North by Northeast: And the Sky Roared Like a Lion

Mein Arbeitsplan ist diese Woche mal wieder völlig Banane, aber dafür kann ich hier endlich weiterschreiben. Habe ich echt geglaubt, dass ich das vor Den Haag fertig bekommen? Hmpf, vorm nächsten Sommerurlaub vielleicht. Wie auch immer, an meinem dritten Tag in Lettland habe ich mich auf den Weg nach Jurmala gemacht. Dabei handelt es sich um eine Ansammlung kleiner Ortsteile, die sich über einen 30 Kilometer langen Sandstrand erstrecken. Da fällt es nicht schwer sich vorzustellen, warum sämtlich Quellen diesen Ort empfehlen und er überdies jeden Sommer von russischen Touristen überrannt wird.

Ich machte mich morgens auf den Weg zum Bahnhof, der wie gesagt nur etwa 10 Minuten vom Hostel entfernt lag. An einem der vielen Schalter kaufte ich ein Ticket nach Majori, dem touristischen Zentrum von Jurmala, was mich sage und schreibe 1,40 Euro kostete. Etwas gewöhnungsbedürftig war, dass in Lettland sowohl Gleise als auch Bahnsteige nummeriert sind, d.h. an Steig 1 liegen Gleise 1 und 2, an Steig 2 Gleise 3 und 4 etc., da musst man schon etwas genauer hinsehen. Ansonsten war alles so einfach wie es nur sein konnte. Nachdem wir die wenig schönen Randbezirken von Riga passiert hatten, tuckerte der Zug ins Hinterland und erreicht nach etwa einer halben Stunde Majori.

Dort ging ich zunächst einmal zur Touristeninfo, da ich keine Lust hatte, den ganzen Tag am Strand zu liegen. Im Meer wäre ich schon geschwommen, aber alleine ist das schwierig, man will ja seine Wertsachen nicht unbeaufsichtigt lassen. Außerdem hatte ich es im Vorfeld nicht hinbekommen, mir endlich mal einen Bikini zu kaufen. Also kein Strand. Stattdessen wollte ich nach Kemeri, einem ehemaligen Kurort. Ich fragte nach einer Karte, was die Angestellten ziemlich verdutzte, da anscheinend nur selten jemand dorthin will. Sie gaben mir eine Übersichtskarte der Region, wobei ich dann feststellte, dass Kemeri doch ein ganzes Stück weiter weg ist, als ich zunächst gedacht hatte, nämlich etwa gut 20 Kilometer. Sicher hätte man das auch laufen und dann mit dem Zug zurück fahren können, da ich jedoch keine Lust hatte, am Strand entlang zu gehen, beschloss ich mir ein Fahrrad zu leihen.

Das Prozedere war ganz interessant, denn der Verleih der Räder läuft per App. Die App stammt sogar aus Deutschland, was ich ganz amüsant finde angesichts der Tatsache, dass freies Wlan ja vielen Orts immer noch ein Fremdwort ist. Nicht so im Baltikum: Dort gab es selbstverständlich Internetzugang (wartet, bis ich nach Estland komme!). Mithilfe meiner Kreidtkarte konnte ich eine Summe aufladen, woraufhin ich dann einen Code für das Fahrradschloss bekam und los ging's. Na ja, mehr oder weniger. Ich wollte nämlich am Strand entlangradeln, was laut Karte auch durchaus möglich war. Nachdem ich dort angekommen war, musste ich jedoch feststellen, dass ich mit meinem Rad kaum durch den Sand kam. Der Strand war aber ganz hübsch, vor allem das alte blaue Teehaus. Umso erstaunlicher fand ich es, dass hinter dem Strand ein völlig ausgehölter Betonbunker aus Sowjetzeiten stand, der dort vor sich hingammelte, ohne dass es jemanden zu interessieren schien.


