Open your drawers: Prague

 

Seitdem ich Austerlitz gelesen habe, beschäftigt mich das Thema Erinnerung sehr. Es ist aber auch merkwürdig, warum wir manche Sachen behalten, aber andere im Orkus des Vergessens verschwinden. Vor ein paar Tagen las ich zum Beispiel die Geschichte eines Künstlers, dem als Kind ein Stück Holz auf den Kopf fiel, als er auf einer Baustelle spielte. Dadurch verlor sein komplettes Erinnerungsvermögen und irrte zwei Tage umher, bis er zu einem Yachthafen kam, wo er als Schiffsjunge eines reichen Paares anheuerte. Nach zwei Wochen auf See wachte er schließlich schweißgebadet in einem Hotel in Kanada auf - und konnte sich an alles erinnern, was bis zum Zeitpunkt des Unfalls geschehen war, aber von der Zeit auf dem Boot wusste er nichts mehr. Erst viele Jahre später traf er die Frau, die ihn angeheuert hatte, wieder und diese füllte dann seine Erinnerungslücken.

Ich für meinen Teil habe auch versucht, einige Lücken zu füllen und die Schubladen mit verlorenen Erinnerungen zu öffnen (weil ich schon glaube, dass das meiste noch irgendwo vorhanden ist). Nachdem ich Austerlitz beendet habe, musste ich viel an Prag denken, woraufhin ich noch einmal The Amazing Adventures of Kavalier & Clay gelesen habe (eins meiner liebsten Bücher überhaupt), da Josef Kavalier ja auch aus Prag kommt. Und dann war da noch die Sache in meinem Italienischkurs, wo wir immer erzählen müssen, was wir am Vortag gemacht haben. Ich wollte sagen, "ich habe ein Geschenk für meine Schwester gekauft" und herauskam "ho comprato un regalo per mia sestra", dabei heißt es korrekt "...per mia sorella". "Sestra" ist das tschechische Wort für Schwester, "sorella" das italienische. Ich weiß nicht, wie ich plötzlich darauf gekommen bin, denn wenn mich jemand gefragt hätte, was Schwester auf Tschechisch heißt, dann hätte ich es nicht gewusst. Ich musste sogar erst nachschauen, aus welcher Sprache "sestra" denn nun eigentlich stammt. So ist das mit der Erinnerung.

Wie ich im Austerlitz-Beitrag erwähnt habe, war ich früher oft in Prag. Ich habe keine Fotos mehr aus der Zeit (na ja, möglicherweise schon aber ich weiß nicht wo), sodass ich mir Postkarten angesehen habe, von denen ich noch überraschend viele habe. Und tatsächlich kamen einige (wenige) Erinnerungen zurück. Ich hatte ja auch erzählt, dass ich ein Gedächtnis wie ein Schweizer Käse habe und ich mich an meine Schulzeit so gut wie gar nicht mehr erinnern kann. Das finde ich nicht schlimm, denn ich habe die Schule immer gehasst und die wenigen Erinnerungen die ich daran habe sind nicht gerade positiv. Mit den Reisen nach Tschechien ist es was anderes, denn das war immer das Highlight des gesamten Schuljahres und so ziemlich das einzige, auf das ich gerne zurückschaue - vor allem auf die Ausflüge nach Prag.

"'Hometown'; well, most admit an affection for a city/ grey tangled streets I cycled on to school, my first cigarette/ in the back lane, and, fool, my first botched love affair/ First everything. Faded torments; self-indulgent pity", heißt es in dem Gedicht "Return to Cardiff" von Dannie Abse. Während das in gewisser Weise auch auf meine Beziehung zu Cardiff zutrifft (mehr dazu vielleicht ein anderes Mal), passt es noch besser zu Prag und mir, denn mehr als jeder andere Stadt - sogar noch mehr als meine eigentliche Heimatstadt - ist Prag für mich der Ort, an dem ich aufgewachsen bin. Das hängt sicher mit einer Reihe "firsts" zusammen. Als ich das erste Mal mit der Schule nach Tschechien gefahren bin, war ich in der neunten Klasse. Im Gegensatz zu den Austauschfahrten nach England oder Frankreich war Tschechien an meiner Schule nie übermäßig beliebt, sodass ich mitfahren durfte, obwohl ich erst 14 war. Das war auch das erste Mal, dass ich ohne Freunde oder Familie weggefahren bin.

