Books I've Read: Harper Lee - Go Set a Watchman


Ich hatte ja schon befürchtet, diesen Blog eines leisen Todes sterben lassen zu müssen, aber gestern hatte ich tatsächlich mal Zeit, das neue alte Buch von Harper Lee zu lesen. Im Rahmen meines Textes zu To Kill a Mockingbird hatte ich ja schon auf die dubiosen Umstände hingewiesen, unter denen Go Set a Watchman nach fast 60 Jahren doch noch das Licht der Öffentlichkeit erblickte, obwohl Lee jahrzehntelang geschworen hat, nie wieder ein Buch zu herauszubringen. Besagte dubiose Umstände haben mich jedoch nicht vom Lesen abgehalten; zu gespannt war ich darauf, wie die Geschichte von Scout und Atticus weitergeht. GSAW ist der erste Entwurf zu TKAM und behandelt das Verhältnis von Vater und Tochter in den frühen Fünfzigerjahren. Lees Lektorin hingegen war in erster Linie von den Flashbacks angetan und bat sie, die Geschichte noch einmal aus Sicht des Mädchen Scouts zu schreiben, mit bekanntem Ergebnis.

Mir war klar, dass das GSAW großes Aufsehen erregen würde, allerdings war ich überrascht wie groß das Aufsehen war. Bereits Tage vor der Veröffentlichung konnten zahlreiche Tageszeitungen nicht anders, als den größten Spoiler in die Schlagzeilen zu packen: Atticus Finch ist jetzt ein Rassist! Plötzlich schien eine Welt zu zerbrechen und manche Publikation fragte ernsthaft, was denn jetzt die Eltern machen, die ihre Kinder Atticus genannt haben. Es schien, als habe Harper Lee (beziehungsweise ihre seltsame Anwältin) mutwillig ein amerikanische Idol zerstört. Seitdem scheint die (Literatur)Welt immer noch nicht ganz zur Ruhe gekommen zu sein und die Enttäuschung über GSAW ist riesengroß. Wer kann Lee da verübeln, dass sie das Buch solange nicht veröffentlichen wollte, vor allem nachdem Gregory Peck Atticus Finch mit seiner Darstellung endgülitg immortalisiert hat?

Kommen wir aber nun zum Buch. GSAW spielt, wie erwähnt, Anfang der Fünfzigerjahre. Die 26-jährige Scout, die mitterweile ihren Geburtsnamen Jean Louise verwendet und in New York lebt, verbringt wie jedes Jahr zwei Wochen in ihrem Heimatdorf Maycomb, Alabama, um ihren mittlerweile 72-jährigen Vater Atticus zu besuchen. Womit ich anfangs kämpfen hatte ist, dass ihr großer Bruder Jem wenige Jahre zuvor wie ihre Mutter an plötzlichem Herzversagen gestorben ist. Dafür ist Aunt Alexandra wirklich permanent bei Atticus eingezogen, was schier endlose Streitereien zwischen ihr und Jean Louise zu Folge hat. Eine weitere wichtige Rolle nimmt Henry Clinton ein, ein Kindheitsfreund von Jem und Scout, der nach Jems Tod quasi zum Ersatzsohn für Atticus geworden ist und auch seine Kanzlei übernehmen soll. Zunächst sieht alles nach halbwegs heiler Welt aus, bis Jean Louise entdeckt, dass ihr Vater und Henry an den Versammlungen des ominösen "Citizen's Councils" teilnimmt, einer äußerst rassistischen Vereinigung, die die Segregation mit allen Mitteln aufrecht erhalten will. Jean Louise ist entsetzt und kann nicht glauben, dass dieser Atticus tatsächlich der Vater ist, den sie zu kennen glaubte.

Natürlich kann GSAW dem perfekten TKAM nicht das Wasser reichen, dennoch war ich von dem Buch positiv überrascht. Sicher hat es einige Schwachstellen (man bedenke, dass es völlig uneditiert ist): Seine Struktur ist allzu anekdotenhaft und manche Dialoge ziehen sich sehr lange hin, ohne dass sie wirklich zum Punkt kommen, aber an sich ist GSAW eine starke Geschichte über eine junge Frau, die erkennen muss, dass ich über alles geliebter Vater auch nur ein Mensch ist. Dabei entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass Jean Louises Entwicklung denen der Leser gleicht: Auch der Leser, der in TKAM eine idealisierte Version von Atticus durch die Augen der kindlichen Scout erlebt hat, muss erkennen dass der Held seine Schwächen hat. Dabei finde ich die beide "Atticusse" alles andere als unversöhnlich: In TKAM hat Finch die Segregation nie in Frage gestellt und handelt in erster Linie aus seinem Glauben an das Gesetz und an die Verfassung, was unter dem Umständen freilich sehr mutig war. Möglicherweise ist er im Alter konservativer geworden und betrachtet die Umwälzungen durch die Bürgerrechtsbewegung mit Argwohn, was ihn aber auch nur zu einem Mann seiner Zeit macht (wofür er zu Recht von Jean Louise kritisiert wird). Und Segregationist hin oder her - Atticus Finch ist nun einmal ein verdammt guter Vater.

Was ich interessant fand war, dass die Überschneidungen zu TKAM relativ gering sind. Die Kindheitsanekdoten aus GSAW kommen in TKAM gar nicht vor und Dill ist nur eine Randnotiz, ebenso wie der Prozess gegen Tom Robinson (der in dieser Version sogar freigesprochen wird). Leider fehlen auch viele der skurrilen Figuren, die TKAM so besonders gemacht haben (Boo Radley!), wenngleich Uncle Jack eine prominente Rolle als liebenswert-weiser Kauz einnimmt. Andererseits wird GSAW dadurch zu einer interessanten Ergänzung zu TKAM, die mehr ist als nur ein früherer Entwurf. Man muss GSAW nicht unbedingt als Sequel betrachten, auch wenn es meiner Ansicht nach durchaus als solches funktioniert. In erster Linie erzählt es mehr über zwei Charaktere, die trotz ihrer Fehler immer noch liebenswert sind.

Fazit: Auch wenn Go Set a Watchman lange nicht so kraftvoll wie To Kill a Mockingbird ist, handelt es sich um ein lesenswertes und solides Buch, indem die mächtige Stimme Harper Lees zwar nicht so laut, aber deutlich vernehmbar ist.



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