Flut


 Isabelle war schon da, als er die Bar betrat. Was war nur in ihn gefahren, dass er ausgerechnet diesen Treffpunkt vorgeschlagen hatte. Sie hatte zu ihm nach Hause kommen wollen, was allerdings außer Frage stand. Also hatte er das „Benny‘s“ vorgeschlagen, was dem am nächsten kam. Wie anders die Bar im Tageslicht aussah. Sie saß an einem Tisch am Fenster und die Sonne schien ihr ins Gesicht. Die Sonne. Er wusste nicht, wann er zuletzt die Sonne gesehen hatte. Ganz plötzlich war sie zurückgekehrt und hatte den Frühling mitgebracht. Es war der erste Frühlingstag des Jahres und die Bar war innen wie leergefegt, wie er mit einiger Erleichterung feststellte. Es musste ja nun wirklich nicht jeder mitbekommen, dass er sich für diesen Schwachsinn zur Verfügung gestellt hatte. Er wusste überhaupt nicht, was sie von ihm wollte.

Er verbrachte so viel Zeit draußen, aber er musste blind durch die Welt gegangen sein. An den Bäumen sprossen grüne und weiße Knospen und an den Straßenrändern blühten Krokusse und Narzissen. Wo kamen die nur plötzlich her? Natürlich wusste er, dass auf den Winter der Frühling folgt, aber diesmal kam es ihm unwirklich vor. Als würde er zum ersten Mal etwas erleben, dass er bis dahin nur aus Büchern und Filmen kannte. Als wäre er plötzlich in einem fremden Land und hätte das Kalte und Nasse und Graue seiner Heimat hinter sich gelassen. Es war alles so exotisch.

Es war der erste Frühlingstag und die Bar war wie leergefegt. Zum Glück. Es wäre mehr als unangenehm, wenn andere Leute das Gespräch mit anhören könnten. Es war auch so schon mehr als unangenehm.

Isabelle saß mit dem Rücken zum Eingang und konnte ihn nicht sehen. Er trat vorsichtig an sie heran. „Hallo.“
Sie drehte sich überrascht um, erschrak aber nicht. Sie starrte ihn für einen kurzen Moment an, dann lächelte sie. „Hallo“, sagte sie freudig. Er setzte sich zu ihr. „Wie schön, dass du gekommen bist.“
„Hatte ich ja zugesagt.“
Sie musterte ihn. „Du siehst jedes Mal anders aus, wenn ich dich sehe.“ Er sah an sich herunter. Er trug einen schwarzen Pullover und eine Jeans. Er zuckte mit den Schultern. „Manchmal wünschte ich mir, ich hätte auch eine Dienstkleidung und niemand würde mich erkennen, wenn ich privat unterwegs bin. Es wäre wie eine Tarnkleidung, ein Superheldenkostüm.“
Er lachte. „Ich fühle mich nicht besonders heldenhaft.“
„Darüber wollen wir ja reden.“
Er verdrehte beschämt die Augen. Er war dankbar, als Kati an den Tisch trat und gleichzeitig genervt. Ausgerechnet Kati. Er war überzeugt davon, dass sie nur beim Reden Sauerstoff aufnehmen konnte und tot umfallen würde, wenn sie den Mund hielte. Anders war ihr ständiges Geplapper nicht zu erklären.
„Was machst du denn schon wieder hier?“, blaffte sie.
„Darf ich nicht auch mal privat hier sein?“, fragte er zurück.
Sie verdrehte die Augen. „Und? Was darf ich dem Herrn bringen?“
„Einen Kaffee. Bitte.“
Kati rauschte ab. Isabelle sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. Er zuckte mit den Schultern. Wie so oft in Gesprächen fühlte er sich hilflos. Belle lächelte und ergriff das Wort: „Das ist wirklich sehr nett von dir, dass du deine knappe Freizeit für mich opferst.“
Er fühlte Wärme in sich aufsteigen. Er winkte ab. „Schon gut, ich hatte es dir ja versprochen.“ Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her. „Wobei ich immer noch nicht glaube, dass ich dir irgendwie helfen kann.“
Sie lächelte erneut. „Ach, ich bin ganz optimistisch, dass du mir helfen kannst.“
Er zuckte mit den Schultern. „Wie funktioniert das Ganze? Stellst du mir einfach Fragen?“
„So in der Art. Ist das okay für dich, wenn ich unser Gespräch aufzeichne?“
„Uh-huh.“
Sie holte ihr Handy hervor und wischte ein paar Mal schnell über das Display. „Blum, Christopher“, sagte sie. „21. März.“

Kip konnte sich noch genau an den Tag erinnern, an dem er sie kennengelernt hatte. Wobei kennenlernen streng genommen zu viel gesagt war. Er wusste, wer sie war. Sie war Frau Dellbrück, sie wohnte in der Reichenbachstraße 24b und sie bekam oft Büchersendungen, die nicht in ihren viel zu kleinen Briefkasten passten. Das war aber nicht so schlimm, da sie oft zu Hause war, wenn er an ihrer Wohnung ankam. Sie wusste nicht, wer er war. Davon war er überzeugt. Von daher wäre es besser von dem Tag zu sprechen, an dem sie ihn zum ersten Mal wahrnahm. Der Tag, an dem sie zum ersten Mal ein Gespräch führten.

