschwitzt und dreckig und wollte einfach nur unter die Dusche. Wenigstens hatte ich nicht solche Rücken- und Fußschmerzen wie nach meinen Wanderungen nach Orangefield und an der Causeway Coast und konnte mich noch einigermaßen bewegen. Ein weiterer Nachteil war, dass der Bus nicht den direkten Weg nach Newcastle fuhr, sondern in die entgegengesetzte Richtung und erst nach knapp einer Stunde in der Stadt ankam.

Um viertel nach vier machte ich mich auf den Weg zur Hauptstraße und um 16:50 Uhr kam ich schließlich an der Bushaltestelle an. Es war natürlich keine richtige Haltestelle sondern nur eine Stange mit Fahrplan, die man in den Grasstreifen am Straßenrand geschlagen hatte. Mangels Sitzgelegenheiten setzte ich mich einfach ins Gras und wartete. Zu allem Überfluss fing es auch noch an zu regnen. Das hat mir gerade noch gefehlt, dachte ich. Dabei konnte ich ja froh sein, dass ich bis dahin trocken geblieben war.


Vier Minuten bevor der Bus kommen sollte, hielt plötzlich ein dunkles Auto an. Darin saßen ein Mann und eine Frau, die schätzungsweise in den Achtzigern waren. Sie fragten, ob es mir nicht gut gehen würde. Sie hätten mich auf dem Boden sitzen sehen und dachten, etwas stimme nicht mit mir, daher hätten sie umgedreht um nachzufragen, ob alles in Ordnung sei. Da war ich erstmal sprachlos, bevor ich schließlich sagen konnte, dass ich bloß auf den Bus wartete. Sie haben extra umgedreht um sich nach meinem Wohlbefinden zu erkundigen? „Ja, schade“, sagte der Mann, „wir wollen nach Newcastle, sonst hätten wir dich mitnehmen können.“ „Sie fahren nach Newcastle? Ich möchte auch nach Newcastle! Also wenn Sie noch einen Platz frei haben, dann fahre ich gerne mit!“ „Jump in the back seat!“, rief der Mann und ich tat augenblicklich wie mir geheißen. Was für eine wunderbare Wendung! So musste ich nicht eine Stunde mit dem Bus fahren und sparte obendrein noch sechs Pfund.

Die Kommunikation stellte sich mitunter als etwas schwierig heraus, da beide nicht mehr übermäßig gut hörten. So konnte ich ihnen glaube ich nicht wirklich klar machen, dass der Bus im Kreis fuhr und daher zunächst die “falsche“ Richtung ansteuerte (tatsächlich wäre vieles einfacher wenn er zuerst Richtung Bloody Bridge fahren würde). Außerdem waren sie immer noch besorgt um mein Wohlbefinden, weil ich doch auf dem Boden gesessen hatte. „I’m fine, I was just tired.“ „Tired?!“, fragte die Frau ungläubig zurück, als ob Leuten in meinem Alter unfähig wären, zu ermüden. Sie fragten auch mehrmals, ob sie die Klimaanlage zu kalt eingestellt hatten, was ich verneinte.

Zuerst dachte ich, die beiden wären verheiratet, aber sie waren nur befreundet und redeten sich mit „Mr“ und „Mrs“ sowie ihren jeweiligen Nachnamen an. Vielleicht war das nur ein Scherz, aber es wirkte herrlich altmodisch auf mich. Der Mann erzählte, dass er die Frau über den Sommer immer wieder zu Ausflügen mitnahm, heute hätten sie sich das Silent Valley Reservoir angesehen und am Freitag würden sie mit dem Zug nach Dublin fahren. „Das ist ja schade, dass wir dich nicht früher getroffen haben, sonst hättest du mit uns zum Silent Valley kommen können!“ Wow. „Ja… danke… aber ich wollte gerne wandern.“, erwiderte ich perplex.

Sie fragten mich, wie es mir in Irland gefiel und ich erwiderte „Oh, I love it here!“, was sie sehr glücklich zu machen schien. „Yes, we are very blessed.“, sagte der Mann sichtlich überwältigt. Doch dann schmunzelte er: „With one exception: The rain!“ Er meinte, dass es diesen Sommer arg viel geregnet hätte, auch als sie im Silent Valley waren. Da hatte ich wirklich noch einmal Glück gehabt. Aber nun soll mir keiner mehr erzählen, dass die Iren das schlechte Wetter nicht stören oder sie es stoisch hinnehmen würden. Man muss an einem regnerischen Tag nur einmal zu einem Shoppingcenter gehen: Im Eingangsbereich wird man dutzende Iren ohne Schirm finden, die erwartungsvoll gen Himmel starren in der Hoffnung, dass der Regen bald aufhört.

Ich fragte die beiden, ob sie hier aus der Gegend seien, worauf der Mann sagte, dass sie aus einem kleinen Dorf in County Down namens Comber stammten. Und dann kam das Beste: „You certainly heard of the Titanic?“, fragte er. “Of course I did!” Er erzählte, dass Comber auch die Heimat von Thomas Andrews war, dem Mann, der die Titanic entworfen hat. Er hat Andrews naturgemäß nicht mehr kennen gelernt, aber seine Eltern wohnten in derselben Straße und kannten ihn gut. Ein Teil von Andrews’ Verwandtschaft lebt auch immer noch dort. Wie toll ist das denn?! Ich war schon fast ein bisschen traurig, als wir nach zehn Minuten Newcastle erreichten, wo sie mich am Busbahnhof herausließen. Bevor ich ausstieg bedankte ich mich noch herzlich dafür, dass sie mich mitgenommen haben und wir wünschten uns gegenseitig alles Gute. Und dann sagte der Mann noch etwas, das mir richtig das Herz erwärmte: „Ich weiß nicht, ob wir uns wiedersehen, aber wenn, dann darfst du jedes Mal gerne wieder mitfahren!“

Ich winkte zum Abschied und sie fuhren davon. Ich konnte immer noch nicht so recht fassen, was da gerade passiert war. Das war wie bei den beiden Marys. Sie waren so nett, man würde nicht glauben, dass so etwas möglich ist. Manchmal glaube ich, das gibt es nur in Irland. Das hat mich so glücklich gemacht, dass der ganze Ärger über den verpassten Bus wie weggeblasen war. Ich freute mich nun sogar richtig darüber, schließlich wäre mir sonst diese wunderbare Begegnung entgangen. Ich wünschte, dass die Menschen überall netter zueinander wären. Das braucht doch nicht viel. Objektiv betrachtet haben mich die beiden Alten nur ein kleines Stück mitgenommen, aber so haben sie mir nicht nur eine Busfahrt erspart, sondern mir auch eine Erinnerung geschenkt, an die ich immer gerne zurückdenken werde. So wie ich jedes Mal schmunzeln muss, wenn ich das Wort olympische Fackel höre, werde ich bei der Titanic oder Thomas Andrews immer an diese beiden netten Menschen denken und mich freuen.

Zurück im Hostel nahm ich eine lauwarme Dusche und killte eine Dose Ravioli. Und während ich so aß, dachte ich an die Ereignisse der letzten Stunden zurück. Alles in allem war es doch ein verdammt guter Tag gewesen.

Alle Fotos von den Mourne Mountains finden sich hier.



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