Records of the Week: St. Vincent/English Oceans

St. Vincent - St. Vincent

 

Eigentlich sollte mir dieses Album nicht gefallen: Erstens hege ich eine Abneigung gegen selbstbetitelte Scheiben und zweitens bin ich nun nicht gerade der weltgrößte Synthie-Fan, um es mal vorsichtig ausdrücken. Doch ich war ein großer Fan von Love This Giant, St. Vincents Kollaboration mit David Byrne, und da sich die Kritiker mit Lob über St. Vincent fast überschlagen habe, habe ich es mir trotz aller Bedenken angehört.

Auf ihrem vierten Album hat Annie Clark ihr Alter Ego auf das nächste Level gehoben. Die neue St. Vincent sieht aus wie eine Kreuzung aus Königin und verrücktem Wissenschaftler: Majestätisch sitzt sie auf ihrem Thron, wilde graue Locken wuchern auf ihrem Kopf wie eine Krone. Ähnlich hochfliegend wie ihre Frisur waren auch Clarks Plane für das neue Album: Es solle eine Party-Platte werden, die man auch auf Beerdigungen spielen kann. Kann das alles gut gehen?

Es kann. Zwar fühlt man sich im ersten Moment völlig erschlagen von den vielen Elektrosounds, der verzerrten Gitarre und Clarks gehetztem Gesang, doch schon "Rattlesnake" verfügt über eine Anziehungskraft, der man sich einfach nicht entziehen kann. Denn auch wenn die meisten Songs völlig überladen sind, können sie doch eins nicht verbergen: Dass St. Vincent einfach unfassbar gute Melodien hat. Die Paradebeispiele sind hier "Birth in Reverse" und "Digital Witness", die trotz aller Soundspielereien tatsächlich sehr tanzbar sind. Über die Beerdigungstauglichkeit kann man sich zwar streiten, aber auch die ruhigeren Songs entfalten ihren Charme: "I prefer your love to Jesus" singt Clark zu sanften Synthesizerklängen, doch der Höhepunkt ist das epische "Severed Crossed Fingers" am Schluss, in dem sich der Chorgesang über ein leicht schräges Thema in Dauerschleife erhebt.

St. Vincent schießt sofort in die Beine; der Kopf braucht da etwas länger. Doch wer bereit ist sich auf den Wust aus dröhnenden Gitarren, verspielten Beats, futuristischen Elektrosounds und Clarks verführerischem Gesang einzulassen, der wird reich belohnt - und bald zu der Einsicht gelangen, dass es sich bei St. Vincent um ein Meisterwerk handelt, das das Unmögliche möglich macht.



Drive-by Truckers - English Oceans

 

Ganz anders als St. Vincent ist das neue Album der Drive-by Truckers. English Oceans wurde von mir sehnsüchtigst erwartet, schließlich ist ihr letztes Werk 2011 erschienen und drei Jahre ohne neue Truckers-Platte sind schon eine ungewöhnlich lange und harte Zeit, auch wenn Patterson Hood zwischendurch ein erstklassiges Soloalbum veröffentlich hat. Zumal sich DBT nach dem durchwachsenen Brighter than Creation's Dark (2008) mit dem Doppelwerk The Big To-Do/Go-Go Boots wieder auf einem gutem Weg befanden - so schien es zumindest. Kurz nach der Veröffentlichung von Go-Go Boots stieg nämlich die langjährige Bassistin Shonna Tucker aus und im letzten Jahr verließ dann noch Gitarrist #3 John Neff überraschend die Band. Zudem wurde der zweite Kopf der Band, Mike Cooley, von einer ausdehnten Schreibblockade geplagt.

DBT mussten also diverse Turbulenzen in den letzten drei Jahren verkraften, die sich aber glücklicherweise nicht auf die Qualität von English Oceans niedergeschlagen haben. Cooley hat seine Kreativität wiedergefunden und ist mit fast ebenso vielen Kompositionen wie Hood vertreten, die Truckers fanden mit Matt Patton Ersatz für Tucker und statt Neff rückt Keyboarder/Gitarrist Jay Gonzalez etwas mehr in den Vordergrund. Ansonsten machen DBT das, was sie am besten können: Sie paaren guten alten Rock mit Geschichten von Menschen, die nicht gerade auf der Sonnenseite des Lebens stehen.

Und wie sie das tun: "They ran off the great embankment/They flew through the air so far/They landed with a mighty crash/then got crushed by the falling star" schreibt Hood in "Til He's Dead or Rises", gesungen von Cooley. Hier ist kein Platz für Romantik. Einsamkeit, Armut, Wahnsinn - das sind die Themen der Truckers, wie in "When Walters Went Crazy", in dem der Protagonist sein Haus mitsamt seiner Frau anzündet. Musikalisch untermalt werden die Geschichten von der DBT-typischen Mischung aus Rock und Country mit den dominanten E-Gitarren und den mal dezenten, mal groovigen Keyboardsounds. Ausnahme ist die sanfte Akustikballade "First Air of Autumn" und auch "When Walter Went Crazy", in dem das Klavier die Hauptrolle übernimmt.

Das stärkste Stück haben sich DBT für den Schluss aufgehoben: "Grand Canyon" ist eine monumentale Hommage an Musiker Craig Lieske, der die Truckers oft begleitet hat und letztes Jahr völlig überraschend im Alter von 48 Jahren an einem Herzinfarkt starb. Darin erinnert sich Hood, wie er mit Lieske den Grand Canyon besucht hat und fragt sich, "how a life so sturdy could just one day cease to be". Das ist traurig und schön und bewegend - und der erste Song seit Ewigkeiten, der mich tatsächlich zu Tränen gerührt hat.

Klar, musikalisch betrachtet sind die Drive-by Truckers vielleicht nicht die innovativste Band der Welt, doch das was sie machen, machen sie einfach verdammt gut. Sie verpacken großartige Geschichten in mitreißende Rocksongs, von denen nicht wenige mir sehr viel bedeuten. Und mit English Oceans sind noch ein paar neue dazugekommen.


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