Es war der achtzehnte Tag. Der achtzehnte Regentag in Folge im nassesten Winter seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. So etwas hatte es in Töppingen noch nicht gegeben. Jeden Tag spekulierten die Zeitungen, ob der See über die Ufer treten würde. Wasserstandsmeldungen über Wasserstandsmeldungen. Der See machte Kip keine Sorgen. Sorge machte ihm, dass das Fahrrad das viele Wasser immer schlechter zu verkraften schien. Oder vielleicht verkraftet er das viele Wasser zusehends schlechter. Das Treten schien immer anstrengender zu werden. Aber wenigstens war das Rad noch nicht zusammengebrochen, wie bei zwei seiner Kollegen. Sorge machte ihm, dass es oft unmöglich war, die Briefe trocken in die Kästen zu stecken. Es hagelte Beschwerden über wellige und zerknitterte Sendungen.

Sie bekam eine Büchersendung und sie passte nicht in ihren Briefkasten. Aus Immenstadt im Allgäu. Sie bekam Büchersendungen aus allen Teilen Deutschlands. Kip war immer wieder erstaunt über die vielen verschiedenen Buchgeschäfte, die ihre Waren nach Töppingen schickten. Er klingelte an der Tür. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis sie öffnete.
Er hatte noch nicht den Mund aufgemacht, als sie erschrocken die Hände vors Gesicht schlug und rief: „Ach, du liebe Güte! Sie sind ja ganz nass!“
„Nein, nein...“, wiegelte Kip ab.
„Wollen Sie nicht kurz reinkommen? Ich habe gerade Tee gemacht“, sagte sie.
„Nein, danke, ich..“ Kip streckte die Hand mit dem Pappumschlag leicht nach vorne.
„Kommen Sie schon. Nur einen Tee.“ Ehe er sich versah, stand er bei ihr im Flur. Es war der achtzehnte Regentag und jetzt fühlte er sich wirklich wie ein begossener Pudel.
„Ich möchte ehrlich nicht Ihre Wohnung volltropfen“, sagte er.
„Macht nix, sind ja alles Fliesen. Geben Sie mir Ihre Jacke.“ Sie wedelte bestimmt mit ihren Händen.
Kip kapitulierte. „Das ist wirklich nicht nötig“, sagte er trotz allem.
Sie führte ihn in die Küche, die direkt vom Flur abging und zeigte auf einen Stuhl am Küchentisch. „Das ist wirklich nicht nötig“, wiederholte Kip.
„Ach kommen Sie, so einen kleinen Tee können Sie doch bestimmt gebrauchen“, sagte sie, während sie nach der Kanne griff. „Die Mischung habe ich selbst gemacht, mit Minze, Ingwer und Fenchel.“
„Hört sich gut an.“ Sie reichte ihm eine Tasse und setzte sich zu ihm. „Danke“, sagte er. Sie lächelte. Er war überrascht, wie rot seine Finger waren, als er die Tasse ergriff. Vorsichtig nippte er daran. Den heißen Tee durch seinen Körper strömen zu fühlen war so viel angenehmer, als er sich vorgestellt hatte. So gut hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt.
„Sie haben diesen Winter ja richtig Pech.“
Er zuckte die Schultern. „Das Wetter ist schon sehr ungewöhnlich.“
„Das tut mir echt so leid für Sie.“
„Schon gut, die Kleidung hält so ziemlich alles ab. Es ist wirklich nicht so schlimm.“
„Es ist das reinste Elend. Ich bin so froh, dass ich manchmal von zu Hause arbeiten kann. ‘Tschuldigung.“
„Sie müssen sich nicht entschuldigen.“ Kip nippte noch einmal an der Tasse. „Ich habe eine Büchersendung für Sie“, sagte er schließlich.
Sie schaute kurz auf die Sendung, die auf dem Tisch lag, aber nicht besonders interessiert. „Danke, Herr...“ Sie stutzte. „Ich weiß nicht einmal Ihren Namen.“
„Blum. Kip, bitte.“ Es war ihm unangenehm, dass sie ihn siezte, wo sie doch ungefähr in seinem Alter war.
„Kip?“, sagte sie strahlend. „Das ist ungewöhnlich.“
„Eigentlich Christopher. Aber… na ja.“
Sie reichte ihm die Hand. „Belle“. Ja, dachte er. „Eigentlich Isabelle. Aber… na ja.“
Er wusste natürlich wie sie hieß, sagte aber nichts. Er reichte ihr seine Hand, die selbst die Tasse nicht recht hatte wärmen können. „Freut mich.“
„Mich auch.“
Er nahm noch einen Schluck. Nervös blickte er in der Küche umher, bis sein Blick auf die Uhr an der Wand fiel. Es war bereits kurz vor zwölf und er hatte noch nicht einmal die Hälfte aller Briefe rund gebracht. Hastig spülte er den restlichen Tee hinunter. Sein Rachen brannte. „Ähm, danke für den Tee, aber ich sollte jetzt wirklich weiter.“
„Oh“, sagte Belle, fast ein bisschen betrübt, „natürlich.“ Sie stand auf und reichte ihm seine Jacke. „Ich wollte dich wirklich nicht aufhalten.“
„Nein, nein, schon gut. Der Tee… es war sehr angenehm.“ Sie strahlte über das ganze Gesicht.
„Hast du denn gleich Mittagspause?“, fragte sie.
Kip wusste nicht, wann er zum letzten Mal eine Mittagspause gemacht hatte. Es musste Jahre her sein. „M… mal schauen.“
Sie nickte und öffnete die Tür. „Danke für das Päckchen.“
„Natürlich“, sagte er. Dann trat er in den Regen hinaus.

