TV Night: Making a Murderer



Die Serie, über die in diesem noch jungen Jahr bisher wohl am meisten gesprochen wurde, ist die Netflix-Dokumentation Making a Murderer. Überraschend ist das nicht, handelt die Serie doch von einem schier unfassbaren Kriminalfall. Steven Avery aus Manitowoc County, Wisconsin wird 1985 angeklagt, eine Frau vergewaltigt zu haben. 18 Jahre lang sitzt er im Gefängnis, bis ein DNA-Test seine Unschuld beweist. Doch damit ist Averys Geschichte keineswegs zu Ende, im Gegenteil: Zwei Jahre nach seiner Entlassung, und kurz nachdem er eine Millionen-Klage gegen die Polizisten von damals eingereicht hat, wird er beschuldigt, die 25-jährige Fotografin Teresa Halbach ermordet zu haben. Mit ihm wird sein 16-jähriger Neffe Brendan Dassey angeklagt, der Steven bei der Tat unterstützt haben soll.

Steven Averys Familie betreibt eine große Autoverwertung. In der Gemeinde sind sie nicht sonderlich angesehen, da sie recht ungepflegt auftreten, über ein geringes Bildungsniveau verfügen und sich nicht öffentlich engagieren. Avery ist bereits vor der Vergewaltigungsanklage mehrmals strafrechtlich in Erscheinung getreten: Er ist in eine Bar eingebrochen, er hat eine Katze angezündet und er soll seine Cousine mit einer Schusswaffe bedroht und sich vor ihr entblößt haben. Diese Cousine ist mit einem Sheriff verheiratet und es deutet einiges daraufhin, dass dies der Grund ist, warum sich die Behörden nach der Vergewaltigung von Penny Beerntsen - im Gegensatz zu Avery eine angesehene Bürgerin - so auf ihn als Täter versteifen, obwohl es Hinweise darauf gibt, dass ein mehrfach verurteilter Sexualstraftäter für die Tat verantwortlich ist.

Die beiden Filmemacherinnen Laura Ricciardi und Moira Demos begannen ihre Dokumentation im Jahr 2005, kurz nach Averys Freilassung. Über zehn Jahre begleiteten sie die Familie und hielten fest, wie die Anklage sie belastet und letztendlich ihr Leben zerstört. Gleichzeitig binden sie umfangreiches Film- und Audiomaterial in ihre Dokumentation ein und zeigen auf, wie fragwürdig die Polizei und die Staatsanwaltschaft in dem Fall agiert haben. Wie kann es sein, dass Polizisten, die Avery verklagt, an der Untersuchung beteiligt sind und nach Monaten wichtige Beweismittel finden, die bei all den Durchsuchungen zuvor nicht entdeckt wurden? Wie kann es sein, dass am angeblichen Tatort kein bisschen Blut gefunden wurde? Dafür aber Averys Blut im Auto des Opfers, obwohl Halbach in unmittelbarer Nähe des angeblichen Tatorts verbrannt wurde? Wie kann es sein, dass eine Kanüle mit Averys Blut aus dem Jahr 1985 eine Einstichstelle aufweist? Averys hervorragende Verteidiger Dean Strang und Jerry Buting versuchen nachzuweisen, dass die Polizei Beweise manipuliert hat, doch es wirkt wie ein Kampf gegen Windmühlen.

So schockierend das alles auch ist, es ist noch vergleichsweise harmlos im Vergleich zu dem, was die Behörden mit Averys Neffen Brendan Dassey anstellen. Der lernbehinderte 16-Jährige wird von der Polizei vernommen, erkennt aber ganz offensichtlich nicht die Tragweite der Situation. Die Polizisten nutzen Dasseys Einfalt schamlos aus bringen ihn dazu, seinen Onkel des Mordes zu beschuldigen und sich selbst der Mithilfe zu bezichtigen. Obwohl Brendan danach immer wieder beteuert, nichts mit dem Mord zu tun zu haben, glaubt ihm keiner. Selbst sein Verteidiger (!) ist felsenfest von seiner Schuld überzeugt und arrangiert sogar ein weiteres Verhör mit der Polizei ohne sein Beisein (wofür er später immerhin entlassen wird).

Ich weiß nicht, ob Steven Avery Teresa Halbach ermordert hat. Es ist schwer vorstellbar, dass jemand, der 18 Jahre unschuldig im Gefängnis saß, so ein Verbrechen begeht, aber wer weiß schon, was so eine lange Haft mit einem Menschen anstellt. Außerdem hat Avery sich schon vorher gewalttätig gegenüber Frauen gezeigt. Es ist möglich, dass er Teresa Halbach getötet hat. Aber steht es zweifelsfrei - und so sollte es ja sein - fest? Meiner Meinung nach nicht. Ich bin überdies felsenfest davon überzeugt, dass Brendan Dassey unschuldig ist. Die Frage nach Schuld oder Unschuld ist jedoch in der Dokumentation von untergeordneter Bedeutung. Viel mehr versucht Making a Murderer zu zeigen - und das wirklich gelungen - wie ein Staat hier zahlreiche rechtsstaatliche Prinzipien mit Füßen tritt. Es spricht Bände, wenn Staatsanwalt Ken Kratz sagt: "Reasonable doubts are for innocent people."

Inzwischen war ich ja bei dutzenden Strafverhandlungen dabei und kann sagen, dass ich heilfroh bin, dass sich unser Rechtssystem von dem amerikanischen unterscheidet. Es gibt so einige Dinge in Making a Murderer, die mir echt den Atem verschlagen haben. Dass Avery bereits für seine erste Tat ins Gefängnis geht, dass ein Angeklagter vor Gericht die Wahrheit sagen muss (und auch noch vereidigt wird!), dass ein Jugendlicher zu lebenslanger Haft verurteilt wird und erst nach 40 Jahren die Chance auf eine vorzeitige Entlassung hat, dass es anscheinend keine Berufungsmöglichkeit gibt, sondern nur ein "post-conviction hearing", das vom selben (!) Richter durchgeführt wird. Das alles ist in Deutschland glücklicherweise unvorstellbar. Was nicht heißen soll, dass ich unser Rechtssystem für perfekt erachte.

Seit der Erscheinung hat Making a Murderer viel Kritik einstecken müssen. Einige haben der Serie vorgeworfen, Hinweise auf Averys Schuld ausgelassen zu haben. Andere warfen ihr vor, nicht alle Hinweise auf Averys Unschuld angesprochen zu haben. Ich sehe das nicht so eng, schließlich ist es selbst in einer zehnstündigen Doku nicht möglich jedes Detail zu erwähnen. Sicher sollte man Making a Murderer, die sich nun mal auf die Averys konzentriert, kritisch sehen. Meiner Meinung hat die Dokumentation aber eindrucksvoll gezeigt, dass Recht und Gerechtigkeit manchmal meilenweit auseinander liegen. Die Opfer sind zwei Familien, deren Leben irreparabel geschädigt sind.

Fazit: Eine wichtige, wenngleich schwer zu ertragende Dokumentation über ein unglaubliches Justizversagen.


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