Das mit dem Sand hätte ich mir eigentlich auch denken können, aber wo es doch auf der Karte steht... Außerdem habe ich schon Menschen getroffen, die die Ostsee mit dem Rad abgefahren haben. So aber fuhr ich erst einmal durch Majori, was aber auch keinen Spaß machte. In Lettland gibt es nur wenige Radwege, die nicht selten nach 50 Metern abrupt enden. Für gewöhnlich fährt man auf dem Bürgersteig. Da das teilweise jedoch ziemlich eng war, wich ich in den Wald aus, wo ich jedoch auch nicht wirklich vorwärts kam. Zudem hatte ich auch etwas Bedenken wegen Zecken, die ja im Baltikum recht weit vebreitet sind. Nach meinen Erfahrung aus dem Vorjahr, wo sich fünf Zecken gleichzeitig in meinem Körper verbissen hatten, hatte ich da wirklich keine Lust drauf.


Ich war gerade dabei, völlig entnervt umzudrehen, als ich plötzlich eine Person sah, die tatsächlich am Strand entlang radelte. Auf einem ganz normalen Fahrrad. Hah! Es musste also doch möglich sein. Also kämpfte ich mich mit dem Rad bis ans Wasser. Dort war der Sand tatsächlich so plattgetrampelt, dass man auf ihm fahren konnte. Im Nachhinein kam ich mir echt dumm vor, dass ich das nicht gleich bemerkt hatte, aber wann bin ich schon einmal am Strand geradelt? Noch nie.

Nach diesem Intermezzo ging es dann endlich richtig los. Dabei zeigte sich schnell, dass das Fahrrad die richtige Wahl gewesen war angesichts von Temperaturen von deutlich über 30 Grad. Ich hätte mir nur einen Hut gewünscht, da die Sonne wirklich vom Himmel knallte. Ich hätte nicht gedacht, dass die Sonneneinstrahlung im Baltikum so intensiv ist. Ich band mir mein Halstuch um den Kopf, was immerhin ein bisschen half. Am Strand war relativ viel los, was aber nicht auffällt, da er einfach so irre lang ist, dass sich die Massen gut verteilen. Was mir sehr gut gefallen hat ist, dass hinter dem Sand ein Waldstreifen liegt mit den Hotels und Resort, sodass der Strand selbst relativ unberührt wirkt. Es war schon stark, vorne und hinter sich Sand zu haben soweit das Auge reicht.


Ich weiß nicht, wie lange ich dort entlanggeradelt bin, anderthalb Stunden vielleicht. Hinter Kaugurciems wurde es plötzlich schwer, sich fortzubewegen. Da sich hinter dem Strand kein Ort befindet, liegen kaum Menschen an diesem Abschnitt, sodass der Sand auch nicht festgetreten ist. Kurz vor Jaunkemeri wurde es mir dann zu bunt und ich verließ den Strand. Ich musste eh bald links abbiegen, um nach Kemeri zu kommen. Direkt hinter dem Strand stand ein Junge, der Getränke verkaufte, wobei deren Namen ausschließlich auf Russisch aufgelistet waren. Dort im Wald befand sich auch ein weiterer Betonbunker, der jedoch noch relativ gut in Schuss war und wohl in erster Linie von russischen Touristen genutzt wird. Es hat einen Moment gedauert, dort wieder herauszukommen, da die Anlage eingezäunt war, aber nachdem ich eine Weile gesucht hatte fand ich schließlich den Ausgang. 

Danach radelte ich die Hauptstraße entlang und bog links Richtung Kemeri ab. Das Gebiet dort ist sehr sumpfig, sodass ich prompt von einer Bremse gestochen wurde als ich kurz anhielt um etwas zu trinken. Überhaupt waren diese Viecher so dermaßen nervig, dass sie während der Fahrt versuchten, sich auf mir niederzulassen, sodass ich ganz schön in die Pedale treten musste, um ihnen zu entkommen.