In den folgenden Wochen hoffte er jedes Mal, wenn er an die Reichenbachstraße 24b kam, dass Isabelle Dellbrück ihn auf einen Tee einladen würde. Aber sie bekam keine Bücher mehr, sondern nur die üblichen Rechnungen und Werbesendungen und er wollte nicht grundlos bei ihr klingeln. Er sagte sich, dass es besser so war. Es waren so viele Briefe und Kataloge und für einen Tee war gar keine Zeit.

Er starrte auf ihr Handy. „Sag mir noch einmal, warum ich hier bin. Ich bin die nächste Stufe?“
„Nicht bedürftig, aber ein Geringverdiener.“
„So wenig verdiene ich auch nicht...“, meinte Kip, ein wenig beleidigt. Er kam ganz gut über die Runden. Es war nicht so wie früher, aber er kam über die Runden.
„Tut mir leid, ich wollte dir nicht zu nahe traten“, sagte Isabelle mitfühlend.
Er schämte sich. Er hatte nicht eingeschnappt wirken wollen. Er wollte aber auch nicht wie ein armer Schlucker erscheinen. Er kam wirklich gut über die Runden.
Isabelle holte tief Luft. „Wie lange bist du schon Zusteller?“
Kip überlegte. „Vier Jahre. Plus die Ausbildung.“
Sie sah ihn überrascht an. „Hast du vorher was anderes gemacht?“
„Ja, ich war bei der Kreisverwaltung. Führerscheinbehörde.“
„Warum hast du da aufgehört?“
Er seufzte. Es war zu schwierig zu erklären. „Das war einfach nicht mein Ding… ich bin einfach nicht der Bürotyp. Es gab auch nicht besonders viel zu tun.“ Isabelle sah ihn aufmerksam an. Es war zu schwierig zu erklären. Nie war es genug. „Ich wurde angezündet“, sagte er schließlich.
„Bitte was?“
„Ich wurde angezündet.“
Sie starrte ihn verständnislos an. „Was soll das heißen?“
Er blickte irritiert zurück. Es war so schwer zu erklären. „Jemand hat mich angezündet. Mit einem Flammenwerfer. So einem kleinen Ding zum Kochen. Es war nicht so schlimm,wie es sich jetzt anhört.“

Kips Problem war, dass er nicht wusste, was er mit seinem Leben anfangen sollte. Er wusste es einfach nicht. Dann sahen seine Eltern die Anzeige, dass die Kreisverwaltung Auszubildende suchte. Wäre das nicht toll, sagten sie. Vielleicht wirst du sogar verbeamtet. Wäre das nicht toll? Kip hatte nicht die geringste Vorstellung von dem Job. Er hatte auch nicht die geringste Lust dazu. Da seine Eltern aber einfach keine Ruhe geben wollten, bewarb er sich. Er war überzeugt, dass sie ihn mit einem Realschulabschluss sowie nicht einstellen würden. Dann konnte er sagen, dass er es immerhin versucht hatte. Ein paar glorreiche Wochen lang war alles ruhig. Dann wurde er zum Vorstellungsgespräch eingeladen und bekam die Stelle.

