Books I've Read: Peter Carey - Oscar and Lucinda

 

Ich habe das Buch schon einmal gelesen. Mehrmals sogar. Genau genommen ist es eines meiner absoluten Lieblingsbücher. Neulich überkam mich der Wunsch, oder besser gesagt ein quälendes Verlangen, Oscar and Lucinda noch einmal zu lesen. Ein ähnlich quälendes Verlangen wie an dem Frühlingstag im November 2010, als ich in dem kleinen Antiquariat in Melbournes Flinders Street dieses Buch sah und es sofort kaufte, obwohl ich nicht wusste, worum es ging und obwohl ich nach einem schrecklichen Literaturseminar an der Uni mit Peter Carey schon fast für immer abgeschlossen hatte. So lernte ich Oscar und Lucinda kennen und danach war nichts, wie es vorher war.

Dass Oscar and Lucinda mir so im Gedächtnis geblieben ist, liegt auch daran, dass die beiden Hauptfiguren zu den schrägsten gehören, die mir in der Literatur je begegnet sind. Oscar Hopkins ist ein schüchterner, schmaler junger Mann mit blasser Haut und feuerrotem Haar, der Mitte des 19. Jahrhunderts mit seinem Vater an der Küste Devons lebt und eine panische Angst vor Gewässern hat. Oscars Vater ist Prediger der Plymouth Brethren, einer evangelikalen christlichen Sekte. Oscar teilt den Glauben seines Vaters, bis er von den Hausmädchen einen Weihnachtspudding serviert bekommt. Bevor Oscar den süßen Geschmack wirklich genießen kann, kommt sein Vater und zwingt ihn, den Pudding zu erbrechen, da er ihn für die Frucht Satans hält. Oscar beginnt daraufhin, am Glauben seines Vaters zu Zweifeln und wird schließlich ein anglikanischer Priester. Am anderen Ende der Welt, in Parramatta in New South Wales, wächst Lucinda Leplastrier auf einer Farm auf. Mit 17 ist sie Vollwaise, verfügt aber nach dem Verkauf der Farm über eine stattliche Summe, mit der sie in Sydney eine Glasfabrik kauft. Doch obwohl sie mehr Geschick in der Geschäftsführung hat als zwei ihrer männlichen Freunde, erweist sich die Leitung der Fabrik als schwierig, da die Arbeiter eine Frau als Boss einfach nicht akzeptieren wollen.

Oscar und Lucinda sind beide Außenseiter in den Gesellschaften, in denen sie leben. Carey beschreibt en detail, wie peinlich berührt nahezu alle sind, die ihnen begegnen, was nicht immer einfach zu lesen ist. Ihre Andersartigkeit ist es jedoch, die Oscar und Lucinda auf einer Schiffsreise von England nach Australien zusammenführt - und ihre Spielsucht. Oscar hat während seines Studiums in Oxford eine Obsession für Pferdewetten entwickelt, Lucinda liebt das Kartenspiel. Diese Spielsucht sorgt auch dafür, dass die beiden ihren Ruf in der Gesellschaft Sydneys praktisch ruinieren. Das Unheil nimmt endgültg seinen Lauf, als Oscar Lucinda eine Wette vorschlägt: Er will eine von ihr hergestellte Kirche aus Glas durch das kaum erforschte Outback nach Bellingen bringen. Wer gewinnt, erhält die Erbschaft des Anderen. 

Oscar and Lucinda wird immer als eine Liebesgeschichte beschrieben, aber im Grunde ist es eine Nicht-Liebesgeschichte. Erst nach der Hälfte des Buches begegnen sich die beiden. Auch wenn sie sich relativ rasch anfreunden, verhindern es die gesellschaftlichen Konventionen des viktorianischen Zeitalters, dass sie sich näher kommen. Carey geht ziemlich brutal vor und deutet schon auf der ersten Seite mit Oscars Lebendaten (1841-1866) an, dass die gegenseitige Zuneigung zum Scheitern verurteilt ist. Oscar and Lucinda ist aber viel mehr als die Geschichte seiner Hauptfiguren, es ist das Porträt einer Gesellschaft, die ihre Menschen mit Konventionen zu ersticken droht. Misogynie und Prüderie sind allgegenwärtig; die Religion wird zum Korsett, das eine freie Entfaltung verhindert.

Erzählt wird die Geschichte von Oscars Urenkel. Nichtsdestrotz schlüpft Carey in die Perspektive unzähliger Nebenfiguren, die kaum weniger schillernd sind als Oscar und Lucinda, sei es Oscars Freund Ian Wardley-Fish, der ebenfalls Priester aber eher ein Dandy ist, Oscars Förderer Hugh Stratton, der eigentliches gutes Herz hat, aber unter seiner finanziellen Inkompetenz leidet, und natürlich Oscars Vater Theophilus Hopkins, Prediger und Meeresbiologie, liebevoll und unnachgiebig zugleich. Die meiste Zeit erleben wir Oscar und Lucinda durch die Perspektive ihrer Zeitgenossen (darunter auch Aboriginals), doch obwohl Carey zum Beispiel immer und immer wieder Oscars ungewöhnliches Aussehen beschreibt, wirkt dies nie redundant. 

Oscar and Lucinda ist ein eigenwilliges, zutiefst orginielles Buch. Es ist voll skurriler Figuren und ein Porträt des viktorianischen Australiens, das tief vom damaligen Mutterland geprägt, aber gleichzeitig auch jung und wild und irgendwie "unfertig" ist. Es ist poetisch und irritierend und witzig und todtraurig. Eine wunderbare Geschichte mit zwei außergewöhnlichen Protagonisten, die mir sehr ans Herz gewachsen sind.



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