Books I've Read: Sebastian Haffner - Von Bismarck zu Hitler: Ein Rückblick

 

Knapp 120 Jahre deutsche Geschichte auf 325 Seiten - Von Bismarck zu Hitler ist zweifellos ein ambitioniertes Buch. Ich gebe zu, dass ich zunächst ein wenig skeptisch war. Kann ein so knappes Werk wirklich etwas Neues zu einer Zeitspanne beitragen, über die bereits so viel geschrieben wurde? Oder handelt es sich hier doch nur um eine weitere Sammlung von Oberflächlichkeiten im Guido-Knopp-Stil? Da die Bewertungen sehr gut waren, habe ich dem Buch trotz meiner Zweifel einen Chance gegeben, und siehe da: Die Antworten lauten "Ja, es kann" und "Nein, tut es nicht".

Der Schwerpunkt des Buches liegt, wie der Titel schon sagt, auf der Geschichte des Deutschen Reiches von der Gründung 1871 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Darüber hinaus skizziert Haffner die Entwicklungen der Nachkriegszeit bis zum Jahr 1987, in dem das Werk erstmals erschien. Streng genommen sind es sogar mehr als 120 Jahre, denn zunächst beschäftigt sich der Jurist und Journalist mit der Geschichte Preußens und den Folgen des Wiener Kongresses, bis er schließlich auf die Reichsgründung zu sprechen kommt. Hier folgt prompt die erste Überraschung: Haffner argumentiert, dass Bismarck den Krieg von 1870/71 eben nicht provoziert habe. Angesichts der von ihm angeführten Zitate, in denen Bismarck das Reich als noch nicht "gründungsreif" bezeichnet, fragt man sich da schon, warum es in den Schulen (zumindest war es bei mir so) als Tatsache gelehrt wird, dass Bismarck mit dem Krieg die deutsche Einheit forcieren wollte.

Haffners Ausführungen zur Kaiserzeit und zum Ersten Weltkrieg sind sicher interessant, haben aber abgesehen vom obigen Punkt noch relativ wenig Neues zu bieten. Meiner Meinung nach nimmt das Buch erst in der zweiten Hälfte qualitativ richtig an Fahrt auf. Das mag damit zusammenhängen, dass Haffner 1907 geboren ist und die Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus selbst miterlebt hat: Er ist in Berlin aufgewachsen, bevor er 1938 nach England emigrierte und dort eine der ersten Analysen über Hitler und seine Anhänger verfasste. Von Bismarck zu Hitler ist immer dann besonders stark, wenn es auf die Ansichten der damaligen Bevölkerung eingeht. Die große Frage ist schließlich, wieso jemand wie Hitler überhaupt möglich war. Eine definitive Antwort darauf hat auch Haffner nicht, aber dank seiner Erläuterungen bekommt man einen ganz guten Eindruck davon, wie die meisten Menschen damals "getickt" haben.

Daneben stellt Haffner gerade im Hitlerzeit-Kapitel einige interessante Thesen auf, etwa dass Nazideutschland kein vollkommen totalitärer Staat war, da neben der neu installierten Terrorherrschaft der alte Beamtenstaat weiter existierte. Auch könne man nicht von einer Gleichschaltung der Medien sprechen, da das - wenngleich arg reduzierte - Meinungsspektrum immer noch von bürgerlich bis nationalsozialistisch gereicht habe. Zudem argumentiert Haffner, dass die Deutschen Hitlers Antisemitismus eher billigend in Kauf genommen anstatt aktiv unterstützt haben - ein Punkt, bei dem ich mir nicht so sicher bin. Harsch geht der Autor mit selbsternannten "Widerstandskämpfern", insbesondere Künstlern, ins Gericht. Selbst wenn viele keine Nationalsozialisten gewesen seien, hätten sie das Regime ungewollt unterstützt, indem sie in ihren Werken die Politik ausgespart und Goebbels so geholfen hätten, seine Illusion vom "heilen Deutschland" zu verbreiten.

Unfreiwillig komisch ist das letzte Kapitel, das die Nachkriegszeit behandelt, denn hier argumentierte Haffner noch 1987, dass eine deutsche Wiedervereinigung vollkommen unrealistisch und wenn überhaupt nur durch einen sehr blutigen Krieg zu erreichen sei. Wie wir alle wissen war dem glücklicherweise nicht so. In einem später hinzugefügten Kapitel erklärt Haffner, dass der Mauerfall damals nicht abzusehen war. Er entschied sich, den Teil des Buches für die Neuauflage nicht zu verändern, als Beweis dafür, dass Geschichte sich nicht voraussagen lässt.

Freilich kann Haffner bei einem so kurzen Buch nicht groß in die Tiefe gehen, aber er vermittelt einen sehr guten Überblick über den Aufstieg und Fall des Deutschen Reiches. Was Von Bismarck zu Hitler zu einem herausragenden Werk macht, sind seine originellen, stets fundierten Gedanken, die den Leser zum Nachdenken anregen und mir persönlich viele neue Einsichten verschafft haben, obwohl wir die Jahre 1871-1945 im Leistungskurs relativ ausführlich behandelt haben. Zudem ist das Werk unglaublich fesselnd und lebendig geschrieben. Das einzige, was mich ein bisschen gestört hat ist, dass die Weimarer Republik, insbesondere die Innenpolitik, im Vergleich zu den anderen Perioden etwas zu kurz kommt und dass sich das dazugehörige Kapitel sehr stark auf Hitler konzentriert. Leider ist Haffner 1999 verstorben; mich würde sehr interessieren, was er zu Angela Merkel gesagt hätte.

Fazit: Pflichtlektüre.

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