North by Northeast: Nothing Gold Can Stay

Okay, I give up. Eigentlich wollte ich noch mindestens fünf Einträge über Estland schreiben, aber im Moment weiß ich einfach nicht, wie ich das schaffen soll, zumal die nächste Reise (Italien Ende Mai) glücklicherweise auch nicht mehr all zu lange hin ist. Die letzte Einträge zu Riga waren schon bloß das Aufwärmen verblassender Erinnerungen und ich befürchte, dass die anderen Texte kaum besser geworden wären, eher das Gegenteil. Daher muss ich die Reihe schweren Herzens vorzeitig einstellen, auch wenn ich das Wichtigste wenigstens noch kurz erwähnen will.

I had a feeling: In Riga hatte ich ja schon die Ahnung, dass der Urlaub nicht so perfekt weitergehen könne, aber ich hatte nicht die blasseste Ahnung, was mich in Estland erwarten würde. Die Fahrt mit dem Fernbus von Riga nach Tallinn hat noch wunderbar geklappt, aber die Unterkunft war die reinste Katastrophe. Als ich zwei Monate vor meinem Urlaub nach einer Bleibe suchte musste ich feststellen, dass in Tallinn schon so gut wie alles ausgebucht war. Ich mietete mich daher in einem recht jungen Hostel ein. Als ich dort ankam bemerkte ich jedoch, dass sich hier um eine absolute Bruchbude handelte und die Beschreibung auf der Website erstunken und erlogen war. Gleichzeitig stellte ich fest, dass der Manager bereits zwei Tage zuvor meine Buchung wegen Renovierungsarbeiten storniert hatte, per E-Mail! Die hatte ich leider nicht lesen können, da ich Probleme mit dem Einloggen hatte (wie immer, wenn man es aus Osteuropa versucht). Nun stand ich also ohne Unterkunft da und die Touri-Info fühlte sich nicht gerade bemüßigt, mir zu helfen. Am Ende bekam ich noch ein Bett in einem Achterzimmer, das Hostel war jedoch ziemlich heruntergekommen und hatte bis auf ein Bett und eine Dusche nichts zu bieten, nicht einmal eine Küche, eine Waschmaschine oder Internet (glücklicherweise gibt es in Estland an fast jeder Ecke einen Hotspot). Am Schlimmsten war jedoch das Nachspiel: Meinem ursprünglichen Hostel hinterließ ich eine negative Kritik, um andere zu warnen, woraufhin der Manager mich (anonym) erpresste, bis ich ihn bei Hostelworld meldete, die daraufhin das Hostel von ihrer Seite nahmen. Leider hat das alles einen ziemlichen Schatten auf die Reise geworfen. Was auch nicht so schön war, war dass ich teils aggressiv angebettelt und sogar verfolgt wurde. Insgesamt habe ich mich als alleinreisende Frau aber nicht unsicherer als in Deutschland gefühlt.

On the Old Town: Der Vorteil war, dass Tallin so umwerfend schön ist, dass man problemlos den ganzen Tag dort herumlaufen kann und wirklich nur zum Schlafen zurück ins Hostel muss. Vor allem die Altstadt von Tallinn ist ein einziges Postkartenmotiv auf einer recht überaschaubaren Fläche - möglicherweise ein Grund, warum sie wesentlich  mehr Touristen als Riga aufweist. Ein anderer ist, dass wohl ziemlich viele Kreuzfahrtschiffe in Tallinn anlegen, deren Passagiere dann in den wenigen Stunden ihres Aufenthalts durch die Altstadt strömen. Abgesehen von den Massen ist Vanalinn (so die estnische Bezeichnung) ein äußerst charmantes Fleckchen Erden, das aus lauter kleinen Kopfsteinpflastergassen besteht. Sie ist außerdem sehr hügelig. Auf dem "Gipfel" befindet sich eine Aussichtsplattform, von der man einen fantastischen Blick über ganz Tallinn hat.


