A Belgian Excursion: On a Glorious Late Summer's Day

So, werte Freunde, kommen wir nun also zu meinem Ausflug nach Belgien. Da der Urlaubseffekt der Griechenlandreise aus bereits erwähnten Gründen gleich null war, wollte ich noch einmal wegfahren. Dass ich mir ausgerechnet das Land der Waffeln und der Fritten ausgesucht habe, liegt an W.G. Sebalds Austerlitz. Ich hatte ja schon ein bisschen über das Buch geschrieben, aber ich habe glaube ich nicht erwähnt, wie besessen ich von dem Roman bin. Schon als ich die ersten Seiten des Buches las, wurde ich von dem überwältigenden Verlangen gepackt, nach Belgien zu fahren, aber da ich die Reise nach Griechenland schon gebucht hatte, dachte ich nicht daran, diesem Wunsch auch Taten folgen zu lassen. Ich werde immer mal wieder von heftigen "Reisevirusattacken" geplagt, die meist aber wieder abklingen, wenn ich mich ablenke (oder auf meinen Kontoauszug schaue). Bei Belgien war das anders. Das Verlangen ebbte einfach nicht ab. Es nervte mich kolossal, dass Austerlitz und der Erzähler in Antwerpen waren und ich nicht. Ich weiß nicht warum. Vielleicht, weil ich, zumindest grob, an den anderen wichtigen Orten im Roman war: In Prag, in London, in Nordwales, in Paris. Nur nicht in Belgien. Es war, als ob mir ein Puzzlestück fehlen würde. Ich musste das fehlende Puzzlestück einsetzen, damit ich das ganze Bild erkennen konnte.

Vielleicht lag es auch daran, dass ich schon immer mal nach Antwerpen fahren wollte und es mich störte, dass ich das zum Zeitpunkt des Lesens noch nicht geschafft hatte. Es gibt ja viele sehenswerte Städte in Belgien, aber ich wollte immer am liebsten nach Antwerpen. Ich weiß nicht wieso. Ich wusste eigentlich nichts über die Stadt außer das, was ich im Studium gelernt hatte: Dass Antwerpen über eine große jüdische Gemeinde verfügt, und dass viele ihre Mitglieder im Diamantengeschäft tätig sind. Ich fand es immer ein bisschen paradox, dass Antwerpen zumindest in der frühen Neuzeit ein Zentrum es sephardischen Judentums war, obwohl es von der Lage her zum aschkenasischen Kulturkreis gehört, was natürlich daran liegt, dass es so eine große Hafenstadt ist. Nach dem Studium dachte ich nicht mehr oft nach Antwerpen, aber hin und wieder, wenn ich jemanden aus Belgien traf, oder sie in der Presse mal wieder über den ewigen Streit zwischen Flamen und der Wallonen berichteten, nahm ich mir vor, mir das kleine Land einmal anzusehen.

Es ist nicht das erste Mal, dass ich einen Ort besuchte, über den ich einer Geschichte gelesen hatte. 2007 wollte ich mir eigentlich Rhossili Bay ansehen, nachdem ich in Dylan Thomas' wunderbarer Kurzgeschichte "Who do you wish was with us?" davon gelesen hatte. In dem Jahr war ich zwar in Wales, aber da es so viele Orte gab, die ich sehen wollte, und weil der Busverkehr auch nicht besonders ausgeprägt war, schaffte ich es nicht mehr nach Rhossili Bay. Daraufhin träumte ich ein Jahr lang jede Nacht davon, dass ich dort hinfahre, wobei der Ort jedes Mal anders aussah. Ich wusste, dass die Träume nur aufhören würden, wenn ich mir die Bucht ansehen würde. Also fuhr ich im folgenden Sommer dorthin. Danach habe ich, ein bisschen zu meinem Bedauern, nie wieder von Rhossili Bay geträumt. Dafür kann mir vorstellen, wie es für die beiden Protagonisten der Geschichte gewesen sein muss, auf der Felsformation Worm's Head vor der Bucht festzusitzen (nicht, dass mir das passiert wäre).