Ehrlich gesagt war ich zudem Zeitpunkt schon relativ gelangweilt, zumal die Strecke länger war als gedacht, sodass ich am liebsten mit dem Zug zurückgefahren wäre. Die lettischen Züge (zumindest die, die ich gesehen habe) sind allerdings recht alt und mit einem sehr hohen, nicht einmal ansatzweise barrierefreiem Einstieg, sodass ich das Fahrrad dort niemals hineinbekommen hätte. Ich radelte trotzdem durch den Ort bis zum Bahnhof, da ich hoffte, dort mein Rad abgeben zu können, aber es handelte sich bei der Ausleihe um einen privaten Vermieter. Großartig. Ich hatte keine Bedenken, dass ich zurück nach Majori fahren konnte, rein körperlich gesehen, ich hatte nur keine Lust, noch einmal dieselbe Strecke zu fahren. Was mir jedoch wirklich Sorgen machte, war die schwarze Wolkenfront, die am Himmel aufzog. In den letzten Tagen war das Wetter immer so blendend und heiß gewesen, dass ich an Regen überhaupt nicht gedacht hatte und keine Regenkleidung dabei hatte (oder irgendetwas anderes außer T-Shirt und Shorts).

Ich radelte also zurück nach Kemeri, hatte jedoch keine große Lust mehr auf Sightseeing. Im Nachhinein ist das etwas schade, denn während Kemeri in den 1920er Jahren einer der beliebtesten Kurorte der Region gewesen war, wirkt er heute eher wie einer Geisterstadt, in der die ehemaligen Bauten langsam vor sich hinrotten. Das alles war jedoch von einer morbiden Schönheit, die ich durchaus anziehend fand. Höhepunkt war das ehemalige Sanatorium mit seinem Kurpark und den rostigen kleinen Eisenbrücken. Das Gebäude soll eigentlich renoviert werden, es fehlt jedoch an Geld. Eigentlich schade, es wäre sicher interessant, daraus ein Museum zu machen. Übrigens war ich nicht die einzige, die den Ort ganz nett fand. Direkt neben dem Sanatorium war nämlich eine Hochzeitsgesellschaft, die unter einem alten Pavillion feierte.








Im Anschluss machte ich noch einen kleinen Abstecher zu einem Forsthaus, in dem sich heute die Touristeninfo befindet. Es war jedoch nicht sehr speziell, und da die schwarzen Wolken immer näher rückten, machte ich bald wieder auf den Weg.





In der Realität sah das Ganze noch bedrohlicher aus, und kaum dass ich rechts auf die Hauptstraße abbog, fing es auch schon an zu nieseln. Ich radelte daher nicht am Strand, sondern an der Hauptstraße entlang, um möglichst schnell zurück zu kommen. Am Ende von Kauguri jedoch brach plötzlich die Hölle los: Es blitze und donnerte und begann, aus Kübeln zu schütten. Da sonst nichts in der Nähe war, suchte ich unter einer Bushaltestellt Schutz, die ironischerweise den Namen "Nemo" trug.

Normalerweise habe ich keine Angst vor Gewittern, den Naturgewalten so ausgeliefert zu sein, war jedoch etwas anderes. Die Gewitterzelle schien geradezu über mir festzusitzen: Es blitze unaufhörlich, gepaart mit einem Donner, der so laut war, dass der Straßenverkehr völlig unterging. Und es regnete. Nein, es schüttete, es schüttete als ob die nächste Sintflut vor der Tür stünde. Ich hoffte die ganze Zeit, dass es besser werden würde, aber das Wetter machte keine Anstalten. Nach dem ich eine Stunde ausgeharrt hatte, begannen plötzlich Äste auf das Dach der Haltestelle zu stürzen. Ein Mann, der die ganze Zeit neben mir gestanden hatte, bestieg daraufhin den Bus, obwohl er kein Geld hatte (das schloss ich zumindest aus seinen Gesten). Am liebsten hätte ich auch den Bus gekommen, aber mit dem Rad... Da das Wetter nicht besser wurde und ich auch keine große Lust hatte, von einer lettischen Bushaltestelle erschlagen zu werden, machte ich mich schließlich auf den Weg zurück nach Majori.

