Books I've Read: W.G. Sebald - Austerlitz




Wie ich dazu gekommen bin, W.G. Sebalds Roman Austerlitz zu lesen, das passt gut zum großen Thema des Buches: Erinnerung. Als ich den Vorschlag bekam, ließen sowohl der Name des Autors als auch der Titel des Buches es bei mir klingeln. Nachdem ich eine Weile mein Gehirn zermartert hatte, fiel es mir schließlich ein: Ich hatte einen Ausschnitt des Buches schon einmal in einer Anthologie gelesen, und zwar in Grahame Davies The Chosen People: Wales and the Jews. Das jüdische Leben in Wales war eine Zeit lang ein persönliches Rechercheprojekt von mir gewesen, sodass ich natürlich Feuer und Flamme für den Vorschlag war und mich umgehend daran machte, Austerlitz zu lesen. Das Klingeln, bzw. das Aufkommen einer vagen Erinnerung, ist übrigens eine Erfahrung, die ich während des Lesens immer wieder machte.

Hauptfigur des Buches ist Jacques Austerlitz, dem der namenlose Ich-Erzähler über einen Zeitraum von 30 Jahren immer wieder an verschiedenen Orten in Europa über den Weg läuft. Austerlitz wächst bei einem Prediger und seiner Frau in Nordwales auf und erfährt erst als Jugendlicher, dass sein richtiger Name nicht Dafydd Elias, sondern Jacques Austerlitz ist und dass er Ende der 30er Jahre per Kindertransport nach Großbritannien gelangt ist. Erst als Erwachsener macht sich der Architekurhistoriker auf die Suche nach seiner Familie und erfährt, dass er der Sohn Prager Juden ist, die von den Nazis ermordet wurden.

Austerlitz beinhaltet viele Elemente, die typisch sind für Moderne und Postmoderne, so gibt es zum Beispiel nur sehr wenige Abschnitte; das Buch ist quasi ein einziger Sprachfluss mit Sätzen, die sich mitunter über mehrere Seiten erstrecken (aber glücklicherweise nicht ohne Interpunktion sind). Außerdem wird der eigentliche Plot immer wieder durch Exkursionen unterbrochen bzw. ergänzt. Das soll jetzt nicht heißen, dass Austerlitz langweilig wäre, im Gegenteil: das Buch ist umwerfend schön geschrieben, geradezu poetisch. Besonders interessant ist auch die Verwendung von Fotos; ein Stilmittel, das später auch von Jonathan Safran Foer genutzt wurde.

Ich finde es ziemlichs schwierig, Austerlitz auf herkömmliche Weise zu besprechen, da es kaum ein Buch gibt, dass mich emotional so berührt hat wie dieses. Viele der Orte, die in Austerlitzs Leben eine zentrale Rolle spielen, sind auch für mich sehr wichtig: Wales, London, Prag. Wales ist vielleicht ein liebstes Land überhaupt; ich war zweimal da und würde jederzeit wieder hinfahren. Als ich das erste Mal ohne meine Eltern wegegefahren bin, mit 10, war ich in London (und mit 18 noch einmal). Und von der neunten bis zur zwölften Klasse war ich in den Herbstferien immer mindestens 10 Tage in Tschechien. Aber es ist noch mehr als das: Ich bin furchtbar vergesslich. Der allergrößte Teil meiner Erinnerung ist irgendwie "verschütt gegangen", aber als ich Austerlitz gelesen habe, da sind manchen Dinge wieder "aufgetaucht". Nichts weltbewegendes, nur Kleinigkeiten wie der Geruch der überhitzten tschechische Busse und wie müde er einen macht, oder der Nieselregen von Nordwales, der in der Luft festzuhängen scheint. Manchmal waren es auch nur einige Wörter, von denen ich gar nicht mehr wusste, dass ich sie verstehe, wie "afon" (walisisch für Fluss) oder "nádraží" (tschechisch für Bahnhof). Manchmal kommt es mir so vor, als wären meine Erinnerungen in Schubladen weggesperrt und diese Stellen in Austerlitz seien Schlüssel, mit denen ich sie hervorholen kann. Das ist in gewisserweise tröstlich, denn es bedeutet, dass zumindest ein Teil der Erinnerungen nicht verloren ist, sondern dass ich sie nur nicht bewusst abrufen kann.

So konnte ich Jacques Austerlitz beim Lesen sehr gut verstehen, denn im Grunde versucht er auch nichts weiteres, als Schlüssel zu finden, mit denen er sein Erinnerungsvermögen zurückholen kann. Freilich funktioniert das nicht immer so. Auf walisisch gibt es ein Wort, dass meiner Meinung nach sehr gut die Stimmung des Buches zusammenfast: hiraeth. Im engeren Sinne bezeichnet es die Sehnsucht nach Wales, aber weiter gefasst auch "a homesickness for a home to which you cannot return, a home which maybe never was; the nostalgia, the yearning, the grief for the lost places of your past" (um other-wordly zu zitieren). Der ganze Roman wird von einer Trauer durchzogen - Trauer um die verlorenen Orte der Kindheit, aber vor allem Trauer um die verlorenen Erinnerungen, denn sie bedeuten, dass man nicht einmal in Gedanken zurückkehren kann.

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