Ich wusste also, dass diese unerträgliche Sehnsucht nicht nachlassen würde bis ich tatsächlich in Antwerpen gewesen war. Und warum auch nicht?, dachte ich mir schließlich. Der Austerlitz-Erzähler war immer mal wieder von England aus für ein paar Tage oder Wochen dorthin gefahren - was sprach dagegen, dasselbe zu tun? Die Stadt war nicht allzu weit entfernt, ich konnte mir leicht ein paar Tage frei nehmen und ein Kurztrip würde auch kein übergroßes Loch in mein Budget reißen. Und warum auch nicht? Also fuhr ich nach Antwerpen.

Zunächst beschäftigte mich die Frage, wie ich am günstigsten dorthin komme. Ich wollte auf jeden Fall mit dem Zug fahren, da das für mich immer noch am bequemsten ist, aber auch, weil der Erzähler so nach Antwerpen gereist ist. Die Bahn wollte für das reguläre Hin- und Rückfahrtticket 127 Euro haben (95,30 mit Bahncard 25). Ich dachte mir, dass das doch auch günstiger gehen muss, und tatsächlich: Ich fuhr mit dem Niederlande-Spezial für 36 Euro return nach Rotterdam, und kaufte dort für 33,60 Euro eine Hin- und Rückfahrtkarte nach Antwerpen. So habe ich immerhin 25,70 Euro gespart, was fast die Hälfte der Übernachtungskosten waren - nur so als Tipp.

Der Morgen der Abreise war anstregend, da ich mal wieder ziemlich Probleme hatte, pünktlich zu sein. Ich war rechtzeitig aufgestanden, aber eine halbe Stunde bevor ich los wollte, fielen mir 1000 Sachen ein, die ich vergessen hatte, einzupacken. Als ich mich endlich aufmachte, war es bereits 9:28 Uhr - mein Zug ging um 9:53 Uhr und ich brauchte mindestens 20 Minuten bis zu Bahnhof. Also lief ich so schnell ich konnte. Das Gepäck war zwar nicht besonders schwer, aber sperrig, und ich hatte aus unerfindlichen Gründen Muskelkater in den Beinen. Ich habe einen wiederkehrenden Alptraum, in dem ich vor irgendetwas oder irgendwem flüchten muss, aber beim Laufen einfach nicht vorwärts komme. Genauso fühlte ich mich jetzt. Es war sonnig und bereits ziemlich warm für die Uhrzeit, sodass ich nass geschwitzt war, als ich um 9:49 Uhr am Bahnhof ankam. Ich erwischte meinen Zug noch, aber nahm mir vor, dass dies das definitiv letzte Mal ist, dass ich so zum Bahnhof eile. Hm.

Es war ein Dienstag und im Zug war wenig los. Erst nachdem wir die Grenze überquert hatten, bekam ich einen Schaffner zu Gesicht. Die Holländer sind immer herrlich uninteressiert an Personalausweisen und was man so in Verbindung mit einem Online-Ticket braucht, und vor allem immer so wahnsinnig gut gelaunt, wenn sie eine Durchsage machen. Auch diesmal hatte die Schaffnerin eine Stimme wie die aufgehende Sonne. Ich finde das sehr unterhaltsam. Weniger schön war hingegen, dass sämtliche Bahnübergänge zwischen Deventer und Apeldoorn gestört waren und der Zug daher langsamer fahren musste. Ich musste in Amersfoort umsteigen und hatte nur zwei Minuten Aufenthalt, aber durch diese Verzögerung kamen wir eine Viertelstunde zu spät an. Immerhin musste ich nur knapp zwanzig Minuten auf den nächsten Zug nach Rotterdam warten.

In Rotterdam verpasste ich den Anschluss nach Antwerpen um sage und schreibe eine Minute. Nicht so schlimm dachte ich, es fährt noch ein Zug um 14:40 Uhr. Als ich allerdings noch einmal den Plan konsultierte, stellte ich fest, dass der nächste Zug erst um 15:55 Uhr fuhr. So hatte ich ungeplant fast zwei Stunden Aufenthalt dort. Zunächst ging ich in den Albert Heijn um mir was zu essen zu besorgen. Sie hatte eine ganz passable Auswahl; ich kaufte ein Baguette, einen Donut und ein Viererpack Eierkuchen, das gerade im Angebot war, außerdem eine Cola. Es war das erste Mal, dass ich eine Cola mit Namen kaufte. Ich hatte schon häufiger von Leute gehört, dass sie ganz wild darauf waren, einen Cola mit ihrem Namen zu finden, was in meinem Fall wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen sein dürfte. Meine Cola "hieß" Esther, was ich nicht schlecht fand, da es mich, neben der biblischen Geschiche, an Judy Garlands Rolle in Meet Me in St. Louis erinnerte.