Das einzige, dass ihn noch mehr verwunderte als die Tatsache, dass er den Ausbildungsplatz bekommen hatte war, dass ihm die Ausbildung sogar Spaß machte. Meistens zumindest. Bis er seinen Abschluss erhielt und in die Führerscheinstelle versetzt wurde. Er hatte überhaupt keine Ahnung, warum sie ihn hierher geschickt hatten. Seine Kollegen brauchten ihn gar nicht. Es war so gelangweilt, dass er dachte, es würde ihn Stücke reißen.

Es war ein Dienstagvormittag, als der Mann die Führerscheinstelle betrat. Es war wie so oft um diese Zeit sehr ruhig und der Mann war der einzige Besucher. Der Mann war riesengroß. Ein Koloss. „Ich will meinen Führerschein“, sagte er. Kip und seine Kollegen sahen sich fragend an. „Ich will verdammt noch mal meinen Führerschein!“, rief der Mann. Seine Stimme dröhnte durch das Amt. Er schwankte. Seine Kollegen sahen sich immer noch fragend an.
„Was ist denn mit Ihrem Führerschein?“, fragte Kip schließlich.
„Ich will meinen Führerschein! Gebt mir meinen verdammten Führerschein zurück! Die Polizei hat mir meinen Führerschein weggenommen und jetzt will ich ihn zurück.“ Der Mann schwankte immer noch. Kip dachte, dass er jeden Moment umfallen würde, aber er hielt sich.
„Oh, man“, sagte sein Kollege Holger und verdrehte die Augen. Seine Kolleginnnen starrten sich peinlich berührt an.
Kip stand auf und ging zu dem Mann hinüber. Der Mann war ein Koloss. „Wann hat die Polizei ihren Führerschein beschlagnahmt?“
„Weggenommen!“, rief der Mann.
„Wann hat sie ihn weggenommen?“
„Gestern. Vorgestern.“
Kip holte tief Luft. „Es tut mir leid, dass Sie ihren Führerschein vermissen, aber wenn die Polizei ihn genommen hat, ist er noch bei denen. Der geht jetzt erstmal zur Staatsanwaltschaft.“
„Ich will verdammt noch mal meinen Führerschein!“, brüllte der Mann.
Was mache ich hier. „Das verstehe ich ja, aber wir haben Ihren Führerschein leider nicht. Am besten wenden Sie sich an die Polizei.“ Die werden sich bedanken. Er legte vorsichtig seinen Hand auf den Arm seines Mann uns versuchte ihn, in Richtung Tür zu schieben.
Plötzlich holte der Mann kräftig aus. Kip trat zurück, um nicht im Gesicht getroffen zu werden.„Ho!“, machten seine Kollegen. Der Mann schwenkte seinen Arm hin und her. Erst als es plötzlich so heiß wurde, merkte Kip, dass sein Hemd brannte.

Er warf sich sofort auf den Boden. Die Wunde heilte gut. Wenn nicht die Narben auf seinem Oberkörper wären, würde er wahrscheinlich gar nicht mehr an den Vorfall denken. Er erfuhr erst bei der Gerichtsverhandlung, dass der Mann einen kleinen Flammenwerfer aus der Küche seiner Freundin mitgenommen hatte. „Das ist einfacher als ein Messer“, hatte er gesagt und gelacht. Zu diesem Zeitpunkt hatte Kip schon gekündigt. Nun war es mit der Ruhe endgültig vorbei. Es überraschte ihn, dass die Tatsache, dass man ihn angezündet hatte, anscheinend kein ausreichender Grund für ein Kündigung war. Ein bombensicherer Job. Was ist denn nur los mit dir?

„Es war wirklich nicht so schlimm. Ich habe mich gleich auf den Boden geworfen. Es ist alles gut verheilt.“
Isabelle starrte ihn an. „Gott im Himmel“, sagte sie nach einigen Minuten.
„Es ist wirklich nicht so schlimm“, wiederholte Kip. „Keine große Sache. Am liebsten hätte ich schon vorher gekündigt, aber ich habe mich erst danach getraut. Es war nicht nur deswegen. “
„Was haben sie mit dem Typen gemacht?“
„Entziehungsanstalt.“
Sie holte tief Luft. „So was Krasses hatte ich echt nicht erwartet.“
„So krass ist es wirklich nicht. So was passiert dauernd.“
Isabelle riss die Augen auf. „Bitte?“
„Na gut, vielleicht nicht unbedingt mit einem Flammenwerfer. Aber Leute werden ständig von Betrunkenen angegriffen. Es ist wirklich keine. Große. Sache.“
Sie kaute auf ihrer Lippe herum. „Na gut. Wie ging‘s dann weiter?“
„Ich habe Mia kennengelernt.“

