North by Northeast: An der schönen blauen Daugava

A room of one's own is a glorious thing. Die Hostelerfahrung ist gleich ganz anders, wenn man nicht ständig von trampelnden Partyrückkehrern oder muffigen Deowolken geweckt wird. Das heißt nicht, dass es völlig ruhig war. Der Verkehrslärm hielt sich, von einzelnen Rasern abgesehen, in Grenzen; nerviger fand ich die Möwen, die ab Sonnenaufgang ständig herumbrüllten. Sie können von Glück sagen, dass ich nicht Betty Draper bin. Die große Überraschung des Morgens war das Frühstück im Hostel: Neben Cornflakes, Brot, zahllosen Aufstrichen und Marmeladen gab es auch Paprika, Eier und Wassermelonen und, festhalten, Filterkaffee. Filterkaffee! Ich glaube, abgesehen von Donegal war ich noch nie in einem Hostel, in dem es Filterkaffee gab. Wenn das kein guter Start in den Tag ist.

Für meinen ersten Tag in Riga hatte ich mir vorgenommen, die berühmte Altstadt zu erkunden. Ganz so wie es der Reiseführer empfohlen hatte suchte ich mir keine Route heraus, sondern ließ mich mehr oder weniger treiben. Das hatte zur Folge, dass ich zunächst auf dies hier stieß:

 

Bei diesem Prachtexemplar sowjetischer Schlichtheit handelt es sich um drei "rote Schützen", die unter anderem als Leibwächter Lenins tätig waren. Früher befand sich auf dem Platz der Zentralmarkt; heute wird er in erster Linie als Parkplatz für Sightseeing-Busse genutzt. Gleich daneben befindet sich eine weitere architektonische Perle:


Wie ich dann später noch einmal nachgelesen habe, war ich auf genau die beiden sowjetischen Relikte gestoßen, die in Riga noch übrig sind - ausgerechnet! Alles andere haben die Letten (verständlicherweise) platt gemacht. Dabei kann man ihnen einen gewissen Sinn für Ironie nicht absprechen, denn in dem Bunker oben befindet sich das Okkupationsmuseum. Derzeit ist das Gebäude jedoch wegen Renovierungsarbeiten geschlossen. Mich würde ja interessieren, ob es nach seiner Wiedereröffnung immer noch so einladend aussieht.

Danach konnte ich mich dann dem schöneren Teil Rigas zuwenden: Direkt hinter dem Schützenplatz liegt nämlich das Schwarzhäupterhaus, eins der berühmtesten Gebäude der Stadt. Heute befindet sich darin unter anderem die Touristeninformation, aber im 14. Jahrhundert war es der Treffpunkt unverheirateter deutscher Kaufleute. Nun ja, das Original haben die Sowjets plattgemacht, aber die Letten haben eine exakte Kopie wiederaufgebaut, inklusive der Figuren an den Wänden (darunter ein Drachen tötender Siegfried) und der deutschen Inschrift "Wider Gesetz und Gewissen handeln thut Gottes Segen in Fluch verwandeln".


Direkt gegenüber befindet sich das Rathaus, davor steht eine Staute des heiligen Roland, dem Schutzpatronen Rigas:

 

Während ich so durch die schmucken Kopfsteinpflastergassen lief, die fast ebenso viele Cafés wie Pflastersteine beherbergen, stieß ich auf einen großen Ständer, an dem mehreren kleine Spiegel hingen und der die Aufschrift: "Riga - home of the decorated Christmas tree" trug. Der Legende nach waren die Junggesellen des Schwarzhäupterbundes am Heiligabend 1510 so betrunken, dass sie eine Kiefer herbeischleppten und diese mit Blumen schmückten, bevor sie sie anzündeten (so viel zu der gottesfürchtigen Inschrift auf ihrem Clubhaus). Dies ist angeblich die Geburtsstunde des geschmückten Weihnachtsbaumes.