Kaum dass ich den Supermarkt verlassen hatte, klingelte das Telefon. Die Redaktion hatte mal wieder vergessen, wann ich nicht da war. Als ich jedoch meinen Namen nannte, fiel es ihnen wieder ein - fast. "Moment mal, du bist ab morgen nicht mehr da, oder?" "Ab heute." "Ab heute?" "Ja. [Pause] Ich bin gerade in Rotterdam." Ich weiß nicht, warum ich das hinzufügte, denn es gab eigentlich keinen Grund dazu. Ich verspürte einfach den Drang es zu tun - vielleicht, weil ich es selbst nicht glauben konnte und es laut aussprechen musste, damit es wahr wurde. "Oh, äh... dann genieß die Zeit." "Das werde ich."

Ich wollte nicht die ganze Zeit am Bahnhof abhängen, also trat ich hinaus auf den Vorplatz, der eine einzige riesige Baustelle war. Am liebsten hätte ich mich irgendwo ans Wasser gesetzt, aber es war etwas zu weit weg, vor allem, da ich ja das Gepäck mit mir herumschleppte. Während ich noch so auf die Karte schaute, sprach mich plötzlich ein Mann an: "Do you speak English?" "Uh-huh", erwiderte ich argwöhnisch, woraufhin er mir erzählte, dass er und seine (sich nicht in Sichtweite befindliche) Frau gerade vier Stunden bei der Polizei verbracht hätten, da man ihnen die Rucksäcke gestohlen hatte. Nun müssten sie nach Den Haag, zum britischen Konsulat. "That's another city, right?" "Yes?!" Jedenfalls suchte er nun, ebenfalls seit Stunden, jemanden, der ihm drei Pfund wechselt, damit er die acht Euro teure Fahrkarte bezahlen kann. Ich wusste wirklich nicht, was ich tun sollte. Ich hielt es für ziemlich wahrscheinlich, dass der Typ ein Schwindler war, auch wenn sich sein Akzent tatsächlich britisch anhörte. Was aber, wenn die Geschichte doch stimmte? Wenn ich in so einer Situation wäre, würde ich dann nicht auch wollen, dass mir jemand hilft? Also stimmte ich schließlich zu. Die drei Pfund würde ich bestimmt noch einmal gebrauchen können. "Three pounds, that's like, five Euro?", fragte ich. "Can you give me eight?" Das wurde ja immer doller. "I can give you five.", sagte ich entnervt. Im Nachhinein war das noch sehr großzügig, denn aktuell sind drei Pfund nur 3,60 Euro wert. Er nickte und ich gab ihm das Geld. Anstatt mir meine drei Pfund zu geben, ging er jedoch einfach weg. Na toll. Hinterher habe ich schon ziemlich geärgert, dass ich ihm was gegeben habe, vor allem, nachdem ich erfuhr, dass eine Fahrt nach Den Haag nur drei Euro kostet. Hätte ich bloß gesagt, dass ich kein Bargeld bei mir habe, aber auf so etwas komme ich immer erst, wenn es zu spät ist.

Ich ging zum Schouwburgplein und setzte mich dort in die Sonne. Es handelte sich um einen großen Platz mit hässlichen Betonbauten und großen roten Kränen, die wohl die am Hafen darstellen sollten. Überall liefen Studenten in grünen T-Shirts umher, die anscheinend an einer Rallye teilnahmen. Zumindest hatten sie Fragebögen in der Hand; außerdem bauten sie sich zu einer Pyramide auf, während sie ein Mentor im blauen T-Shirt fotografierte.

Mehr schaute ich mir nicht an, da ich drei Tage später noch einige Stunden in Rotterdam hatte. Der Zug fuhr planmäßig ab; an Bord befand sich eine holländische Schaffnerin in blauer Uniform und eine belgische Schaffnerin in grauer Uniform. Die Ansagen war sogar auf holländisch, französisch, deutsch und englisch. Die Fahrt dauerte nur eine gute Stunde. Je näher wir Antwerpen kamen, desto aufgeregter wurde ich. Der Erzähler beschrieb ein Unwohlsein bei seiner Einfahrt in den Bahnhof, doch bei mir war es eine positive Nervosität. 