Sie hatte eintausend Sommersprossen. Tausend Sommersprossen zerrissen und zerstreut auf ihrem Gesicht wie Kieselsteine am Sandstrand. Ihre Haare waren rot wie vertrocknete Blutflecken und verrostete Fahrräder. Man wollte sie schrubben und den Schmutz entfernen, bis man merkte, dass es sie war, dass es alles zu ihr gehörte und sie verschwinden würde, wenn man zu kräftig an ihr rieb. Sie war stur und sanft. Ihre Stimme war laut und ihr Lachen noch lauter. Sie glaubte an Gott, aber nicht an die Menschen. Kip glaubte an gar nichts mehr und sie zeigte ihm, wie es ging. Sie stellte ihm Benny vor, der ihm einen Job als Kellner und später als Barkeeper gab. Sie arbeitete Nachtschichten im Hotel und er an der Bar und sie schliefen, bis die Mittagssonne durch das Fenster auf den Schlafzimmerspiegel fiel und sie wach blitzte, damals, als noch die Sonne schien. Bis Kip bei der Post anfing und aufstand, bevor sich die Sonne über die Dächer erhoben hatte. Bis Mia einen Studienplatz in Berlin bekam und sagte, sie würde allein gehen.

Er stand immer noch jeden Samstagabend an der Bar und manchmal auch unter der Woche, wenn er am folgenden Tag frei hatte oder Not am Mann war. „Es ist eine Gewohnheit“, erklärte er Isabelle. Das Geld konnte er auch gebrauchen. So konnte er immerhin etwas ansparen, auch wenn er nicht wusste, wofür er sparte.
„Warum bist du Zusteller geworden?“, fragte Isabelle.
Kip lachte auf. „Es ist ein bisschen peinlich“, sagte er leise, fast flüsternd.
„Wieso das?“, fragte sie und lächelte neugierig.
„Als Kind wollte ich immer Postbote werden, was ich vergessen hatte. Ich hatte diese idiotische Vorstellung, dass man jeden Tag durch das Dorf läuft und an den weißen Gartenzäunen stehen Leute, die Rasenmähen und Blumen pflanzen. Sie warten auf ihre Post und begrüßen einen freundlich, wenn man vorbeikommt und man unterhält sich ein paar Minuten und dann tippt man an seine Mütze und geht weiter.“
Sie lächelte freundlich. „Das ist eine schöne Vorstellung.“
Er fühlte, wie die Wärme in sein Gesicht stieg. „Es ist lächerlich. Aber irgendwie konnte ich diese Vorstellung nicht abschütteln. Deshalb habe ich die Ausbildung angefangen. Um ein kleiner Briefträger auf dem Land zu werden. Aber sie hatten dort keine freien Jobs, also haben sie mich in Töppingen eingesetzt.“
„Und hier ist es nicht so wie du es dir vorgestellt hast?“
„Gar nichts ist so.“

Er war ja nicht einmal Briefträger. Er war Fachkraft für Kurier-, Express- und Postdienstleistungen, und genauso unpersönlich war es auch. Er fand es bezeichnend, dass das Wort Brief aus der Berufsbezeichnung verschwunden war. Die Leute bekamen keine Briefe mehr, zumindest nicht das, was man sich unter einem Brief vorstellt. Sie bekamen Rechnungen, Werbung, Infosendungen, die im Grunde auch Werbung waren, und Kataloge. So viel Werbung. So viele Kataloge. Eine Mütze gab es auch nicht. Ab und zu sprach er schon mit den Leuten. 95 Prozent von ihnen sagten, die Rechnungen könne er gleich wieder mitnehmen. Alle von ihnen fanden das witzig. Wenn sie mit ihm sprachen, dann weil sie ihn schon erwartet hatten. Oft waren sie dann enttäuscht, wenn er ihnen nicht brachte, worauf sie gewartet hatten. Wie lange braucht ihr eigentlich, um einen verdammten Brief zu transportieren? Manche warteten auch auf ihn, damit sie mit jemandem sprechen konnten. Sie freuten sich über jede Sendungen und waren traurig, wenn er nichts für sie dabei hatte.