Bis dorthin waren es immer noch zehn Kilometer, die mir jedoch wie tausend vorkamen. Das große Problem, neben dem Gewitter, waren die Straßen. Da sie mit Schlaglöchern übersät waren, kam ich langsamer voran als ich wollte, ganz abgsehen davon, dass es sehr schmerzhaft war, alle fünf Meter durch ein Schlagloch zu fahren (die auch so zahlreich waren, dass man ihnen nicht ausweichen konnte). Teilweise musste ich auch etwa 30 cm tiefe Pfützen durchfahren. Dabei wunderte ich mich immer über die Autofahrer. Trotz Geschwindigkeitsbegrenzung (80 glaube ich), Überholverbots und einer Sichtweite von unter 20 Metern hatten sie keinerlei Probleme, auf der zweispurigen Straße zu überholen. Kein Wunder, dass Lettland nach Litauen das europäische Land mit den meisten tödlichen Autounfällen ist.

Um viertel nach fünf, also fast sieben Stunden nach meiner Ankuft aus Riga, kam ich endlich in Majori an. Ich schloss so schnell es ging mein Fahrrad ab und stellte mich unter den Eingang der mittlerweile geschlossen Touriinfo, um mein Rad per App zurückzugeben, was ganz gut funktionierte. Ich zahlte den Tageshöchstsatz von neun Euro, was auch sehr akzeptabel war. Danach lief ich schnell zum Bahnhof. Needless to say, dass ich nass bis auf die Unterhose war. Die Temperatur war auf unter 20 Grad abgestürzt, sodass mir zudem noch bitterkalt war. Ich wünschte, ich wäre etwas intelligenter gewesen und hätte ein Handtuch eingepackt, aber nun ja. Um kurz vor sechs kam endlich der sehnsüchtig erwartete Zug nach Riga. Obwohl es brechend voll war, bekam ich noch einen Sitzplatz. Ich rückte ganz ans Ende der Bank, da ich förmlich triefte und nicht wollte, dass die Dame neben mir auch nass wird.

Wieder in Riga angekommen, lief ich so schnell ich konnte zurück zum Hostel. Glücklicherweise war das Bad frei, sodass ich gleich duschen konnte. Und seid versichert, das war eine der schönsten Duschen meines ganzen Lebens. Unter dem heißen Wasser taute ich langsam wieder auf und auch die Schmerzen in meinen Armen und Händen (vom Festkrallen der Lenker) und meinem Unterkörper ließen langsam nach.

Ich hatte keine große Lust zu kochen also aß ich meine restlichen Pfannkuchen mit Tomaten und Porridge zum Nachtisch, bevor ich mich ins Bett legte und "Trauer und Hoffnung" von Noa Ben Artzi-Pelossof las. Noa ist die Enkelin von Jitzchak Rabin, die mit gerade mal 19 Jahren, kurz nach der Ermordung ihres Großvaters, ein Buch über das Attentat schrieb. Ich fand es unglaublich interessant, mehr über Rabin zu erfahren. Es war jedoch eine ziemlich traurige Lektüre, da man in den Neunzigerjahren mit dem Friedensprozess schon viel weiter war, während die Hardliner von heute sich eher rückwärts bewegen. Ganz spannend fand ich, dass Rabin einmal während einer Rede von Netanjahu die Knesset verlassen hat, weil er dessen Gelaber nicht ertragen hat. Das spricht natürlich Bände.

So nahm der Tag doch noch ein gemütliches Ende. Im Nachhinein war ich schon froh, nach Jurmala gefahren zu sein, denn der erste Teil des Tages war wirklich schön. Nur schade, dass das Wetter so schlecht war und ich nicht mehr Zeit und Energie für Kemeri hatte.

Das nächste Mal geht es dann in noch abgelegenere und vergessenere Gebiete.

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