Herzstück der Altstadt ist freilich der Marktplatz mit seinen historischen Gebäuden, in denen sich mittlerweile zahllose Cafés befinden. Am Schönsten ist er am Abend, wenn die untergehende Sonne auf die Häuser scheint und die Kreuzfahrer sich verzogen haben (tut mir leid, aber ich kann dieser Form des Umherreisens einfach nicht viel abgewinnen).


The City in Bloom: Wer sich nur wenige Stunden in Tallinn aufhält, dem entgeht möglicherweise, dass die Stadt auch außerhalb der Altstadtmauern unglaublich schön ist. Als ich dort war, fand beispielsweise direkt neben den Mauern eine Art Gartenschau statt, die einen Rundgang mit über 20 kleine, blumige Kunstwerken bereithielt. Eine wirklich hübsche Überraschung.


Zwischen dem (wenig schönen) Bahnhof und der Altstadt befindet sich Šnelli Park, der ebenfalls umwerfend ist. Hier kann man, fernab vom Trubel der Metropole, an einem langgezogenen See unter Bäumen entlangwandern und die ebenso ansehnliche Rückseite der Altstadthäuser betrachten.


Ebenfalls direkt an die Altstadt grenzt der Freiheitsplatz, der der Befreiung von der sowjetischen Besatzung gedenkt. Ein großes Kreuz erinnert an die Okkupation, die für Estland ebenso traumatisch war wie für den Rest des Baltikums. Wie ich neulich erfahren habe, gibt es in Estland sogar ein Schulfach namens "Landesverteidigung", in dem Schüler in die Grundlagen des Partisanendaseins eingeführt werden - für den Fall, dass Russland das kleine Land erneut überfallen sollte.

Von dort führt eine Treppe hinauf nach Toompea, dem Domberg, mit einer großen Orthodoxen Kirche und, für mich interessanter, einem mittelalterlichen Turm, der den schönen plattdeutschen Namen "Kiek in de Kök" trägt. 


The Remains of the Sovyets: Wie in Riga sind in Tallinn kaum noch Spuren der sowjetischen Besatzung zu entdecken - aber die wenigen, die es noch gibt, sind eine visuelle Beleidigung sondergleichen. In der Nähe des Fährhafens steht die Linnahall ("Stadthalle"), die für die Olympischen Spiele in Moskau gebaut wurde. Dabei handelt es sich um einen gigantischen Betonklotz, der so langsam vor sich hingammelt. Immerhin hat man von dort einen guten Blick auf den Hafen und die Meeresbrise ist an heißen Sommertagen herrlich.



Patarei: So hässlich die Linnahall auch ist, der mit Abstand gruseligste Ort in Tallinn ist das Gefängnis Patarei. Eigentlich hatte mich das Genozidmuseum in Vilnius mit den KGB-Folterkammern ja von meinem Interesse an Strafanstalten "kuriert", aber als meine Cousine mit den Besuch von Patarei empfahl, konnte ich nicht widerstehen. Wenn man sich dort umsieht kann man kaum glauben, dass das Gefängnis bis 2002 in Benutzung war, da es so heruntergekommen ist und von der Ausstattung her an die 40er- oder 50er-Jahre erinnert, so entsetzlich müssen die Haftbedingungen gewesen sein. Die Insassen schliefen in Stockbetten in kleinen, dunklen, überfüllten Zellen und nicht wenige wurden auch hingerichtet. Gleich in den ersten Raum, in den ich kam, fanden Erhängungen statt, woraufhin mir prompt anders wurde, als ob ein Blitz durch meinen Körper fahren würde. In einem weiteren Exekutionsraum, der wohl zwecks Geräuschüberdeckung im Keller war, wurden die Häftlinge erschossen. Die Wand hatten sie extra braunrot gestrichen, damit man die Blutspritzer nicht sieht.


Das Gefängnis muss recht abrupt aufgegeben worden sein, zumindest ist dort noch ziemlich viel der Einrichtung vorhanden, darunter sogar die Plakate, die die Häftlinge an ihre Zellenwände geklebt hatten. Der schaurigste Raum neben den Exekutionskammern ist der Operationssaal, der eher an einer mittelalterliche Folterkammer erinnert.