Kip mochte die Arbeit. Er wusste, dass er sie nicht noch vierzig Jahre würde machen können, aber im Moment mochte er sie und das andere war weit weg. Das Problem war nur, dass er sie nicht liebte und dass er sie nicht hasste. Er wäre einfacher, mit Leuten darüber zu sprechen, wenn er sie lieben oder hassen würde. Das Klima im Depot war schlecht. Viele seiner Kollegen waren so verbittert, dass er sich nicht traute, etwas Positives zu sagen. Dann wäre er sich wie ein Verräter vorgekommen. Also sagte er lieber gar nichts. Dann waren da seine Freunde, die er schon seit der Schulzeit kannte. Sie jammerten häufig über ihre Jobs, über die viele Arbeit. Hin und wieder hatte Kip auch davon erzählt, dass etwas nicht funktioniert hatte. Es war in erster Linie als eine lustige Anekdote gedacht, aber so kam es nicht an. Du hast dir den Job doch ausgesucht, sagten sie. Ja, aber das habt ihr doch auch, wollte er ihnen sagten, aber er traute sich nicht. Es war so schwer geworden, mit ihnen zu sprechen. Sie redete über Partner und Kinder und Häuser bauen und Häuser renovieren. Kip sagte nichts dazu, weil das alles unerreichbar weit weg war. Im Moment sprach er überhaupt nicht mit ihnen. Das Klima war schlecht, seit er neulich bei einem ihrer Geburtstage eingeschlafen war.

Das Schlafen war ein Problem. Kip war schon auf dem Heimweg im Bus eingeschlafen, hinter der Theke, wenn nichts los war und er sich hingesetzt hatte, auf Geburtstagen, Hochzeiten und Taufen. Er war beim Zahnarzt im Zahnarztstuhl eingeschlafen und beim Friseur. Ganz neu war das nicht. Er war auch schon einmal in der Führerscheinstelle eingeschlafen, als wieder nichts los war. Das hatte richtig Ärger gegeben. Dabei schlief er nachts doch. Es waren nur die Träume. Kip war überzeugt, dass er tagsüber nicht so schnell einschlafen würde, wenn er nicht so viel träumen würde. Das war so anstrengend. Er träumte, dass er morgens ins Depot kam und sich die Decke öffnete. Er träumte, dass tausende und abertausende Briefe vom Himmel fielen und sie ihn Stück für Stück unter sich begruben, bis er in den Briefen ertrank.

Dabei mochte er die Arbeit doch. Es war nur so viel Werbung und so viele Kataloge. Wenn es nicht so viele Werbesendungen wären. Wenn nur das morgendliche Sortieren nicht wäre. Wenn er gleich losgehen könnte. Dann wäre es viel einfacher, alle Sendungen am selben Tag zuzustellen. Dann wäre vielleicht sogar Zeit für eine Pause. Dann wäre vielleicht sogar Zeit, um mit Isabelle Dellbrück einen Tee zu trinken. Minze, Ingwer und Fenchel.

„Und wie bist du bei der Tafel gelandet?“, fragte Belle. „Auch durch deine damalige Freundin?“
Kip nickte. „Sie war sehr aktiv in der Gemeinde. Im Chor und eben auch bei der Tafel. Sie hat gefragt, ob ich nicht helfen will, das Essen zu verteilen, und ich habe Ja gesagt.“
„Und bist dabei geblieben.“
Er nickte, zögerlicher.
„Warum machst du das? Ist das nicht ziemlich schwierig mit zwei Jobs zu vereinbaren?“
Er zuckte leicht mit der rechten Schulter. „Ich arbeite ja nur ein oder zwei Abende hier. Und wenn ich bei der Post fertig bin, dann habe ich ja Zeit.“
„Und warum machst du das?“, wiederholte Isabelle.
Er zuckte erneut mit den Schultern, kräftiger. „Ich weiß auch nicht… ich habe einfach das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Die Leute sind ja schon sehr dankbar. Aber das ist wirklich nichts Besonderes. Sie haben nur einfach nicht so viele Leute, die Essen verteilen und ich möchte ihnen etwas helfen.“

Mias Lieblingscocktail war der Mai Tai. Sie mochte Eighties-Pop und Fantasybücher. Im Winter schaute sie am liebsten Sport im Fernsehen und im Sommer fuhr sie gerne mit dem Touridampfer über den See und tat so, als würde sie alles zum ersten Mal sehen. Nach dem Abitur hatte sie angefangen im Hotel zu arbeiten, weil sie nicht wusste, was sie machen sollte. Hatte sie zumindest gesagt. Es überraschte Kip, dass sie so viel Zeit in der Kirche verbrachte. Er war ebenfalls evangelisch getauft worden, aber das alles hatte für ihn keine Bedeutung mehr gehabt, bis er Mia kennenlernte. Mit ihrem Abschied hatte er auch wieder ein großes Stück seines Glaubens verloren. Er war einfach aus ihm herausgeflossen, wie Wasser beim Ablass eines Stausees. Trotzdem wollte er die kleine Gemeinde nicht verlassen, in der jeder jeden kannte und alle so freundlich waren. Der Pastor und seine Frau waren freundlich und Frau Weinberg, die die Tafel leitete, war freundlich. Manchmal gab sie ihm was zu Essen mit, wenn noch etwas übrig geblieben war.