Als ich zum nahegelegenen Domplatz gelangte, wurde mir erstmals so richtig bewusst, wie deutlich sich Riga doch von Vilnius unterscheidet. In Vilnius ist der polnische Einfluss geradezu überdeutlich und zeigt sich vor allem in den vielen protzigen Kirchen, die gefühlt an jeder zweiten Ecken stehen. In Riga gibt es nicht nur weitaus weniger Kirchen, sie sind architektonisch auch eher schlicht gehalten. Gerade beim Dom sieht man besonders deutlich, dass es sich bei Riga um eine ehemalige Hansestadt handelt. Bis Ende des 19. Jahrhundert war Deutsch sogar Amtssprache, und das obwohl Riga in der frühen Neuzeit fast 100 Jahre die größte oder zweitgrößte (je nach Quelle) Stadt Schwedens war. Letzteres erklärt zumindest, warum die meisten Kirchen in Riga lutherisch sind, darunter auch besagter Dom, der ursprünglich auf Geheiß des aus Bremen stammenden ersten Bischofes von Riga Albert von Buxthoeven 1211 erbaut wurde:


Albert von Riga, wie er dann später hieß, hat aber nicht nur den Dom erbauen lassen, sondern gar die Stadt selbst gegründet. Das erklärt wohl auch, warum Bremen die Partnerstadt Rigas ist, wie ich zufällig von einer deutschen Reisegruppe erfuhr. Mehr noch: In Riga befindet sich eine Statue der Bremer Stadtmusikanten, jedoch schauen die Tiere hier durch einen Vorrichtung. Wie die Stadtführerin erklärte, entstand die Statue zu Gorbatschows Zeiten und sollte das Aufweichen des Eisernen Vorhangs symbolisieren.


Ich stieß auf weitere Statuen, mittelalterliche Wagen, Blumenbeete und das Rigaer Schloss mit seinem dicken Turm, das derzeit jedoch renoviert wird. Ganz in der Nähe liegt eine der beeindruckendsten Straßen der Innenstadt, die Torna iela. Auf der einen Seite befindet sich eine lange Reihe von gelben Häusern, die hauptsächlich Cafés und Boutiquen beinhalten, und auf der anderen Seite Überreste der ehemaligen Stadtmauer, darunter das Schwedentor, das letzte erhaltene originale Tor, und der große, rote, mit Efeu bewachsene Puderturm.

Schloss

Torna iela

Puderturm

Da mein Magen langsam anfing zu knurren, ging ich in den erstbesten Kiosk und schaute mich nach etwas Essbarem um. Die Auswahl war nicht besonders groß, aber es gab einige belegte Brötchen. Ich war ganz froh, dass ich kein Vegetarier bin, denn es gab keins, das nicht mit irgendetwas Fleischigem belegt war. Draußen vor dem Kiosk hatten sich einige junge Blasmusiker versammelt, die Klassiker wie "Hit the Road, Jack" und "Take 5" zum Besten gaben, gar nicht übel.

Auf der anderen Straßenseite befindet sich der Stadtkanal samt Park und in seiner Mitte das Freiheitsdenkmal. Auf seiner Spitze sitzt eine Frau, Milda genannt, die drei Sterne trägt, die für die drei ursprünglichen Regionen Lettlands stehen. Das Denkmal wurde 1935 mit Spenden errichtet und erstaunlicherweise nicht von dem Sowjets zerstört. Die definierten es lieber als "Mutter Russland" um, die die drei baltischen Staaten stützt. Wer Blumen vor dem Denkmal ablegte, wurde dennoch umgehend nach Sibirien deportiert.



Der Park dahinter entpuppte sich als kleine grüne Oase, samt Hügel, Blumenfeldern, Kunstwerken, Wasserläufen und hübschen Brücken. Eine der Brücken war nur einen guten Meter lang und über und über mit Liebesschlössern behängt. Mir persönlich ist das ja viel zu kitschig, aber wer es braucht... Fester Bestandteil eines jeden lettischen Parks (so mein Gefühl) sind ältere Damen, die dort Eis verkaufen. An fast jeder Ecke findet man eine Frau mit einem Eiswagen, sodass man schon fast den Eindruck gewinnen könnte, dass die das Hauptberufsfeld für ältere Lettinnen ist.





Im Park befindet sich übrigens auch die Nationaloper. Wer es dort sicher niemals auf die Bühne schafft, ist die Gruppe Jugendlicher, die vor dem Gebäude "The Lion Sleeps Tonight" sang. Nicht nur trafen sie dabei keinen Ton, sie headbangten auch noch dazu.


Da es noch relativ früh am Nachmittag war entschloss ich mich, nach Kipsala herüberzugehen, das auf der anderen Seite der Daugava liegt. Dazu muss man eine große Schrägseilbrücke überqueren, die ungefähr am Schloss beginnt. Normalerweise habe ich ja eine Schwäche für Brücken, aber da es an diesem Tag deutlich über 30 Grad waren, war die Überquerung in der prallen Sonne etwas anstrengend.