Ich fand es nicht so schlimm, dass ich niemanden auf der Fahrt kannte, denn ich konnte mich auch alleine gut beschäftigen, ja für meinen Geschmack hätte es gerade in Prag ruhig mehr Freizeit sein dürfen. Es stand nur ein Tagesausflug in die tschechische Hauptstadt auf dem Programm, aber nachdem wir die Stadt und den Hradschin besichtigt hatten, bekamen wir noch ein paar Stunden zur freien Verfügung. Während sich die älteren Schüler in Grüppchen zusammenfanden, ging ich in ein Café und bestellte meinen allerersten Kaffee. Ich rauchte auch einige meiner ersten Zigaretten. Ich hatte niche die Absicht Raucher zu werden, ich wollte es nur ausnutzen, dass kein Erwachsener in der Nähe war, der mir irgendetwas vorschreiben konnte. Als Teenager hat man ja das Gefühl, dass das ganze Leben nur aus Vorschriften besteht und ich genoss dies besondere Freiheit, die ich Zuhause nicht hatte (obwohl meine Eltern alles andere als streng waren). Zum ersten Mal fühlte ich mich schon fast erwachsen. Ich trank Kaffee, betrachtete die Stadt vom Hradschin aus während Raucher mich um ein Feuerzeug baten, und ich durchstreifte Josefov, das jüdische Viertel, das mich damals schon am meisten interessierte, aber das nie Bestandteil der öffentlichen Führung war. In den Folgejahren, als auch die Freunde dabei waren und ich kaum Zeit allein hatte, sehnte ich mich beim offiziellen Teil oft danach, am Staroměsté náměstí einfach die Abzweigung nach Josefov zu nehmen.

Ab der zehnten Klasse kamen also auch einige Freunde mit auf den Austausch, was die ganze Sache unterhaltsamer machte. Dennoch vermisste ich die Zeit für mich. Der Ausflug nach Prag war in diesem Jahr auf zwei Tage ausgedehnt worden; die Lehrer hatten uns in einer Herberge am Naměstí Míru einquartiert, die allerdings über keine Betten verfügte, sodass wir zu unserem Unmut auf dem Boden schlafen mussten. Eines Abends gingen die vier Freundinnen in ein Klassikkonzert, was ich ziemlich überraschend fand angesichts der Tatsache, dass sich nur eine von ihnen ansatzweise für klassische Musik interessierte. Ich hatte jedoch keine Lust auf Mozart, sodass ich erst ein bisschen allein im Hostel bliebt, bevor ich mich auf den Weg in die Innenstadt machte. Wir wollten uns alle am Wenzelsplatz treffen, aber da ich noch etwas Zeit hatte, machte ich einen Abstecher zur Karlsbrücke, da ich gerne die Moldau und die Burg bei Nacht sehen wollte. 

Das war zumindest der Plan. Kaum dass ich jedoch an der Brücke angekommen war lief ich prompt in meine Lehrer hinein, die essen gehen wollten. Da war der aufbrausende, korpulente, aus Bayern stammende Biolehrer, sein tattriger, alter Kollege (Fächerkombi: Latein/Französisch) und ein tschechischer Lehrer, ein großer, sportlicher junger Mann mit blonden Jahren, Jan irgendwas glaube ich. "Was machst du hier allein?", polterte der Bayer. "Ich war gerade auf dem Weg, um ein paar Freunde zu treffen, die im Konzert waren", erwiderte ich. "Du kannst doch nachts nicht allein durch Prag laufen. Du bist erst fünfzehn!" "Ich bin ja nicht lange allein, ich treffe mich mit meinen Freundinnen...", versuchte ich es erneut, doch der Bayer hörte mir nicht zu."Wie bist du überhaupt hier gekommen?" "Mit der U-Bahn?" "Du bist allein mit der U-Bahn gefahren?!" "Ich bin nicht zum ersten Mal in Prag, ich hab das alles schon mal gemacht." "Du kannst doch nicht allein mit der U-Bahn fahren!!! Bist du von allen guten Geistern verlassen?" Jugendlich wie ich war, habe ich überhaupt nicht verstanden, wo denn nun das Problem war. Die Lehrer schauten sich eine Weile ratlos an. Auch wenn dem Bayer das Bedürfnis nach Schweinebraten in Schwarzbiersoße geradezu ins Gesicht geschrieben stand, einigten sich die drei darauf, dass sie mich zum Wenzelsplatz begleiten würden. "Ich kann da auch allein hinfahren", meinte ich trotzig. "Kommt überhaupt nicht in Frage!"

Also lief ich mit den drei Lehrern im Schlepptau zur nächsten Metrostation, was mich unglaublich nervte. Während die drei ratlos auf den Plan starrten, ging ich schon einmal zum Stieg der Linie A. Ich war jedoch so damit beschäftigt ihnen zu demonstrieren, dass ich allein klar kam, dass ich nicht bemerkte, dass ich die Bahn ansteuerte, die in die Gegenrichtung fuhr. "Siehst du, schon falsch", meinte der Bayer während Jan mich am Ärmel packte. Schließlich stieg ich schmollend mit ihnen in die richtige Bahn, und sie lieferten mich bei meinen Freunden am Wenzelsplatz ab, inklusive einer halbherzigen Standpauke, die wir natürlich getrost ignorierten.