In den Gottesdienst ging Kip nur selten. Er war einfach zu müde. Es war eh eine merkwürdige Vorstellung. Der Pastor legte sich immer mächtig ins Zeug, auch wenn nur selten mehr als zwanzig Leute da waren. Viel Platz für Gottes Herrlichkeit. So hieß es in einem Gedicht, das Kip einmal gelesen hatte. Niemand weiß, ob Gott überhaupt vorbeischaut.

Aber er ging immer noch jeden Donnerstag zur Tafel. „Vielleicht sollten wir anfangen, Sandsäcke zu packen“, sagte der Pastor halbernst. Kip stand an der Gemüsekiste und verteilte Kohl, Karotten und Tomaten ohne Geschmack. Die Leuten waren nicht begeistert. „Im Frühling wird die Auswahl wieder besser“, sagte er manchmal. „Ich werd‘ ganz bestimmt nich‘ auch noch Sandsäcke packen“, hörte er Frau Weinberg sagen. Es regnete nur noch vier oder fünf Mal in der Woche, aber die Promenade war gesperrt. In der Seestraße war das Wasser in die Geschäfte geflossen. Auch einige Wohnhäuser hatte es erwischt. Mittlerweile bemerkte Kip den Regen kaum noch. Vielleicht hatte er sich auch schon in eine Amphibie verwandelt. Wie ein Mensch fühlte er sich oft nicht mehr.

„Schon wieder Kohl?“, maulte ein junger Mann.
„Im Frühling...“ Kip stockte, als er Isabelle hinter ihm stehen sah.
Sie sah überrascht zurück. Sie neigte ihren Kopf. „Kennen wir uns nicht?“, fragte sie schließlich.
Kip schluckte. „Ich bring die Post“, sagte er heiser.
Sie brach in Lachen aus und hielt beschämt ihre Hand vor den Mund. „Oh mein Gott, ja natürlich!Tut mir so leid.“ Sie schlug mit der Hand gegen den Kopf. „Manchmal bin ich echt ein Döspaddel. Aber du siehst so anders ohne deine Uniform.“
Kip sah an sich herunter. Er trug ein weißes T-Shirt und eine weiße Schürze. Unschlüssig reichte er ihr einen Kohl.
Sie lächelte freundlich. „Danke, ich bin nur beruflich hier.“
Er nickte. Sein Gesicht wurde so heiß. Der junge Mann riss den Kohl aus seiner Hand. Beruflich, wollte er fragen.
„Hallo!“, maulte ein ältere Frau hinter ihnen.
„Wir sollten gehen“, sagte Isabelle zu dem jungen Mann und gab ihm einen leichten Schubs. Sie lächelte Kip an.
Er gab der alten Frau ihren Kohl, einen Bund Karotten und eine Handvoll Tomaten. Sie blickte ihn vorwurfsvoll an.

Als er die Augen öffnete, standen Frau Weinberg und der Pastor über ihm. Er richtete sich auf. Frau Weinberg hatte ihm etwas holen wollen und er war auf der Bank eingeschlafen. Sie schüttelte den Kopf und reichte ihm die Tüte. „Du musst nicht kommen, wenn du zu viel zu tun hast.“
„Hab ich nicht“, sagte Kip. Er war noch nicht ganz wach.
„Kip, Kip, Kip“, sagte der Pastor. Er schüttelte ebenfalls den Kopf, lächelte aber leicht amüsiert. „Sehe ich dich am Sonntag? Der neue Chor hat seine Premiere im Gottesdienst.“
Kip stand auf. „Ich versuche es.“
„Das wird bestimmt klasse“, sagte der Pastor und hob die Augenbrauen.
„Jetzt lassen Sie den Jungen in Ruhe“, sagte Frau Weinberg forsch. „Er muss sich auch mal ausschlafen.“
„Schon gut. Im Moment ist in der Bar eh nicht so viel los, weil bei dem Wetter keiner rausgehen mag. Wir können bestimmt früher dicht machen.“
Frau Weinberg schüttelte den Kopf und warf dem Pastor einen Blick zu. Kip nahm die Tüte und verabschiedete sich.