In der Mitte des Gefängnisses befindet sich ein Innenhof mit sogenannten "Spazierhöfen", eingezäunte Kammern von 15 Quadratmetern, in denen die Häftlingen umhergehen konnten - jedoch nicht mehr nach der sowjetischen Besatzung. Dort konnte man auch auf einen Wachtturm klettern. Die Treppe war zwar äußerst steil, aber man hatte einen guten Überblick.



Das einzig Gute ist, ist dass Patarei mittlerweile auch ein Kulturzentrum ist. Viele Künstler arbeiten dort, die der Anlage innen und außen ein wenig von ihrem Schrecken nehmen.



Kadriorg: Ungefähr zwei Kilometer von der Innenstadt entfernt befindet sich das Viertel Kadriorg, das so etwas wie das Schönbrunn Tallinns ist - nur nicht ganz so überdimensional wie die Wiener Variante. Hier befindet sich ein Herrenhaus, der Zar Peter für seine Frau errichten ließ, mit dem passend akkuraten Park dazu. Umgeben ist es von einem noch größeren Park mit Teichen und vielen Rosen, der gerne für Hochzeitsfotos genutzt wird.


In unmittelbarer Nähe befindet sich ein Zen-Garten, durch den eine ganz Gruppe von Eichhörnchen gehuscht ist. So viele habe ich noch nie auf einem Haufen gesehen.


KUMU: Der Hauptgrund für mich nach Kadriorg zu kommen war jedoch das KUMU, kurz für Kunstimuuseum. In dem modernen Gebäude befindet sich die größte Sammlung estnischer Kunst vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Interessant war schon einmal, dass man statt einer Eintrittskarte einen roten Punkt erhielt, den man sich auf den Oberkörper kleben musste. In einer Sonderausstellung wurde der Besucher zudem Teil eines Kunstwerks, in dem er sich zum Durchblättern eines Bildbands weiße Handschuhe überziehen musste. Das Beste war jedoch die umfangreiche Dauerausstellung des Museums. Ich gar nicht mehr aufzählen, was ich alles gesehen habe, aber am meisten sind mir die Bilder von Henn Roode in Erinnerung geblieben. Damals war alles, was nicht dem Ideal sowjetischer "Volkskunst" entsprach verpönt, und Roode war wegen seiner Bilder sogar sechs Jahre in einem sibirischen Lager inhaftiert. Danach hat er ein zurückgezogenes Leben geführt, bevor er viel zu früh im Alter von 50 Jahren an Krebs verstarb. Auch wenn man sich wie bei jedem guten Kunstmuseum am Ende ein wenig erschlagen fühlt - das KUMU ist für mich einer der Orte in Tallinn, den man gesehen haben muss.



Rocca al Mare: Bleiben wir bei Orten, die man gesehen haben muss. Auch wenn Rocca al Mare sind nicht sehr estnisch anhört: Hinter dem Namen verbirgt sich ein weiteres Viertel Tallinns, in dem das Estnische Freilichtmuseum untergebracht ist. Auf fast 80 Hektar sieht man hier, wie die Landbevölkerung im 19. und frühen 20.Jahrhundert gelebt hat. Es gibt 12 Farmen, Windmühlen, eine Schule, eine Kirche, eine Feuerwehr und sogar einen Dorfladen, in dem man einkaufen kann. Auch befindet sich dort ein Restaurant mit traditionellen Speisen, in dem ich mir erst einmal einen Kaffee und ein Stück Roggenkuchen gegönnt habe. Überall gibt es Freiwillige, die traditionelles Handwerk vorführen, oder am Sonntagmorgen Tänze (was ich leider knapp verpasst habe). Bei den Häusern handelt es sich um Originale aus allen Landesteile. Typisch ist, dass das Dach zwei Drittel des Hauses ausmacht, weil dort Getreide gelagert wurde.