Anders als 1967 sieht man - wie ich mit Bedauern feststellen musste - nichts von der Stadt bei der Einfahrt, da man durch einen kilometerlangen Tunnel fährt. Der Erzähler trifft Austerlitz zum ersten Mal in der Centraal-Station, sodass ich sie mir lieber ansehen wollte als alles andere. Ich hatte von mehreren Seiten gehört, dass der Zentralbahnhof einer der schönsten der Welt sein soll, doch als ich ausstieg, wirkte er ziemlich gewöhnlich auf mich. Das Gleis lag ein ganzes Stück unter der Erde, sodass ich die Rolltreppe nach oben nehmen musste. Mit einem Mal erschien eine riesige, prunkvoll verzierte Front vor meinen Augen:


Dahinter befand sich das berühmte Foyer mit der 60 Meter hohen Kuppel, das zu Sebalds Zeit ziemlich huntergekommen, mittlerweile aber renoviert worden war und in altem Glanz erstrahlte. Der von Louis Delacenserie entworfene Bahnhof war 1905 eröffnet worden, nach zehnjähriger Planungs- und Bauzeit, was sich lang anhört, aber verglichen mit aktuellen Projekten doch ziemlich kurz ist. Das Foyer war kleiner, als ich erwartet hatte (ich hatte es im Vorfeld vermieden, mir Bilder anzusehen), aber sehr beeindruckend. Natürlich vollkommen übertrieben, aber beeindruckend. Der Bahnhof sollte der aufstrebenden Wirtschaftsmacht weltweites Renommee verschaffen, heißt es bei Sebald. Delacenserie hat sich bei dem Bau vom römischen Pantheon und der italienischen Renaissance beeinflussen lassen, zudem gibt es maurische und byzantinische Anklänge, während die Marmortreppe an den Barock erinnert. Ich war zu müde und zu überwältigt, um auf all die Details zu achten, aber ich sah die Symbole, die für die typische Gewerbe der Stadt stehen, wie die Korngarben und den Bienenkorb, die sich interessanterweise dort befinden, wo im antiken Rom einst die Götter standen, wenn man Sebald glauben darf.





Ich verschob die genauere Erkundung des Bahnhofs auf den nächsten Tag und setzte mich auf dem Vorplatz, dem Astridplein, einen Moment in die Sonne, da ich erst um sechs im Hostel einchecken konnte. Neben dem Bahnhof befindet sich der Zoo, den auch der Erzähler besucht, mir jedoch war der Eintritt zu teuer.


Das Hostel lag im östlich des Bahnhofs, in entgegensetzter Richtung zur Innenstadt. Es dauerte ungefähr 20 Minuten, dort hinzugelangen. Man musste an sehr, sehr vielen Geschäften vorbei, die allen möglichen Ramsch verkauften. Das Viertel war sehr multikuturell, viel mehr als ich es aus Deutschland kannte. Wie ich kurz darauf erfuhr, ist Antwerpen tatsächlich die zweitmultikulturellste Stadt der Welt, hinter Amsterdam und vor New York. Menschen aus 164 Nationen leben dort.

Im Hostel wurde ich von einem jungen Mann namens Robert empfangen, der mich herumführte. Das Hostel war ziemlich cool, mit einem sehr großen Gemeinschaftsraum inklusive Küche, in dem ziemlich viele Retromöbel standen. Robert gab sich sehr viele Mühe, sämtliche Sehenswürdigkeiten und vor allem unzählige Pubs zu erwähnen. Das war wirklich sehr nett, auch wenn ich nicht beabsichtigte, in der kurzen Zeit in der ich dort war in die Kneipe zu gehen. Ich hätte es können; das (12-Bett-) Zimmer teilte ich unter anderem mit drei Schweizerinnen, die mich fragten, ob ich mich ihnen weggehen wollte, aber ich war zu erschöpft. Ich ging nur noch in den Supermarkt, der erfreulicherweise ungefähr die gleichen Preis wie in in Deutschland hatte, und kaufte Nudeln, Tomatensoße und Wasser. Abends las ich noch ein bisschen in Austerlitz (ich hatte eigentlich nur die Szenen in Belgien noch einmal lesen wollen, aber kaum dass ich damit angefangen hatte, konnte ich nicht mehr aufhören) und fiel dann müde, aber zufrieden, ins Bett.

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