Ich liebte die Metro. Als Landei war ich was das Fahren mit der U-Bahn betrifft, absolut jungfräulich (von einem Wochenende in London mal abgesehen). Als ich das erste Mal in Prag war, war ich fasziniert von der bunten Wandverkleidung und den schier endlos langen Rolltreppen. Und natürlich liebte ich, wie alle, die Durchsage. Als meine Schwester neulich Geburtstag hatte und den Kranz abgehen musste, war eine der Fragen ihrer Freundinnnen, wie die Durchsage in der Prager U-Bahn lautet. Ich kenne keinen, der in Prag war und sich nicht an die Durchsage erinnern kann: "Ukončete prosím výstup a nástup, dveře se zavírají. Příští stanice..." (Bitte beenden Sie das Aussteigen und Einsteigen, die Türen werden geschlossen. Der nächste Halt ist...)

In den folgenden Jahren gab es aus Kostengründen nur noch Tagesfahrten nach Prag. Da die Austausche aber traditionell nach den Herbstferien stattfanden und ich ein gutes Verhältnis zu meiner Gastfamilie hatte, durften die Freunde und ich unseren Aufenthalt in Tschechien verlängern. So fuhren wir zu Beginn der Herbstferien mit dem Zug nach Zwickau oder Liberec, wo uns der Gastvater abholte. Während der schulfreien Zeit machten wir unsere eigenen Ausflüge, auch nach Prag, bevor wir uns nach der Ankunft der deutschen Schüler dem offiziellen Programm anschlossen. Das wurde zusehends langweiliger, da jedes Jahr die gleichen Punkte auf dem Plan standen, wie die Brauereitour und sehr viele, sehr langweile Schlossbesichtigungen. Gut waren jedoch die Ausflüge in die Berge und nach Hradec Králové und selbstverständlich die Freizeitgestaltung, da alles so viel billiger war als Zuhause, in erster Linie natürlich der Alkohol.

Ich könnte noch mehr erzählen, aber das würde wohl zuweit führen. Es war auf jeden Fall eine aufregende Zeit, voller neuer Erfahrungen: Der erste Kaffee. Der erste Schluck Bier. Das erste Mal im Internet (Tatsache!). Der erste längere Urlaub ohne Eltern. Das erste Mal wohnen ohne Erwachsene (mit den Freundinnen in der Plattenbauwohnung der Gastoma). Das erste Mal allein im Restaurant. Das erste Mal Essen bestellen in einer Fremdsprache.  Das erste Mal in der Disko. Und und und. Ich bin schon immer gerne gereist, aber ich glaube, dass ich erst durch die Fahrten nach Tschechien mein Herz fürs Backpacken entdeckt habe, weil es mir so viel Spaß gemacht hat, auf eigene Faust die Gegend zu erkunden. Was mich jedoch am meisten beeindruckt hat, war die Gastfreundlichkeit der Leute dort. Dadurch war es nicht schwer, sich wie Zuhause zu fühlen.

Ich bin mir nicht mehr sicher, was die Daten und Fakten betrifft, aber ich meine, dass ich viermal beim Schüleraustausch mit dabei war, zweimal davon mit verlängertem Aufenthalt. Im Sommer 2002 bin ich mit zudem mit meiner Familie nach Tschechien gefahren, nachdem die Gastfamilie uns eingeladen hatte, um sich dafür zu bedanken, dass ihre Tochter ein Jahr bei uns wohnen durfte (an deren Zeit in Deutschland ich mich wiederum fast gar nicht erinnern kann). Das letzte Mal war ich 2005 mit dem Kvetcher in Prag, aber daran denke ich lieber nicht zurück. 

Ich will auf jeden Fall wieder nach Prag. Jedes Mal wenn es Herbst wird, denke ich an die schöne Zeit dort. Es wird zwar nicht mehr so neu und aufregend sein wie damals, sondern eher wie der Besuch bei einem alten Freund - frei nach Dannie Abse: "As soon as I arrive the other Prague will be gone, smoke in the memory, these but tinned resemblances, where the girl I was not, and the women I am not, meet, hesitate, leave double footsteps, then walk on."

Kommentare

  1. Hallo Dannie,

    da ist Dir aber in Deinem Blog auch etwas aus der Erinnerung entwischt. Im ersten Abschnitt fehlt wohl eine Zeile wenn Du schreibst: Er viele Jahre später traf der die Frau .....

    Und Du machst immer noch einen Italienisch Kurs und sprichst wohl auch schon ganz gut - toll. Aber Dannie, Du hast mal geraucht??? Ih, nee, ich habe nie im Leben je eine Zigarette in der Hand gehabt, ganz ehrlich! Und der Ilse hab ich es zum Glück auch gleich abgewöhnen können.

    Ja in Prag war ich auch mal - zum Fußball! Dukla hat mal gegen Rangers gespielt und ich mitten drin. Liebe Grüße! Rudi

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  2. ah nur zwei Buchstaben - habe gedacht da fehlt vielleicht eine ganze Zeile. Liebe Grüße nach Norden! Rudi

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