Es hatte aufgehört zu regnen. Für den Moment zumindest. Die Straße vor dem Gemeindezentrum war nass und die dunklen, grauen Wolken hingen schwer im Himmel wie vollgesogene Schwämme. Isabelle Dellbrück stand an der Ecke und sprach mit dem jungen Mann. Sie drehte sich um, als die Tür hinter ihm zufiel und winkte ihm zu. Sie verabschiedete sich kurz von ihrem Begleiter. Und ging zu ihm hinüber. Sein Herz hämmerte in seiner Brust.
„Du bis ja noch auf den Beinen.“
Er blickte verständnislos zurück. „Auf den Beinen?“
Sie lächelte sanft. „In der Zeitung stand, dass der Krankenstand bei der Post eine neue Rekordhöhe erreicht hat.“
Seine Nervosität machte Platz für eine viel größere Panik. Die ganze Woche hatte er es nicht geschafft, die Sendungen während der Höchstarbeitszeit auszuliefern, weil er für die kranken Kollegen mitarbeiten musste. Jeden Tag wurde der Haufen größer. Umschläge über Umschläge über Umschläge. Der Haufen wurde jeden Tag größer und er wusste nicht, wie er ihn jemals abarbeiten sollte. „Ja, das stimmt.“
„Jedenfalls bin ich froh, dass es dich noch nicht erwischt hat.“
„Ich bin nicht besonders anfällig.“ Er schluckte. „Ich trinke viel Tee.“
Sie lächelte noch ein bisschen breiter. „Und bei der Tafel bist du auch“, sagte sie schließlich.
„Ich helfe ein bisschen aus, ab und zu.“ Er stockte. „Was ist mir dir?“
„Oh, ich… ich schreibe gerade an meiner Doktorarbeit. Soziologie. Ich beschäftige mich mit drei nicht-staatlichen sozialen Einrichtungen, das freie Kaufhaus, die Obdachlosenunterkunft und die Tafel. Ich schaue mir an, wer sie nutzt und wer sich dort engagiert.“ Er nickte zögerlich. „Oh, hey“, sagte sie plötzlich. Kip hatte das Gefühl sehen zu können, wie ihr ein Licht aufgegangen war. „Wärst du eventuell bereit, dich von mir interviewen zu lassen? Das wäre interessant, wo du doch quasi die nächste Stufe bist.“
„Ein Interview?“, fragte Kip heiser. „Was muss ich denn da machen?“
„Oh, keine Sorge. Das ist kein großer Aufwand. Du müsstest mir nur ein bisschen über dich erzählen. Ich würde auch zu dir nach Hause kommen.“
Kip fühlte erneut Panik in sich aufsteigen, als er an seine kleine, dunkle Dachgeschosswohnung dachte, die er seit Wochen nicht mehr aufgeräumt hatte. Eigentlich war es keine Wohnung, sondern eine Höhle. „Ja, in Ordnung. Nur bei mir ist es nicht so gut. Ich… ich renoviere gerade.“
„Ach so.“
„Hm...“ Er überlegte. „Ich arbeite in so einer Bar. Benny‘s. Da könnten wir uns auch treffen.“
Sie sah ihn überrascht an, fast ein bisschen mitleidig. „Benny‘s“, wiederholte sie neutral. „Okay. Wann hast du denn mal Zeit?“
Er überlegte erneut. „Sonntagnachmittags ist immer ganz gut.“
Sie nickte freudig.

Sie kritzelte etwas in ihr Notizbuch. Ihre blonden Haare glänzten. Dann blickte sie auf. „Super“, sagte sie, wischte über ihr Handy und schaltete das Diktiergerät aus.
„Konnte ich dir irgendwie weiterhelfen?“, fragte er.
„Oh ja, definitiv.“
„Wie geht es denn jetzt weiter?“
„Ich werde das erst einmal transkribieren. Ich weiß noch nicht genau, wie ich das in die Arbeit einbringe. Ich bin noch ziemlich am Anfang und habe noch eine Reihe anderer Gespräche.“ Ihr Kugelschreiber klickte. „Kann ich noch einmal auf dich zukommen, falls ich später noch Fragen haben sollte?“
Er schluckte. „Sicher“, sagte er leise.
„Toll“, strahlte sie und packte ihre Sachen zusammen. „Ich sollte jetzt gehen, ich muss morgen wieder früh in der Uni sein. Außerdem habe ich dir schon genug Freizeit gestohlen.“
„H… hatte eh nichts vor“, stammelte er.

Es war wieder dunkel, als er die Bar verließ. Vom Frühling war jetzt nichts mehr zu spüren. Es war kühl und die Luft war so frisch, als ob der nächste Regenschauer unmittelbar bevorstünde. Er ging die Straße hinunter, wie er es sechzehn Stunden zuvor bereits getan hatte. Er ging die Straße hinunter, wie er es so oft tat. Er ging und ging und ging, bis er nur noch ein kleiner Punkt in der Ferne war und schließlich ganz in der Dunkelheit verschwand.

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