Kipsala selbst fand ich nicht besonders interessant. Es gab einige traditionelle Holzhäuser, die nur teilweise saniert waren, und einen kleinen Strand, der mit Badegästen und Beachvolleyballern bevölkert war. Mir ging es auch weniger um den Vorort selbst: Ich war in erster Linie dort hingegangen, um Bilder von Altstadt von der anderen Seite des Flusses aus zu machen.




Da mein Kamerakku nun fast leer war, machte ich mich langsam auf den Weg zurück zum Hostel. Vorher kaufte ich aber noch im Rimi am Bahnhof ein, der immer so viele Kunden hat, dass man sich schon fast durch die Gänge quetschen muss. Seit Anfang des Jahres hat Lettland den Euro, was natürlich sehr praktisch ist, andererseits scheint sich das auch negativ auf die Preise ausgewirkt zu haben. Die Lebensmittel kosteten etwa so viel wie in Deutschland, und die Eintrittspreise waren, wie ich später feststellte, doch um einiges höher als zu Lats-Zeiten. Im Hostel aß ich Blaubeerjoghurt mit Haferflocken und trank den mittlerweile sehr starken Kaffee, der anscheinend noch vom Frühstück übrig war. Generell war das Hostel nicht knickerig mit Kaffeepulver und füllte für eine Kanne den Filter bis zum Anschlag. Manch ein Gast griff da lieber auf Instant zurück. Anfänger.

Nach einer Dusche und einem Nickerchen machte ich mich mit meiner aufgeladenen Kamera auf den Weg zur Akademie der Wissenschaften, die hinter dem Bahnhof liegt. Das Gebäude sieht aus wie die russifizierte Version des Empire State Buildings, nur kleiner. Ähnliche Bauwerke gibt es auch in Moskau und Warschau. Die Akademie, im Volksmund auch "Stalins Geburtstagstorte" genannt, verfügt über eine Aussichtplattform, von der ich eigentlich die Stadt fotografieren wollte, doch da die Sonne direkt über der Altstadt stand, habe ich das dann mal verschoben.


Ich bin dann noch zum Holocaustmahnmal gegangen, das ein paar Straßen weiter in einem Park steht. Dort stand einst eine große Synagoge, die, wie es der Lonely Planet formulierte, "niedergebrannt wurde während die gesamte Gemeinde tragischerweise darin eingeschlossen war". Das hört sich ein wenig so an, als ob es ein Versehen gewesen sei. Angesichts des Vorgehens der Nazis habe ich da meine Zweifel, schließlich haben sie ja häufiger Gemeinden in ihren Synagogen eingesperrt und diese dann angezündet. Die jüdische Gemeinde in Lettland war nie so groß und so "berühmt" wie die litauische, aber in den 1920er Jahren lebten fast 100.000 Juden in Lettland. Schätzungen zufolge wurden 75.000 lettische Juden von Nazis ermordet; einige andere tausend wurden von den Sowjets nach Sibirien deportiert. Heute leben noch gut 6000 Juden in Lettland.


Das Mahnmal ist all jenen Letten gewidmet, die ihr Leben dafür riskiert haben, Juden zu retten. Es zeigt eine kippende Mauer, die von einige Säulen gestützt wird. Darin eingeritzt sind die Namen der Lebensretter sowie ein Teil von Jesaja 56,5, der auch Yad Vashem seinen Namen gegeben hat: "Ich will ihnen in meinem Hause und in meinen Mauern einen Ort und einen Namen geben, besser denn Söhne und Töchter; einen ewigen Namen will ich ihnen geben, der nicht vergehen soll."


Zurück im Hostel war es dann auch schon wieder Zeit für das Abendessen. Ich hatte keine Lust zum Kochen also aß ich nur Baguette mit Lachsfrischkäse, was sogar leckerer war, als ich vermutet hatte. Die Letten scheinen eine ähnlich große Vorliebe für Brotaufstriche zu haben wie die Deutschen, zumindest kann ich mich nicht erinnern schon einmal in einem Land gewesen zu sein, das in diesem Bereich so eine große Auswahl hat. Ohnehin ist die Auswahl an Backwaren im Baltikum ziemlich beachtlich, aber mehr dazu ein andermal.

Am Abend kuschelte ich mich dann in mein Bett und las noch ein wenig. Der erste Tag in Riga war schon einmal ziemlich vielversprechend verlaufen.

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