Das Museum ist ein unglaubliches hübsches Fleckchen Erde mit viel Wald, das direkt am Meer liegt. Hier kann man sich wirklich stundenlang aufhalten: Einmal, weil es so wahnsinnig viel zu sehen gibt und zum anderen, weil es einfach so schön und so friedlich ist. Am besten packt man für den Besuch einen Picknickkorb und nimmt sich sechs, sieben Stunden Zeit, um sich umzuschauen und die Natur zu genießen. Für mich ebenfalls ein absolutes Must-See.




Nicht gesehen haben muss man hingegen das riesige Einkaufszentrum, für das Rocca al Mare ebenfalls bekannt ist. Der Stadtteil befindet sich übrigens einen ganzes Stück außerhalb, etwa acht Kilometer von der Innenstadt entfernt (was ich jedoch erst wirklich gemerkt habe, nachdem ich die Strecke gelaufen bin).

Pirita: Ebenfalls vernachlässigbar ist Pirita, der bekannteste - und daher überlaufenste - Strand der Stadt, der sich etwa sechs Kilometer außerhalb befindet. Eine Promenade führt von Kadriorg am Meer entlang dorthin, oder besser gesagt bis zum ehemaligen olympischen Dorf, das natürlich auch aus sehr viel Beton besteht. In der Nähe befindet sich ein ehemaliges Kloster, dass während meines Besuchs jedoch geschlossen war. Weitere 2,5 Kilometer entfernt sich die Botanischen Gärten, wo ich jedoch nicht mehr war.


Food and Stuff: Da das Hostel leider keine Küche hatte, musste ich wohl oder übel auswärts essen, was natürlich ein wenig ins Geld gegangen ist. Am ersten Abend war ich erschöpft von allem einfach in ein Café am Markt gegangen, das allerdings winzige Mahlzeiten und riesige Preise hatten. Dann entdeckte ich aber einen Ort namens "Eat" (sic) wo man für nur rund zwei Euro eine ganze Schüssel voll Pelmeni (eine Art russische Tortellini) bekommt. Da war ich dann jeden Abend, außer am Sonntag, wenn sie geschlossen haben. Stattdessen habe ich "Must Puudel" aufgesucht, ein Café mit lustigem Namen und knallbunter Retroeinrichtung, die auch einige gute und recht günstige Gerichte zu Auswahl haben. Tagsüber habe ich mich vor allem von diversen Backwaren ernährt, von denen Estland eine tolle Auswahl hat (wenn auch keine Piradzini). Nur einen Coffee to go zu finden war nicht immer leicht.

There's No Ride For You Here: Öffentlicher Nahverkehr ist kein großer Spaß in Tallinn. Da die Fahrt für die Bewohner kostenlos ist, findet man kaum Orte, an denen man eine Einzelfahrkarte kaufen kann, selbst im Bus funktioniert das manchmal nicht. Auf dem Rückweg von Rocca al Mare ist der Trolleybus zudem auf halber Strecke liegen geblieben, sodass ich den Rest des Weges laufen musste. Und nachdem ich am letzten Tag über eine Stunde lang vergeblich versucht habe, eine Fahrkarte nach Pirita zu bekommen, und zudem noch über eine halbe Stunde beim Fahrradverleih anstehen musste, habe ich aufgeben und bin zu Fuß die sechs Kilometer in der prallen Sonne gelaufen. Immerhin hat mir auf dem Rückweg der Fahrer ein Ticket verkaufen können, und auch die Fahrt zum Flughafen hat geklappt.

Fazit: Abgesehen von dem Hostel-Desaster in Tallinn bin ich wirklich rundum zufrieden mit meiner Reise. Am liebsten wäre ich sogar noch länger geblieben, da sowohl Riga als auch Tallinn wirklich unglaublich schöne Städte sind. Ich kann jedem nur empfehlen, einmal dorthin zu reisen - aber nicht mit einem Kreuzfahrtschiff, denn es gibt vieles zu entdecken und man sollte sich unbedingt die Zeit dafür nehmen.

Kommentare