Record of the Month: Jason Isbell - Something More Than Free

 

Wenn ich an das neue Album von Jason Isbell denke, dann denke ich auch manchmal an die zentrale Zeile von "Amazing Grace": I was blind but now I see. Bei Something More Than Free war ich zunächst tatsächlich so etwas wie blind: Ich habe es zwar gehört, aber ich habe nicht wirklich hingehört. Ich habe es zu sehr mit Southeastern verglichen und es nicht als selbstständiges Album gesehen. Vielleicht ist das generell ein Problem, wenn der Vorgänger absolut phänomenal war, dass man sich einfach nicht so recht davon lösen kann. Die Lieder von Something More Than Free haben mich nicht so unmittelbar umgehauen wie die auf Southeastern, doch irgendwann bemerkte ich, wie die Melodien von "If It Takes a Lifetime" oder "Children of Children" plötzlich in meinem Kopf auftauchten - sie hatten sich dort festgesetzt, ohne dass es mir wirklich bewusst war. Plötzlich konnte ich das Album als eigenständiges Werk sehen, und was passierte? I had a massive crush, wie bei vielleicht noch keinem anderen Album in diesem Jahr.

Ein Grund dafür, dass ich so lange auf der Leitung stand, war auch, dass Amazon oder mein Music Player die Reihenfolge der Titel durcheinander gebracht hatten. So begann das Album fälschlicherweise mit "24 Frames", das zwar ein toller Song ist, jedoch kein Killer-Opener wie "Cover Me Up". Der tatsächliche (Killer-)Opener ist "If It Takes a Lifetime", der einen jedoch auf eine völlig andere Weise umhaut. Während "Cover Me Up" durch seine rauen Intensität glänzt, ist "If It Takes a Lifetime" ein fast schon fröhlicher Countrysong, der absolut meinen Nerv getroffen hat. Isbell erzählt darin von den täglichen Kämpfen des Alltags und dem Bemühen, trotzdem alles auf die Reihe zu kriegen: "I've been working here, Monday, it'll be a year/and I can't recall a day when I didn't want to disappear/but I keep on showin' up, hell bent on growin' up/if it takes a lifetime." Das ist zwar nicht wirklich optimistisch, aber doch tröstlich, da es der Erzähler geschafft hat, die Probleme der Vergangenheit hinter sich zu lassen und Stabilität in der Routine zu finden. Wie Isbell das erzählt, ist weise und poetisch zugleich.

Auf Southeastern hat sich Isbell vor allem mit seinem Alkoholismus auseinandergesetzt; Something More Than Free hingegen erzählt von den Problemen der kleinen Leute - ein Thema mit dem er sich schon häufiger beschäftigt hat. Wie bei Bruce Springsteen sind seine Figuren oft hart arbeitende Leute, die trotzdem nicht so recht auf den grünen Zweig kommen. Dennoch sind sie nicht ohne Hoffnung und bemüht, nicht aufzugeben: "And the day will come when I will find a reason/and somebody proud to love a man like me/my back is numb, my hands are freezing/what I'm working on is something more than free", singt Isbell im Titelsong. Manchmal sind die Lieder aber auch von einer großen Trauer geprägt, wie "Children of Children", in dem es um jugendliche Eltern geht (Isbells eigene Mutter war 17, als er geboren wurde): "I was riding on my mother's hip, she was shorter than the corn/and all the years I took from her, just by being born."

Musikalisch betrachtet ist Something More Than Free etwas üppiger arrangiert als das größtenteils spärliche Southeastern. Begleitet wird Isbell hier wieder von seiner langjährigen Band The 400 Unit und seiner Frau, der Sängerin und Violinistin Amanda Shires, mit Ausnahme der Akustikballaden "Flagship" und "Speed Trap Town". Der herausragende Song ist auch hier "Children of Children", das nach seinem Akustik-Auftakt langsam in ein epischen Instrumentalteil mit Streichern, schweren Drums und dröhnende Gitarren übergeht. Weitere Favoriten sind "Palmetto Rose", in dem Isbell den knackigen Bluesrock der Strophen mit einem melodiösen Refrain mischt, und das ruhig dahin fließende "To a Band That I Loved" (gemeint ist Centro-matic, RIP), mit seinen gezielten Einsätzen von Klavier und E-Gitarre.

Something More Than Free ist klassisches Americana, und doch ist das Album etwas Besonderes. Derzeit fällt mir kein anderer Künstler ein, der musikalische Traditionen und Erzählkunst so miteinander verbindet wie Jason Isbell. Seine Lieder haben mehr Versperlen, als ich aufzählen kann, und toll arrangierte Melodien. Mit Something More Than Free stellt Jason Isbell einmal mehr unter Beweis, dass er eine Klasse für sich ist.


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