Hey, that was super awesome: Bruce Springsteen & The E Street Band @ AWD-Arena, Hannover


In meiner Familie gibt es diesen Running Gag: Seit ich denken kann kündigt meine Mutter in der Adventszeit an, dass meine Schwester und ich bei der Bescherung vor Enttäuschung weinen werden. Ich weiß nicht, ob sie wirklich damit rechnet oder ob sie die Erwartungen nicht zu hoch schrauben will, aber Tatsache ist, dass sie jedes Mal die richtigen Geschenke aussucht und noch nie einer geweint hat. So ziehen wir sie vor jeder Bescherung damit auf, wie sehr wir doch wieder heulen werden. Im letzten Jahr ging die Ära der trockenäugigen Weihnachtsfeste allerdings zu Ende, als meine Eltern mir einen Umschlag überreichten. Ich wusste nicht so recht, was ich mich erwartete, doch als ich ihn öffnete und das Konterfei von Bruce Springsteen entdeckte, da verlor ich die Fassung, denn es handelte sich um ein Ticket für sein Hannover-Konzert. Da ich schon fast die Hoffnung aufgegeben hatte, Bruce jemals live zu sehen, war ich so überwältigt, dass tatsächlich die Tränen flossen.

Bei den meisten meiner Lieblingskünstler weiß ich noch, wann und wie ich das erste Mal mit ihnen in Berührung kam, aber nicht bei Bruce Springsteen. Er war irgendwie immer da. Irgendwann kam dann der Punkt, an dem das bloße Gefallen in Fantum überging, möglicherweise, als ich zum ersten Mal Nebraska gehört habe. Spätestens seit diesem Zeitpunkt habe ich davon geträumt, Bruce mal live zu erleben, aber es scheiterte immer an der Entfernung und/oder den Ticketpreisen. Stattdessen schaute ich neidisch auf die Geschäftsleute, die Springsteen-Tickets als Firmenbonus erhielten, obwohl sie nichts von ihm kannten außer vielleicht "Born in the U.S.A", "I'm on Fire" oder "Dancing in the Dark".

Bruce ist schon ein besonderer Musiker. Sich es gibt es viele, die extrem populär sind, aber mir fällt kein anderer lebender Künstler ein, der so viele Menschen aus so unterschiedlichen Gruppen für seine Musik begeistern kann, egal ob jung oder alt, arm oder reich, konservativ oder liberal (wobei letzteres wohl in erster Linie daran liegt, dass Konservative seine Texte so oft falsch verstehen). Justin Townes Earle hat einmal sinngemäß gesagt "wer Bruce Springsteen nicht mag, mag keine Musik", und ich denke, da liegt er nicht ganz falsch. Bruces Songs haben etwas in sich, dass alle Menschen begeistern kann, und das ist etwas ganz besonderes.

Freilich hat die Popularität auch ihre Schattenseiten: Bereits als ich in Hannover von der Autobahn fahren wollte, staute sich der Verkehr und es dauerte eine Stunde, erstmal von dort zum Stadion zu kommen, wo ich ebenfalls noch einmal eine ganze Zeit auf die Parkplatzsuche verwenden musste. Das war das erste Mal, dass ich bei einem Konzert in einem Stadion war. Dylan-Konzerte in Turnhallen mit 5000 Besuchern, klar, aber kein Stadion mit 40000 Gästen. Aber auch wenn es ziemlich voll war, ergatterte ich einen ganz passablen Stehplatz hinter dem Front-of-Stage-Bereich (nichtsdestotrotz war ich froh über die Leinwände).

Die E Street Band ließ sich eine halbe Stunde Zeit, aber als sie dann schließlich Bühne betrat, wandelte sich der Ungeduldsapplaus in lautstarken Jubel, vor allem als Bruce endlich auftauchte. Zum Auftakt spielten sie "Land of Hope and Dreams" vom letzten Album Wrecking Ball, das die Zuschauer gleich begeistert aufnahmen, jedoch nicht so sehr wie das darauffolgende "No Surrender", bei dem der Großteil miteinstimmte. Die Setlist war eine ziemlich ausgewogene Mischung aus alten und neuen Songs, wobei die meisten Lieder verständlicherweise von Wrecking Ball kamen. Auch wenn ich das für sein bestes Album seit Jahren halte, ging mir doch vor allem bei den älteren Sachen wie "The E Street Shuffle", "The River" und natürlich "Atlantic City" das Herz auf.

Ich wusste nur grob, wie Bruces Beziehung zum Publikum ist, sodass ich sehr erfreut war zu sehen, dass er tatsächlich so humorvoll und sympathisch ist, wie ich ihn mir vorgestellt habe. So nahm er zum Beispiel zwei Bier an, die er jeweils exte, obwohl es sich um halbe Liter handelte. Er erzählte auch wie kühl und nass es in München gewesen sei, nur um dann einen Mann zu spielen, der sich durch eine kalte, nasse Nacht in Asbury Park kämpft, auf die Suche nach einem weiteren Bier. Dazu sang er ein intensives "Can you feel the spirit?", das schließlich in "Spirit of the Night" mündete. Schließlich legte er sich vermeintlich betrunken an den Bühnenrand, woraufhin die Fans seine Haare streichelten. Natürlich ging er auch auf die Liedwünsche ein, die die Fans auf Schilder geschrieben hatten - eine alte Springsteen-Tradition. Ein Fan hatte geschrieben, dass er seinen rechten Hoden dafür geben würde, "Drift Away" zu hören, woraufhin der Boss antwortete: "I'm going to play "Drift Away" - but only if I don't have to see either your right or your left testicle!" Zudem spielte er "My Love Will Not Let You Down" nach Sign Request und "Roll of the Dice" - in einer wunderschönen Solo-Acoustic-Version, was ihm zufolge das erste Mal war. "We just did some really good ones, so if I fuck this one up it won’t be so bad!" - was er natürlich nicht tat. Auch holte er einige Leute auf die Bühne, darunter ein Kind, die mit ihm sangen, tanzten und Gitarre spielten.

Was mich aber am meisten beeindruckt hat war, wie sehr Bruce sich auf der Bühne verausgabt hat. Trotz seiner 63 Jahre gab er wirklich alles, sodass ich ganz froh war, als nach einer guten Stunde oder so eine etwas ruhigere Phase begann, damit er mal ein wenig durchschnaufen konnte. Sofern das überhaupt möglich ist, denn es gab während des gesamten Konzerts keine Pause, sogar die einzelnen Songs gingen beinahe nahtlos ineinander über. Die ruhige Phase hielt jedoch nicht besonders lange an, und danach gab Bruce noch mehr als zuvor. Das gleiche kann man übrigens auch von der E Street Band sagen, die nicht nur über eine sagenhafte Kondition verfügt (allen voran Drummer Max Weinberg), sondern, natürlich, auch über herausragende musikalische Fähigkeiten, egal ob Gitarrist (darunter natürlich Steven Van Zandt), Bläser, Backgroundsänger oder Percussionist. Einer der Höhepunkte war für mich, als Bruce bemerkte, dass die Leute auf den Rängen saßen: "In 30 Sekunden werden ihr nicht mehr sitzen, denn dann wird euer Arsch ein Signal an euer Gehirn senden: 'Schüttel mich!'", woraufhin die Band eine fast zehnminütige Killer-Boogie-Woogie-Version von "Open All Night" (siehe oben) spielte, einige superbe Bläsersoli mitinbegriffen. Wow wow wow.

Nach etwa zweieinhalb Stunden und weiteren Krachern wie "Waitin' on a Sunny Day", "Radio Nowhere" und "Badlands" verließ die Band kurz die Bühne, um dann für die Zugabe zurückzukehren - wo es erst richtig los ging. Bruce spielte "Born in the U.S.A", was an sich schon ein super Abschluss gewesen wäre, doch dann folgte auch noch "Born to Run". Und "Seven Nights to Rock". Und "Dancing in the Dark". Und "Tenth Avenue Freeze Out" (mit Tribut an die verstorbenen Bandmitglieder Clarence Clemons und Danny Federici, was ich eine sehr schöne Geste fand). "Der hört gar nicht mehr auf", meinte ein Mann neben mir, während ich zwischen Fassunglosigkeit und Freudentränen schwankte. Die Leute tanzten, und sangen, und lachten, und jubelten und applaudierten bis die Hände wund waren. Und dann spielten sie "American Land", bevor Bruce Springsteen und die E Street Band nach drei Stunden und 20 Minuten schließlich endgültig von der Bühne gingen.

Ich schaute mich um. Die anderen Gäste reagierten ähnlich wie ich, sie schüttelten den Kopf und sagten immer wieder "Das gibt's nicht. Das gibt's doch gar nicht", angesichts der Großartigkeit dieses Konzerts. Nicht nur war es musikalisch einfach perfekt, es war auch eine verdammt gute Party. Ich hatte anfangs Bedenken, ob mein Rücken das lange Stehen mitmachen würde, aber ich hatte überhaupt keine Probleme, einfach weil ich wie alle fast die ganze Zeit getanzt habe. Völlig benommen von der Glückseligkeit, die mich übermannte, taumelte ich mit den anderen Gästen hinaus in die Nacht. "Das war jeden Cent wert" hörte ich die Leute sagen und "nächste Woche gehe ich zu Neil Young, der muss sich ganz schön anstrengen um da mitzuhalten" und sie hatten recht. Ich war ja schon auf einige Konzerten, aber dies gehört definitiv zu den besten, vielleicht ist es sogar das Beste, auf dem ich jemals war (neben Sufjan Stevens im Sydney Opera House).

Der Rückweg war noch schlimmer: Es dauerte eine Stunde, vom Parkplatz zu kommen, und von dort noch einmal zweieinhalb Stunden bis nach Hause, aber das war es wert. Bei so einer Leistung war auch der Preis von knapp 82 Euro mehr als gerechtfertigt und ich konnte meinen Eltern ruhigen Gewissens berichten, dass das Ticket das beste Weihnachtsgeschenk aller Zeiten war.

Die komplette 30(!)-Song-Setlist gibt es hier, und ein Audiomitschnitt des Konzerts ist hier zu finden.

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